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WIENER GESPRÄCHE/10: Begegnungen am roten Rand Wiens - Teil 10 (SB)


Interview mit Herbert Stumpfl am 11. Juni 2009 in Wien


Die Kommunebewegung der '60er und '70er Jahre war, wenn man von esoterisch und spirituell orientierten Gruppen absieht, integraler Bestandteil der Linken. Die Auflösung des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis in gemeinschaftlichen Strukturen sollte zumindest im Bereich der Lebensführung realisieren, was in den gesellschaftlichen Kämpfen am Widerstand herrschender Kräfte und bürgerlicher Moral scheiterte. Das Problem, inmitten gesellschaftlicher Widersprüche Enklaven vom Verwertungszwang befreiten Lebens zu schaffen, provozierte zahlreiche Experimente von utopischer Unbescheidenheit, sollte doch im Vorgriff auf den vermeintlich gesetzesmäßigen Geschichtsverlauf nichts geringeres als der Bruch mit den Zwängen und Nöten bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung vollzogen werden.

Eines der bekannteren dieser Kommuneexperimente fand in Österreich statt und generierte in seiner Blütezeit Ableger in vielen westeuropäischen Großstädten. Die von dem Aktionskünstler Otto Mühl gegründete Aktionsanalytische Organisation (AAO) trat als nach den Prinzipien der Selbstorganisation, des Gemeinschaftseigentums und der freien Sexualität organisierte Lebensform in Erscheinung. So umstritten das Gruppenexperiment insbesondere in der Linken war, so sehr wurden an ihm auch gesellschaftliche Widerspruchslagen auf kompensatorische Weise abgearbeitet. Daß es allen Anfeindungen zum Trotz fast 20 Jahre zwischen seinen Anfängen in den frühen '70er Jahren und dem jähen Zerfall 1991 Bestand hatte, spricht für die Wirkmächtigkeit des emanzipatorischen Ideals, mit dem es initiiert wurde. Daß es mit einem Eklat, einer mehrjährigen Haftstrafe für Otto Mühl wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern, zuendeging und niemals wieder aufgegriffen wurde, dokumentiert ein erhebliches Ausmaß an unbewältigt gebliebenen Widersprüchen. Diese ohne die Scheuklappen bürgerlicher Reflexe und vordergründiger Stigmatisierungen aufzugreifen und in produktive Fragen hinsichtlich der Befähigung des Menschen zu einem Leben, das nicht allein vom sozialdarwinistischen Imperativ kapitalistischer Verwertungslogik bestimmt ist, zu verwandeln, könnte Anlaß bieten, sich mit der Geschichte dieses sozialen Experiments zu befassen.

Der in Wien lebende Herbert Stumpfl gehört zu den Kommunarden der ersten Stunde und hatte nicht unwesentlichen Anteil an der Entstehung der AAO. In einem ausführlichen Gespräch bot er dem Schattenblick Gelegenheit, einen Einblick in die Geschichte dieser Kommune zu erhalten, der nicht von der Rationalisierungsnot verzerrt ist, das Scheitern eines Projekts zum eigenen Vorteil wenden zu müssen, sondern der das konstruktive Potential einer authentischen Auseinandersetzung dokumentiert.

Herbert Stumpfl

Schattenblick: Ich möchte dich bitten, etwas zu deinem Werdegang in den 60er Jahren zu sagen. Wie war dein Weg in die Kommune-Bewegung, gehörtest du in Wien eher der Kunstszene an oder warst du eher in der Linken engagiert?

Herbert Stumpfl: Ich bin eigentlich in beiden Szenen, sowohl in der aktionistischen Szene als auch, natürlich, in der linken Szene aktiv gewesen. Ich hatte Adorno gelesen und habe mir sehr viel versprochen, als ich nach Wien ging, um Soziologie zu studieren. Ich komme vom Land, und das Erstaunliche war - es war eigentlich natürlich und normal, aber entpuppte sich später als sehr erstaunlich -, daß ich ganz naive Vorstellungen vom Studium gehabt habe. Ich war begeistert von Adorno, und ich habe einige seiner Bücher gelesen und habe erwartet, daß das in Wien auf der Universität genauso gemacht wird. Gesellschaftskritik fand jedoch nicht statt, weil hier pragmatische Soziologie und sozusagen realistische Soziologie, also Handwerkssoziologie betrieben wurde. So habe ich zu studieren begonnen, war allerdings ziemlich enttäuscht und habe eigentlich nicht wirklich Fuß im Studium gefaßt. Ich habe mich natürlich für alles interessiert, ich kam vom Land, habe von Drogen gehört, von Haschisch und bin einfach meiner Nase nachgegangen und in diese Szenen hineingeraten. Ich habe dann einen Artikel von Peter Weibel, der jetzt Kunsttheoretiker ist, über den Wiener Aktionismus gelesen. Er enthielt ein paar sehr schöne Fotos vom Otto Mühl, und ich war sehr angetan und habe gedacht: Das ist es!

