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INTERNATIONAL/237: Chile - Nach 45 Jahren werden die Mörder von Víctor Jara verurteilt (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile: Nach 45 Jahren werden die Mörder von Víctor Jara verurteilt

Von Manuel Cabieses



By Marcelo Urra from Santiago, Chile [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

Víctor Jara, Straßenmalerei in Arica, Chile
By Marcelo Urra from Santiago, Chile
[CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

(Buenos Aires, 8. Juli 2018, ANRed/poonal) - Das Lächeln von Víctor Jara ist unauslöschlich in meiner Erinnerung. Die Gefangenen gehen weiter, im Gänsemarsch, die Hände im Nacken. Wir kamen beim Tiefkühltransporter von Pesquera Arauco* an, der am Eingang des Chile-Stadions wartete, um uns (noch wussten wir nichts davon) zum National-Stadion zu bringen. Es war die Nacht des 16. September 1973.


Urteil gegen neun beteiligte Militäroffiziere

45 Jahre nach dem Mord an Víctor Jara Martínez und Littré Quiroga Carvajal werden neun an den Morden beteiligte Militäroffiziere zu 18 Jahren Haft verurteilt. Víctor Jara war Liedermacher, Littré Quiroga Carvajal Generaldirektor des Strafvollzugsystems - beide waren Kommunisten. Jara und Quiroga wurden auf der Straße zum Stadion, das heute den Namen Víctor Jara trägt, erschossen. Víctor Jara trafen 44 Kugeln, Littré Quiroga 23. Alle Projektile stammen von Waffen aus den Beständen des chilenischen Militärs. Die durchlöcherten Körper von Jara und Quiroga wurden auf einer Brachfläche im Süden Santiagos vergraben.

Der Richter Miguel Vásquez Plaza hat gründlich gearbeitet, mit medizinischen Gutachten, polizeilichen Untersuchungen, Aussagen von Beschuldigten und Überlebenden des Chile-Stadions. Der Prozess füllt hunderte von Seiten und ist noch nicht abgeschlossen: Die Angeklagten können in eine weitere Instanz gehen. Trotzdem ist es bereits ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, um die Wahrheit über den Horror, den die Gefangenen im Chile-Stadion erlebt haben, ans Licht zu bringen.


Zeitzeugnis aus dem Chile-Stadion

Dieses Stadion ist ein eingezäuntes Gelände, um Basketball zu spielen. In den ersten Tagen des Putsches wurde es zu einem Gefangenenlager umfunktioniert. Dort sind wir - 5.400 Gefangene - durchgeschleust worden, laut Registratur des Lagerkommandeurs Oberstleutnant Mario Manríquez Bravo. Im National-Stadion waren wir einige mehr, etwa 15.000. Mit Kommandeur Manríquez hatte ich am 13. September einen merkwürdigen Dialog. An diesem Tag hatte er sich eine Auszeit zusammen mit seinem Regimentsstab der Gefängniswärter genommen. Als sie mir die Binde abnahmen, stand ich Manríquez und seinen Leuten gegenüber. Sie unterhielten sich entspannt, rauchten, tranken Kaffee. Da begann Manríquez (dessen Name ich erst jetzt weiß) einen, wie ich anerkennen muss, respektvollen Dialog über den Sozialismus und die Erfahrungen der Unidad Popular. Laut diesem Beamten (und anderen, die ich später im National-Stadion hörte) verfolgte der Militärputsch nicht das Ziel, den Prozess der gesellschaftlichen Veränderung zu zerstören, der in Chile durch Allende initiiert wurde. Ziel war die Kommunistische Partei aus der Regierung zu werfen und zu verhindern, dass Chile sich in ein zweites Kuba in Lateinamerika verwandelte. Ihre Bewunderung drückten sie der peruanische Regierung unter General Juan Velasco Alvarado aus (...). Zum Ende des Dialogs befahl der Lagerkommandeur einem seiner Leute mich zu einer Zelle zu fahren, einem Umkleideraum im Chile-Stadion. Heute weiß ich, dass es der Oberleutnant Edwin Dimter Bianchi mit dem Spitznamen "Der Prinz", war.

