Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → FAKTEN

INTERNATIONAL/051: Argentinien - Prozesse offenbaren Wirtschaftsverbrechen der Diktatur (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. März 2012

Argentinien: Prozesse gegen Menschenrechtsverletzer offenbaren Wirtschaftsverbrechen der Diktatur

von Marcela Valente


Buenos Aires, 12. März (IPS) - In Argentinien bringen die Prozesse gegen die Menschenrechtsverletzer der Diktatur von 1976 bis 1983 auch andere Verbrechen der Generäle ans Licht. Angesichts von mehr als 600 Zwangsliquidierungen, illegalen Übernahmen und Enteignungen dürfte auf das südamerikanische Land somit eine neue Prozesslawine zurollen.

"Wir waren weder politisch militant noch unterhielten wir Verbindungen zur Regierung. Dennoch nahmen sie uns alles, was wir besaßen: die sieben Firmen und das Firmenflugzeug. Wie durch einen Zufall wurden wir nicht ermordet", berichtet Alejandro Iaccarino, ein in den 1970er Jahren einflussreicher Milchunternehmer.

Er und sein Bruder Carlos werden vermutlich noch in diesem Jahr eine Entschädigungsklage in Höhe von 40 Millionen US-Dollar einreichen können. Sie warten nur noch den Ausgang eines Prozesses gegen die beiden Polizisten Bruno Trevisán und Jorge Ferranti ab, von denen die insgesamt drei Iaccarino-Brüder 1976 verschleppt und gefoltert wurden. Trevisán und Ferranti stehen derzeit wegen dieser und anderer Delikte vor Gericht.

Wohl wissend, dass der Fall Iaccarino einer von vielen ist, hat das staatliche Menschenrechtsbüro eine Sondereinheit eingerichtet, die die vielen Zwangsliquidierungen, -übernahmen und -enteignungen registrieren soll.


Opfer und Kollaborateure

Angesichts der schrecklichen Bilanz von 20.000 'Verschwundenen' sind die wirtschaftlichen Verbrechen an Geflügelzüchtern, Textilunternehmern, Papierherstellern, Metallproduzenten Druckereiunternehmern, Weinbauern oder Bankiers weitgehend unsichtbar geblieben. Auf der anderen Seite standen Betriebe, die mit der Diktatur kollaborierten und missliebige Arbeitnehmer, Gewerkschaftler und Anwälte durch die Militärs aus dem Verkehr ziehen ließen.

Im Januar forderte ein Staatsanwalt der nordargentinischen Provinz Jujuy die Gerichte auf, den Eigentümer des in der Stadt Libertador General San Martin angesiedelten Unternehmens 'Ingenio Ledesma', Pedro Blaquier, als Verdächtigen im Zusammenhang mit dem Transport von 400 Personen 1976 einzustufen. Für die Operation, bei der 55 Menschen 'verschwanden', waren Lastwagen mit dem Logo des Agrounternehmens eingesetzt worden.

Zu den Firmen, die sich die Diktatur damals einverleibte, gehört auch das Geflügelunternehmen der Familie Paskvan in den Provinzen Buenos Aires im Osten und Santa Fe im Zentrum. Der Fall wurde 2011 vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof mit Sitz in Costa Rica angenommen.

Strafrechtlich verfolgt wird ferner der Fall Federico Gutheim, der gemeinsam mit seinem Sohn Miguel von den Schergen der Diktatur verschleppt und mit illegalem Freiheitsentzug dazu gezwungen wurde, der Neuverhandlung eines Exportvertrags seines Textilunternehmens 'Sadeco' mit einer Hongkonger Firma zuzustimmen.

Untersucht wird ferner das Schicksal der Papierfirma 'Papel Prensa', die Zeitungen mit Papier belieferte. Ihr Eigentümer David Graiver starb 1976 bei einem Flugzeugunglück. Seine Familie wurde verschleppt und mit Haft und Folter dazu gebracht, Aktienanteile abzutreten.


22 Monate illegal in Haft

In keinem dieser Fälle ist das Beweismaterial jedoch so erdrückend wie im Iaccarino-Fall. Die Brüder Carlos und Rodolfo und deren Vater waren im November 1976 in der nordargentinischen Provinz Santiago del Estero entführt worden, wo die Familie ein 25.000 Hektar großes Stück Weideland besaß. Fast zeitgleich wurden in Buenos Aires Alejandro Iaccarino und seine Mutter verhaftet. Die Eltern wurden wenige Tage später freigelassen, die Brüder jedoch 22 Monate in insgesamt 14 unterschiedlichen Haftzentren festgehalten.

Der Fall wiege doppelt schwer, meint die Anwältin von Alejandro und Carlos Iaccarino, Florencia Arietto. Mit dem Ziel, die Familie zu enteignen, wurden die drei Brüder in die geheime Haftanstalt der Lanús-Brigade in der Provinz Buenos Aires überführt. Dorthin wurden später ein Richter und sein Sekretär einbestellt, die den Tausch Familienvermögen gegen die Freilassung der drei Brüder perfekt machten.

Anwesend war zudem eine Gefangene, die als Schriftführerin fungierte und von den Iaccarinos aufgefordert wurde, die Adresse der Lanús-Brigade ins Protokoll aufzunehmen. Dank der Ortsangabe und der Unterschrift der inhaftierten Schriftführerin ist aktenkundig, dass die beiden Brüder zu dem Tauschgeschafft gezwungen worden sind.

Der Firmendiebstahl war subtil eingeleitet worden. So kürzte die Provinzbank auf Intervention der Diktatur einen Kredit, wodurch sich die Familie gezwungen sah, Land unter Preis zu verkaufen. Vom Bankchef erfuhren die Iaccarinos, dass sie auf einer schwarzen Liste standen und von Mitarbeitern ihrer Firmen ausspioniert wurden. Doch der wahre Alptraum begann mit den Entführungen. Alejandro Iaccarino berichtet von Schikanen, Misshandlungen und Folter mit Elektroschocks.

Kaum hatte sich das Regime die gut laufenden Firmen einverleibt, wurden Strohmänner aktiv, die bei missliebigen Banken Millionenkredite aufnahmen. Die Kredite wurden nie abgezahlt, was zum Zusammenbruch der Iaccarino-Betriebe und der Banken führte. Am Ende wurden die Vermögenswerte des Unternehmens von der Zentralbank versteigert.

Von der Iaccarino-Familie haben nur noch die beiden Brüder Alejandro und Carlos überlebt. Die Eltern sind tot und der älteste Bruder Rodolfo verstarb 2009, nachdem er im Monat zuvor anonyme Morddrohungen erhalten hatte. (Ende/IPS/kb/2012)


Link:
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100311

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. März 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2012