Tatsächlich hat dann ein Freund, der einen Vortrag von Otto Mühl gehört hatte, ein oder zwei Wochen später zu mir gesagt: "Weißt du, du hast mir vom Mühl erzählt, ich hab' den getroffen, der sucht Mitakteure. Willst Du?" Ich habe mich sofort gemeldet. Dann habe ich den Otto Mühl besucht. Da er eine beeindruckende Figur war und gerade im Aufschwung, Karriere im Aktionismus zu machen, habe ich dann bei den nächsten Aktionen mitgemacht. Ich war sowohl im linken Lager - ich hatte mich dem damaligen VSStÖ, dem Sozialistischen Studentenverband, und nach einem Austritt einer noch radikaleren Studentenorganisation angeschlossen - als auch als Akteur aktiv. Als radikal linker Student habe ich mich auch an Theoriebeiträgen versucht. Das war mein Einstieg in diese Welt.

SB: Wie verhielt es sich beim Aktionismus damals mit dem politischen Anspruch? Wurde etwas derartiges durch Otto Mühl oder seine Mitakteure über die Kunst hinaus artikuliert?

HS: Eigentlich nicht. Es gab vor allem einen indirekten politischen Anspruch, der aus dem Protest und aus der Überschreitung der herkömmlichen Normen in der Kunst gekommen ist. Es gab natürlich massiv Protest gegen - ich würde das das "Wichteltum" nennen - den normalen Kleinfamilienmenschen, gegen den egozentrischen und beschränkten Menschen. Man muß sich vorstellen, daß Österreich damals - das war noch vor Kreisky - ein faschistoides, völlig unaufgeklärtes Land war. Die Naziverbrechen sind kaum diskutiert worden, die sind eigentlich erst 20 bis 30 Jahre später besprochen worden und überhaupt aufs Tablett gekommen. Es gab einen ganz kleinen Diskurs in Wien, der vor allem unter jüdischen Studenten stattfand, die natürlich aufgrund des Schicksals ihrer Eltern viel mehr Informationen gehabt haben, die mehr oder weniger in Österreich für jemanden, der sich nicht explizit dafür interessiert oder Vorwissen gehabt hat, gar nicht zugänglich waren. Die offizielle Ideologie lautete damals: Wir Österreicher sind vom Dritten Reich, wir sind von Adolf Hitler überfallen worden, wir sind besetzt worden, was insofern stimmt, als daß die damalige Regierung tatsächlich im KZ war und aus Antifaschisten bestand. Allerdings gab es neben den Sozialisten den sogenannten Austrofaschismus. Das geht zurück bis in die Dollfuß-Zeit, als nach dem Muster Italiens eine Einheitsregierung eingesetzt und die Demokratie abgeschafft wurde.

Und so eine düstere, reaktionäre, dicke und fette Stimmung, die es in Deutschland nach dem Krieg ganz einfach nicht mehr gegeben hat, nicht einmal in den Adenauer-Jahren, die war hier präsent und sozusagen universell und wuchtig vertreten. Der Aktionismus hat sich deswegen so gewalttätig gegen diesen Druck gerichtet, weil der Druck so gewalttätig war. Es hat sich immer wieder die Frage ergeben, wieso hat es in Deutschland den doch relativ leichteren Fluxus, die spielerische Fluxusbewegung gegeben und nicht in Österreich? Wieso ist es in Österreich immer um Blut und Urin und Scheiße gegangen und nicht in Deutschland? Der Grund ist der, daß der Druck hier viel, viel größer war. Es war einfach eine absolut stinkende, reaktionäre Atmosphäre hier. Als ich bei der ersten Aktion mitgemacht habe, habe ich mich ganz einfach befreit gefühlt. Man konnte plötzlich brüllen, man konnte sich auf dem Boden wälzen, man konnte, wie wir es damals genannt haben, ausagieren. Und die einzigen, die irgendwie aufgeklärt waren, waren die Reste der jüdischen Bevölkerung, die zurückgekehrt ist, wobei ich hinzufügen muß, daß die österreichische Regierung im Unterschied zu der deutschen die jüdischen Exilanten nicht aufgefordert hat, zurückzukehren. Einige wenige sind von selber zurückgekommen, und das war eine relativ aufgeklärte Schicht. Genauso wie die berühmte, sogenannte Wiener Moderne um die Wende zwischen 19. und 20. Jahrhundert zu Dreiviertel oder vielleicht zu 85 Prozent jüdisch inspiriert war.

