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INTERNATIONAL/115: Chile - Untersuchungen der Todesursachen prominenter Persönlichkeiten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. November 2013

Chile: Strafrechtliche Untersuchungen von Todesursachen prominenter Persönlichkeiten bringen Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen voran

von Marianela Jarroud


Bild: © public domain

Pablo Neruda 1966 bei der Aufnahme seiner Gedichte in der Bibliothek des US-Kongresses
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Santiago, 12. November (IPS) - In Chile wirken sich die strafrechtlichen Verfahren zur Klärung der Todesursache von Liedermacher Víctor Jara, den Ex-Präsidenten Eduardo Frei Montalva und Salvador Allende sowie des Lyrikers Pablo Neruda positiv auf die Aufarbeitung tausender Menschenrechtsverbrechen der Diktatur von 1973 bis 1990 aus.

"Auf diese Weise lassen sich die vielen verschiedenen Puzzleteile der Vergangenheit zu einem Gesamtbild zusammensetzen", meint der Leiter des Masterprogramms für Strafrecht an der Alberto-Hurtado-Universität, Luis Emilio Rojas. Treibende Kraft hinter den Anstrengungen sei die Straffreiheit der Menschenrechtsverbrecher.

"Das Bemühen, die Verantwortlichen der damaligen Gräueltaten zur Verantwortung zu ziehen, führt automatisch dazu, dass auch andere Verbrechen, die an tausenden weniger prominenten Chilenen begangen wurden, Stück für Stück der Vergessenheit entrissen werden", versicherte Rojas.

Der Menschenrechtsanwalt Eduardo Contreras hatte als erster im Auftrag der Opferfamilienvereinigung AFEP ein Gerichtsverfahren zur Aufklärung der Ursachen des Todes des ehemaligen sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende angestrengt. Der demokratisch gewählte Staatschef starb am 11. September bei der Bombardierung des Regierungspalastes La Moneda durch die Putschisten.

Derzeit lässt Contreras die Todesursache des Lyrikers Pablo Neruda untersuchen, der nur zwölf Tage nach dem Sturz seines engen Freundes Allende ums Leben kam. Die Gebeine Nerudas waren im April exhumiert und auf Spuren einer möglichen Vergiftung untersucht worden. Am 8. November teilte der Rechtsmedizinische Dienst mit, dass die mit der Untersuchung beauftragten ausländischen Forensiker keine Anzeichen für eine Vergiftung finden konnten.


Weitere Untersuchungen

Contreras zufolge sind die Ergebnisse die ersten einer ganzen Reihe von Untersuchungen. Wie er am 11. November gegenüber IPS erklärte, werde man Nerudas sterbliche Überreste nun von anderen Labors auf Sarin- und Senfgas sowie Bakterien untersuchen lassen.

Zuständig für die Ermittlungen ist Richter Mario Carroza. Aus rechtlicher Sicht gebe es keine Gründe für die Annahme, dass der Literaturnobelpreisträger von 1971 an den Folgen einer Fremdeinwirkung gestorben sei. "Sollten die Untersuchungsergebnisse nicht alle Prozessbeteiligten gleichermaßen zufriedenstellen, werden wir nach anderen Alternativen suchen."

Neruda war zum Zeitpunkt seines Todes 69 Jahre alt und wegen Prostata-Krebs in Behandlung gewesen. 28 Jahre lang gehörte er der Kommunistischen Partei Chiles an. Nach dem blutigen Putsch wollte er ins mexikanische Exil gehen, um von dort aus als Stimme der Opposition gegen die Diktatur zu agieren.

Wenige Tage vor seinem Tod führten die Militärs Razzien in seinen drei Häusern durch und zerstörten alles, was ihnen die die Hände fiel. Besonders schlimm wüteten sie in seinem Lieblingshaus auf der Isla Negra, 110 Kilometer westlich von Santiago. Sie entließen alle Hausangestellten mit Ausnahme des Chauffeurs Manuel Araya. Auch Nerudas Frau, die Sängerin und Schriftstellerin Matilde Urrutia (1912-1985), durfte bleiben. Araya hat stets versichert, dass der krebskranke Neruda in der Privatklinik Santa Maria an einer Giftinjektion gestorben sei, die ihm ein falscher Arzt im Auftrag der Militärs verabreicht habe.

In der gleichen Klinik kam neun Jahre später Allendes Amtsvorgänger Eduardo Frei Montalva (1964-1970) ums Leben. Gerichtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass er mit biologischen Kampfstoffen ermordet worden war. Der Frei-Montalva-Fall erbrachte erstmals den Nachweis, dass die Diktatur ihre Widersacher auch mit Giftspritzen aus dem Weg geräumt hatte. "Die Untersuchungsergebnisse überzeugten die letzten Ungläubigen, die die Vorwürfe stets als Verschwörungstheorien abgetan hatten", erinnerte sich die AFEP-Vorsitzende Alicia Lira.

Obwohl über die Menschenrechtsverletzungen in Chile inzwischen offen gesprochen werde, halte die Straflosigkeit weiter an, kritisierte Lira. Die Militärgerichtsbarkeit habe mit Hilfe verschiedener Rechtsmittel erreicht, dass keiner der 178 Militärs, denen Morde und Entführungen zur Last gelegt worden waren, auch nur für einen Tag hinter Gittern musste.

Der Liedermacher Jara war wie viele Oppositionelle nach dem Putsch im Chile-Fußball-Stadion festgehalten und dort am 15. September 1973 ermordet worden. Obwohl sein Leichnam Folterspuren und Einschüsse aufwies, wurde erst 2008 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Hauptverdächtige, der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Ex-Offizier Pedro Barrientos, lebt bis heute unbehelligt in den USA.


Aufklärung als "moralische Pflicht"

Contreras zufolge gibt es die moralische Pflicht, die vielen Widersprüchlichkeiten aufzuklären, die den Tod von Jara, Frei Monsalva, Neruda und Allende umgeben. So wie das Gesetz vorschreibe, den Erfrierungstod eines Obdachlosen zu untersuchen, womit er einverstanden sei, müsse der Tod eines jeden Bürgers untersucht werden, sagte er. Bezogen auf den Fall Allende sprach er von einer "verabscheuungswürdigen Schurkerei".

Über viele Jahre hinweg gab es Zweifel an der Todesursache Allendes, der sich zum Zeitpunkt seines Todes im Regierungspalast aufhielt. Erst später wurde die Version, dass er Selbstmord begangen habe, bestätigt. Auch im Fall Neruda gebe es Widersprüche, die aus ethischen und moralischen Gründen geklärt werden müssten. "Tun wir das nicht, machen wir uns selbst zu Schurken."

Die Militärdiktatur von Augusto Pinochet kostete 3.065 Menschen das Leben. 37.000 saßen aus politischen Gründen im Gefängnis. Die Zahl der Gerichtsverfahren gegen die mutmaßlichen Täter wird auf 1.300 geschätzt. Den Betroffenen werden außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen von Menschen, Folter, Erniedrigung und Bildung krimineller Vereinigungen zur Last gelegt. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.ipsnews.net/2013/11/visibility-from-high-profile-human-rights-inquiries-trickles-down-in-chile/
http://www.ipsnoticias.net/2013/11/verdad-historica-de-chile-se-esconde-en-muertes-de-alto-perfil/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. November 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2013