Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → FAKTEN

INTERNATIONAL/078: Chile - Familien der Diktaturopfer würdigen Arbeit der Rechtsmedizin (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. September 2012

Chile: Familien von Diktaturopfern würdigen Arbeit von rechtsmedizinischem Institut

von Marianela Jarroud



Santiago, 4. September (IPS) - In Chile ist der Rechtsmedizinische Dienst (SML) auf dem besten Wege, nach dem Skandal von 2006 das verlorene Vertrauen der Angehörigen der Diktaturopfer zurückzugewinnen. Damals hatte der SML Pannen bei der Identifizierung von 96 der 126 Leichen im Jahr 1991 einräumen müssen und damit bei den Opferangehörigen einen Schock ausgelöst.

Wie die Vizevorsitzende der Vereinigung der Familienangehörigen Festgenommener Verschwundener (AFDD), Mireya García, betont, "gibt der SML den aus geheimen Gräbern exhumierten Opfern der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) ein Gesicht und findet deren Familien". Unmittelbarer Anlass für das ungewohnte Lob war die von Richter Alejandro Solís am 29. August bestätigte Identifizierung von 51 Leichen, die in Patio 29, einem namenlosen Grab auf dem Generalfriedhof der Hauptstadt Santiago, gefunden worden waren.

Nach den Fehlern der Vergangenheit hatte sich der SML tief greifenden Reformen unterzogen und seine Arbeitsmethoden umgestellt. García zufolge hatte die irrtümliche Zuordnung die betroffenen Familien in tiefe Verzweiflung gestürzt. "Die Nerven lagen blank, obwohl die Angehörigen vorgewarnt waren, denn wir hatten bereits zuvor Unregelmäßigkeiten festgestellt."


Langwieriger Identifizierungsprozess

Bisher konnten 120 der etwa 1.200 Festgenommenen/Verschwundenen der Pinochet-Ära identifiziert werden. Die Leichen weiterer 2.024 Opfer waren den Angehörigen bereits unmittelbar nach deren Hinrichtung überstellt worden, wie Untersuchungen der Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung von 1991 und der Nationalen Kommission für politische Haft und Folter von 2004 bestätigten. Die Ergebnisse gehen auf den sogenannten Rettig-Bericht zurück, der von der ersten Sonderkommission zur Untersuchung der Verbrechen der Diktatur verfasst worden war. Geleitet hatte den Ausschuss der Jurist Raúl Rettig.

Am 11. September 1973 hatten Militärs unter Führung von General Augusto Pinochet den Sitz der Regierung bombardiert und den sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende gestürzt. In den 17 Jahren ihrer Herrschaft wurden die Individualrechte abgeschafft und Massenverhaftungen durchgeführt. Politische Gegner wurden verschleppt, gefoltert und ermordet, das Zivilrecht weitgehend durch militärisches Recht ersetzt.

In dem Bericht einer Sonderkommission, die 1974 von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nach Chile entsandt worden waren, ist von mindestens 1.500 Toten in den ersten Monaten nach der Machtübernahme der Generäle die Rede. Die Zahl der Personen, die damals summarischen außergerichtlichen Exekutionen zum Opfer fielen, gibt die Studie mit 220 an.

Nach Angaben des SML waren dem Institut zwischen dem 11. September 1973 und Dezember 1973 1.631 Leichname zugegangen. Viele konnten von ihren Angehörigen identifiziert werden, andere wurden in Patio 29 vergraben.

Die Systematik, politische Gegner möglichst auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen, wurde erstmals Dezember 1978 durch den Fund der Leichen von 15 Bauern in den Öfen von Lonquén in einer verlassenen Kalkmine nahe der Hauptstadt offenbar. Der Leichenfund nährte den Verdacht, dass die Leichen hunderter Oppositioneller über dem Pazifik abgeworfen, in Seen versenkt oder in geheimen Gräbern verscharrt worden waren.

Dem SML-Chef Patricio Bustos zufolge wird die Arbeit der Gerichtsmediziner in erster Linie dadurch erschwert, dass sich die Diktatur die allergrößte Mühe gab, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Auch die Aktivitäten im Rahmen der von Chile ins Leben gerufenen Operation Kondor, die Zusammenarbeit der südamerikanischen Diktaturen bei der Verfolgung von Regimekritikern, machen die Identifizierung der Opfer nicht eben leichter.


Effektive Hilfsmittel

"Wir werden nicht ruhen, bis wir die größtmögliche Zahl an Menschen identifiziert haben", versicherte Bustos und verwies in diesem Zusammenhang auf die Effektivität von DNA-Analysen. Zudem verfügt Chile über eine Bank mit derzeit 3.000 DNA-Proben der Opferangehörigen, die einen schnellen Abgleich mit der DNA gefundener Opfer ermöglichen.

Neben den in Patio 29 geborgenen Toten konnte der SML zwölf von 24 Leichen identifizieren, die in Fuerte Arteaga, einem schluchtenreichen Gebiet in Peldehue im Nordosten von Santiago, gefunden wurden. Dort waren die Opfer des Anschlags auf den Präsidentenpalast La Moneda 'entsorgt' worden.

Ebenso wurden 14 von 15 Opfern im Zusammenhang mit dem Lonquén-Fall identifiziert. Das Gleiche gilt für Einzelpersonen wie die von ihren Mördern geköpfte Uruguayerin Mónica Benaroyo, die nie in den offiziellen Listen der Verschwundenen erschienen ist. In allen diesen Fällen hatte der SML mit dem Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck zusammengearbeitet.

Für den SML bleibt nach Ansicht der Opferfamilien noch viel zu tun, um das vollständige Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen. "Der Schaden, vor allem für denjenigen Familien, denen man die falschen Gebeine übergeben hat, ist irreparabel", meint García.

Am 31. August verurteilte die chilenische Jusitz den Staat zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 526.000 US-Dollar an die Familie von Luis Dávila, dessen sterbliche Überreste in Patio 29 geborgen worden waren. Der SML hatte jedoch 1994 fälschlicherweise eine andere Leiche Dávila zugeordnet. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.afdd.cl/
http://www.sml.cl/sml/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101487

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. September 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2012