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MELDUNG/676: Zwei bemerkenswerte Freisprüche für Aktionen zivilen Ungehorsams im Kampf für Klimagerechtigkeit (Lebenslaute)


Lebenslaute. klassische Musik - politische Aktion
Pressemitteilung vom 9. November 2022

Zwei bemerkenswerte Freisprüche für Aktionen zivilen Ungehorsams im Kampf für Klimagerechtigkeit

Lebenslaute: Freispruch für einen angeklagten Arzt - Hausfriedensbruch gegen RWE nicht nachweisbar

Zeitgleich spricht ein Gericht in Schleswig-Holstein einen angeklagten Klima-Aktivisten wegen rechtfertigenden Notstands frei und beruft sich auf das Nachhaltigkeits-Urteil des Bundesverfassungsgericht vom April 2021


Am 8.11. ging vor dem Landgericht Mönchengladbach der am 21.10. unterbrochene Prozess gegen einen Lebenslaute-Aktivisten weiter. Der Arzt war erstinstanzlich zu 110 Tagessätzen Geldstrafe wegen Unterstützung eines Aktionskonzertes der Lebenslaute im Tagebau Garzweiler von RWE am 15. August 2021 verurteilt worden, dabei hatten Staatsanwaltschaft und Richter ausdrücklich die "Unbelehrbarkeit" des Angeklagten betont.

Schon zu Beginn des Berufungsprozesses gab es eine kleine Pointe: Weil eine der Schöff:innen nach Beendigung des ersten Prozesstags zu einem Lied der Zuhörer:innen im Gerichtssaal geklatscht hatte, beantragte die Staatsanwaltschaft Befangenheit. Das Gericht wies diesen Vorwurf zurück.

Die Aussage des diesmal vor Gericht erschienenen Zeugen aus dem Unternehmen RWE (aufgrund seiner Abwesenheit hatte der Prozess vertagt werden müssen) lautete: der gesamte Tagebau sei zum Zeitpunkt der Lebenslaute-Aktion im August 2021 ringsherum mit einer mindestens schulterhohen Umfriedung (Umwallung und Zäune) versehen gewesen. Der Angeklagte entgegnete, dass er sich an ein solches Hindernis nicht erinnern könne und auch die anderen in der Musikgruppe ein solches nicht beseitigt hätten, sondern ohne Hindernis das Gelände hätten betreten können. Dieselbe Erfahrung hatte offensichtlich auch einer der Schöff:innen sowie andere Personen in diesem Jahr, also Monate nach der Aktion, gemacht. Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, auf eine vollständige Umfriedung käme es beim Hausfriedensbruch nicht an, sondern nur auf die Tatsache, dass das Gelände vorsätzlich betreten worden sei.

Das gab dem Angeklagten erneut die Möglichkeit, seine Teilnahme an der Aktion Zivilen Ungehorsam der Gruppe Lebenslaute mit der Situation rechtfertigenden Notstands angesichts der Klimakrise zu begründen. Dabei wies er darauf hin, dass in solch zugespitzten bedrohlichen Situationen das Vorsorgeprinzip zu gelten hat, worauf das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 29.4.2021 hingewiesen hat. Als Arzt sei er hier besonders gefordert und dem hippokratischen Eid verpflichtet. Die Ärzteschaft habe in der Vergangenheit zu Unrecht und Gewalt zu oft geschwiegen - das sei bei der heraufziehenden Klimakatastrophe mit schon jetzt vielen unschuldigen Opfern, besonders im globalen Süden, nicht mehr zu akzeptieren. Widerstand sei notwendig, um aufzurütteln und Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Denn für rationale Argumente seien diese taub.

Das Berufungsgericht hob das Urteil von 110 Tagessätzen auf - wie der Richter anmerkte, nicht mit der Begründung, die der Angeklagte sich gewünscht hätte, sondern, weil eine vollständige Umfriedung des Tagebaus nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Allerdings würdigte der Richter das vorgetragene Argument des Angeklagten, sich in einer Situation des rechtfertigenden Notstands zu befinden, als besonders glaubwürdig für seine Aussage bezüglich der fehlenden Umzäunung.

Insgesamt blieb das Gericht mit seiner Entscheidung bei der vom OLG Düsseldorf im September vorgegebenen Linie. Allerdings ist das Gericht (Strafrichter und Schöffen) bis an seine Grenzen zugunsten unserer Protestform gegangen. Dementsprechend gab es ein langes Gesicht beim Staatsanwalt, der wortlos aus dem Gerichtssaal eilte, während die über 20 Unterstützer:innen in- und außerhalb des Gerichtssaals jubelten.

Praktisch zeitgleich wurde in Schleswig-Holstein ein Klima-Aktivist wegen einer Baumbesetzung freigesprochen, obwohl, wie die urteilende Richterin feststellte, durch seine Aktion der Tatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllt sei. Dazu berichtet der NDR:

"... Ein anderes Argument überzeugte die Richterin dann aber doch: der juristisch so genannte 'rechtfertigende Notstand'. Der Sprecher des Amtsgerichts Stefan Wolf erklärte dazu: 'Die Richterin hat den Klimaschutz hier als Rechtsgut von Verfassungsrang mit dem Eigentumsschutz der Waldeigentümer abgewogen und dann entschieden, dass der Klimaschutz hier als Rechtsgut wesentlich überwogen hat und diese Tat des Hausfriedensbruchs in diesem konkreten Fall gerechtfertigt hat.' In der Begründung verwies die Richterin auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2021, das die Gesetzgebung zum Klimaschutz als unzureichend bewertet hatte..." [1]

Klimaschutz ist kein Verbrechen!
Lützerath bleibt!


[1] Link zum NDR-Bericht:
https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Freispruch-fuer-Baumbesetzer-vom-Flensburger-Bahnhofswald,bahnhofswald174.html

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Quelle:
Lebenslaute
E-Mail: presse@lebenslaute.net
Internet: www.lebenslaute.net

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. November 2022

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