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WIENER GESPRÄCHE/00: Einleitung (SB)

Alfred Hrdlicka "Orpheus betritt den Hades",
Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Albertinaplatz Wien

Das Bild Österreichs ist aus bundesrepublikanischer Sicht von Klischees bestimmt, die am ehesten von einem mangelnden Verständnis für die Probleme der eigenen gesellschaftlichen Entwicklung zeugen. So wird in deutschen Medien gerne über die Errungenschaften des österreichischen Sozialstaats lamentiert, die aus dem früheren Einfluß der SPÖ auf die Politik des Landes resultieren. Dabei haben die österreichischen Sozialdemokraten in kaum geringerem Maße als ihre deutschen Genossen den Paradigmenwechsel in den Neoliberalismus mit jener Geschmeidigkeit und Rücksichtslosigkeit vollzogen, die sie als Mitglieder einer supranationalen, ihrer traditionellen Klientel weit weniger als den Interessen des Kapitals verpflichteten Funktionselite kennzeichnet. Die formelle Einhaltung des Neutralitätsgebots z.B. wirkt in der tief in die NATO integrierten Bundesrepublik wie ein Relikt überkommener Zeiten, dabei sucht das österreichische Bundesheer längst in Auslandseinsätzen Anschluß an das imperialistische Krisenmanagement. Die große Zustimmung, die die österreichischen Rechtsparteien FPÖ und BZÖ bei den letzten Wahlen erhalten haben, werden gerne als Beleg für eine besonders tiefe Verwurzelung faschistoider Gesinnung in der österreichischen Bevölkerung gewertet. In der Bundesrepublik werden Fremdenfeindlichkeit und Sozialchauvinismus parteipolitisch dagegen anders sortiert, treten jedoch nicht minder aggressiv in Erscheinung, wie die deutsche Asylpolitik, wie der mit dem Terrorkrieg vollends etablierte Antiislamismus und wie zahlreiche Angriffe auf nichtweiße Menschen beweisen.

... und immer droht der Barbarensturm - der selige Markus von Aviano rettet Wien und zieht gen Osten

... und immer droht der Barbarensturm -
der selige Markus von Aviano rettet Wien und zieht gen Osten

Kurzum, es ist müßig, große Unterschiede in der Dominanz reaktionärer Ideologeme und neoliberaler Politikkonzepte zwischen Österreich und Deutschland ausmachen zu wollen. Die Alpenrepublik ist so wirksam globalisiert wie jedes andere Land Mitteleuropas, Bildungseinrichtungen und Medien stehen nicht minder als hierzulande unter dem zersetzenden Einfluß eines marktwirtschaftlichen Verwertungsprimats angloamerikanischer Genese, und die Regulation der persönlichen Lebensführung folgt jener medizinaladministrativen Enthaltsamkeitsdoktrin, die die Lifestyleimperative in London oder New York einfordern. Die große Bedeutung des Tourismus für die Volkswirtschaft Österreichs hat zwar den erfreulichen Nebeneffekt einer breiten Förderung von Kunst und Kultur, bestimmt aber auch die Harmlosigkeit der dort verhandelten Inhalte.