Dimter ist Nachkomme von Deutschen, wie auch andere Offiziere im Chile-Stadion. Er sagte mir, dass er am 29. Juni 1973 beim Aufstand des Panzerregiments N°2 beteiligt war. Mit einem Panzer durchbrachen sie die Türen des Nationalen Verteidigungsministeriums. Der junge Dimter war redselig und höflich. Er erzählte mir, er sei Nachkomme einer deutschen Familie aus Valdivia. Kurz vorher war er in die DDR gereist, um seine Verwandten kennenzulernen und drückte seine Bewunderung für die landwirtschaftliche Technik aus, die man in diesem Land einsetzte. Der ganze Diskurs vollzog sich, während wir durch unterirdische Gänge des Chile-Stadions gingen. Ich hielt, wie es sich für einen Gefangenen gehört, ein respektvolles und befremdetes Schweigen ein. Wir sahen Dutzende Personen, die mit erhobenen Händen gegen die Wand schauten. Man hörte Schmerzensschreie und Schreie des Entsetzens, die von den Gefangenen kamen, die von den Offizieren des militärischen und polizeilichen Geheimdienstes gefoltert wurden.


Folter und Mord an Littré Quiroga

Wir kamen an Littré Quiroga vorbei, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Er war von zivilen Personen mit farbigen Armbändern - ich schätze von der faschistischen Gruppe Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) -, auf sadistische Art geschlagen worden. Sie warfen Littré die angebliche Misshandlung des rechten Generals Roberto Viaux** während seiner Gefangenschaft durch die Militärpolizei vor. Nie zuvor und nie mehr danach habe ich einen Menschen gesehen, der so brutal zugerichtet wurde, wie Littré Quiroga, der fast schon tot nur noch wimmern konnte.

Der Oberstleutnant Dimter, ließ mich in der Umkleide zurück, in der bereits Jorge Godoy, der kommunistische Arbeitsminister Allendes saß. Er verwechselte mich mit einem Funktionär des neuen Regimes. Er blutete aus einer Kopfwunde und bat mich inständig: "Herr, bitte, schauen Sie mich an, bitte keine weiteren Schläge ...". In den drei darauffolgenden Tagen teilten Godoy und ich uns ein Brot, eine Tasse Kaffee und tauschten unzählige Nachrichten für unsere Familien aus, falls einer lebendig hier rauskommen sollte.

Am 16. September mussten wir Gefangenen uns in einer Reihe aufstellen, ohne zu wissen wohin es gehen sollte. So laufe ich zum Tiefkühltransporter und mich grüßt das Lächeln von Víctor Jara, in seinem Gesicht ein Licht. Er schien nicht gebrochen und strahlte diese würdige Haltung aus, die die Mehrheit der politischen Gefangenen der Diktatur charakterisierte. Warum lächelte er? Vielleicht wollte er uns ermutigen und mit uns seinen vorbildlichen Mut teilen. Vielleicht wollte er jene herausfordern, die seine Mörder sein würden. Man weiß es nicht, aber niemals werden wir dieses Lächeln vergessen.


Manuel Cabieses [1] ist Zeitzeuge und war bis 1975 Gefangener der chilenischen Diktatur. 1975 ging er ins Exil nach Mexiko. Er war Herausgeber der Zeitschrift Punto Final [2], die im März 2018 zum letzten Mal erschien.

* Pesquera Arauco [3] war ein privates Fischhandelsunternehmen, dass - wie auch andere Privatunternehmen - der chilenischen Diktatur ihre Infrastruktur zur Verfügung stellte, in diesem Fall ihren Fuhrpark, um Menschen zu entführen und verschwinden zu lassen.

** General Viaux war Anführer des versuchten Putsches vom 21. Oktober 1969 gegen die Regierung des Präsidenten Eduardo Frei Montalva. Er war ebenso verantwortlich für den Mord vom 25. Oktober 1970 an dem General René Schneider Chereau, Oberbefehlshaber der Militärs und saß wegen dieses Verbrechens im Gefängnis ein.


Anmerkungen:
[1] http://www.puntofinal.cl/autobiografiadeunrebelde.pdf
[2] http://puntofinal.cl/
[3] http://www.memoriaviva.com/empresas/pesquera_arauco.htm


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/chile-nach-45-jahren-werden-die-moerder-von-victor-jara-verurteilt/


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2018

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