Himmelwärts zur Erlösung vom Zwang der Verdinglichung

Himmelwärts zur Erlösung vom Zwang der Verdinglichung

Geblieben freilich ist ein Lokalkolorit, das sich einerseits der Maßgabe optimaler Verwertbarkeit beugt, andererseits tief aus der Vergangenheit eines Vielvölkerstaats im Schnittpunkt verschiedenster regionaler Einflüsse schöpft. Die Nähe zu den Ländern Osteuropas ist in Wien und dem ursprünglich zu Ungarn gehörenden Burgenland unübersehbar, die Debatte um die Rechte der slowenischen Minderheit in Kärnten belegt den fugenlosen Übergang zum Balkan, die geringe Distanz zu den Ländern des Nahen Ostens spiegelt sich im Straßenbild vieler Städte, und einzelne Zeugnisse der einst blühenden jüdischen Kultur Wiens sind trotz der Vernichtungspolitik der Nazis noch präsent. Die ethnischen wie sozialen Widersprüche der österreichischen Gesellschaft haben stets eine vitale, in ihrer gesellschaftsanalytischen Tiefe sehr spezifische Literatur hervorgebracht. Die Strahlkraft von Namen wie Arthur Schnitzler, Robert Musil, Karl Kraus, Franz Kafka, Joseph Roth oder Franz Werfel läßt leicht vergessen, daß Autoren wie Alexander Lernet-Holenia, Gustav Meyrink, Leo Perutz, Alfred Polgar oder Thomas Bernhard unverwechselbare Texte kakanisch-österreichischer Eigenart hervorgebracht haben. Größen der bildendenden Kunst wie Alfred Kubin oder Alfred Hrdlicka folgten und folgen einem politischen Anspruch, der sich im modernen Kunstmarkt weitgehend verflüchtigt hat. Der Wiener Aktionismus bediente sich des Mittels der Provokation, um den immer noch allgegenwärtigen Katholizismus diametral herauszufordern, nachdem die Popen bereits viel Mühe damit hatten, die in Wien entstandene Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner Schüler abzuwehren.

Maskulines Treiben der 'Burschis' an Fronleichnam

Maskulines Treiben der "Burschis" an Fronleichnam

Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluß österreichischer Ökonomen wie Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises oder Joseph Schumpeter auf die theoretischen Grundlagen marktliberaler Wirtschaftsideologie, während die Bedeutung eines eigentlich heute um so relevanteren Kritikers des Finanzkapitals wie Rudolf Hilferding mit dem Niedergang der klassischen Sozialdemokratie marginal wurde. So reaktionär viele Politiker im Geburtsland Adolf Hitlers waren und sind, so fortschrittlich zeigte sich einst die SPÖ, die ihre Hochzeit in den 1920er Jahren mit den sozialen Errungenschaften des Roten Wiens feierte. Der sogenannte Austromarxismus definierte sich gegen den Marxismus-Leninismus sowjetischer Bauart und scheiterte nicht anders als die deutsche Sozialdemokratie im Endeffekt daran, daß er nicht kämpferisch genug gegen die Kräfte des Austrofaschismus vorging, der seinerseits nicht verhindern konnte, vom expansiven deutschen Nationalsozialismus vereinnahmt zu werden. Das Ergebnis bestand in der zweiten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, mit der die Eliten Deutschlands und Österreichs Millionen von Menschen in den Tod trieben.

Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Albertinaplatz Wien - Alfred Hrdlicka 'Marsyas I'       Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Albertinaplatz Wien - Alfred Hrdlicka 'Orpheus II'

Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Albertinaplatz Wien

Wer heute diesen Rumpfstaat der ehemaligen Doppelmonarchie bereist, kann anhand der Disproportionalität, mit der die architektonischen Zeugnisse verwehter imperialer Größe das Stadtbild Wiens dominieren, ermessen, daß die Forderung nach einem radikalen gesellschaftlichen Umdenken nichts an Dringlichkeit und Aktualität eingebüßt hat. Einige Exponenten des politisch fortschrittlichen Österreichs und des internationalistischen Wiens hat der Schattenblick im Rahmen einer kleinen Rundreise zweier seiner Redakteure befragt und dabei festgestellt, daß das Nachbarland über eine vitale und liebenswerte politische Kultur verfügt, die aus naheliegenden Gründen nicht in den Reiseführern und Tourismusangeboten annonciert wird. Wie in der Bundesrepublik stehen die politisch streitbaren und gesellschaftlich produktiven Kräfte auch in Österreich im Schatten des hegemonialen Blocks aus kapitalistischer und staatlicher Macht, der zur Sicherung seiner Vorherrschaft alle Register institutioneller und repressiver Gewalt zieht. Um so notwendiger ist die grenzübergreifende Zusammenarbeit aller Personen und Gruppen, die zur Veränderung dieser Verhältnisse angetreten sind.


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Vom Zentrum der Zivilisation aus ...               ... die Völker der Welt bekehren

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23. Juni 2009