Hier waren ganz dünne, zaghafte Aufklärungsversuche, und der Aktionismus hat sich sehr gewalttätig gewehrt, während die Linke marginal war. Es hat eine winzige linke Bewegung gegeben, die, ich würde sagen, fast vom Aktionismus dominiert wurde. In dieser berühmten 68er-Aktion "Kunst und Revolution" auf der Wiener Universität wurden die Aktionisten wegen der Aktionen eingesperrt. Sie wurden in einem Aufschrei als "Uniferkel" tituliert, und die Presse hat gefordert, daß man sie einsperren müßte. Sie sind dann tatsächlich in Untersuchungshaft gekommen, und der Günter Brus hätte dann auch sechs Monate Kerker bekommen, wenn er nicht nach Deutschland geflüchtet wäre.

SB: Der Aufbruch der revolutionären Studentenbewegung und die Proteste um den Vietnamkrieg in Deutschland '67, '68 sind in dieser Breite nicht nach Wien herübergeschwappt?

HS: Soweit ich informiert bin, nicht. Ich habe nichts bemerkt. Man hat natürlich vieles gelesen, und es hat sich '67 dann auch schon so etwas wie eine Kommune gebildet. Es hat kleine Pflänzchen gegeben. '68 sind deutsche Emissäre gekommen, die das Klima ein bißchen aufgemischt haben, ein gewisser Peter Jirak, es hat ein paar gegeben, die von Berlin und Frankfurt hergekommen sind. Das heißt, die linke Bewegung war mehr oder weniger sehr klein und flach.

SB: Du hast, soweit ich gelesen habe, 1971 schon in einer eigenen Gruppe gelebt. Ist die praktisch aus dem Aktionismus hervorgegangen?

HS: Ich habe schon vor '68 in einer Kommune gelebt. Otto Mühl hat mich öfter besucht, weil ich bei seinen Aktionen mitgemacht habe. Er hat dieses Modell gesehen und - das müßte '70 gewesen sein - dann selbst eine Kommune aufgemacht. Ich bin dann ein Jahr bei Otto Mühl eingezogen gewesen von '70 bis '71 und habe '71, inspiriert vom Selbstbewußtsein Otto Mühls, selbst eine Kommune gegründet.

SB: Die war aber assoziiert mit der Kommune von Otto Mühl?

HS: Die war assoziiert. Ich könnte sagen, ich war der erste Gruppenleiter in diesem Sinn. Das war immer ein Ableger oder eine Parallelaktion zur Mühlschen Kommune. Aber es hat noch keine freie Sexualität am Anfang gegeben. Man lebte in Zweierbeziehungen. Das ist praktisch eine WG gewesen.

SB: Der Kommunechronologie von Karl Iro Goldblat habe ich entnommen, daß die freie Sexualität begann, als Otto Mühl aus dem Urlaub zurückgekehrt ist und seine damalige Freundin ihn verlassen hat und er dann diesen Schritt gemacht hat. Stimmt das?

HS: Das stimmt. Es hat auch ein bißchen in der Luft gelegen.

SB: Ergab sich die damit auch für Beziehungen diskutierte Frage des Eigentums letztlich aus einem politischen Aufbruch?

HS: Ja, das kann man so sehen. Ich glaube, das ist auch der linke Einfluß gewesen. Weil viele Linke Kontakt mit Otto Mühl gehabt haben. Er war zuerst nicht dezidiert links eingestellt, aber natürlich hat sich seine Persönlichkeit im Sog dieses Zeitgeistes und aufgrund seiner Aktionen immer mehr mit linken Inhalten aufgefüllt. Das freie Eigentum, also das Gemeinschaftseigentum, ist letztlich eine Folge des Zusammenlebens gewesen. Das ist ja nie konzipiert gewesen, genauso wie die freie Sexualität nicht konzipiert wurde. Es ist eine Folge der freien Sexualität.

Die freie Sexualität hat ja Vorstufen gehabt. Nachdem wir als Wohngemeinschaft begonnen hatten, ist es zu vielen Spannungen zwischen den einzelnen Mitgliedern gekommen. Die Reaktion darauf war, daß wir alle Analysen gemacht haben. Schließlich hat Otto Mühl selbst - er hatte Wilhelm Reich gelesen, war sehr angetan und begeistert davon - mit Körperanalysen angefangen. Zuerst mit Gesprächsanalyse in Freudsche Richtung, dann ist er, durch Wilhelm Reich inspiriert, zur Körperanalyse übergegangen und hat das Aktionsanalyse genannt. Daraus entstand der Name AAO für Aktionsanalytische Organisation.

SB: Der Einstieg verlief also über die Psychoanalyse?

HS: Es gab einen Einstieg über die Psychoanalyse. Die Psychoanalyse wurde immer thematisiert.

SB: Reichs sogenannte Körpertherapie enthielt psychoanalytische Elemente im Sinne der Aufarbeitung von Kindheitstraumata und ähnlichem?

HS: Ja, Wilhelm Reich behauptete, daß in den abgepanzerten Muskeln des Körpers sozusagen die Kindheit bzw. die Traumata und das Leben des Analysanten gespeichert ist.

SB: Das Kommuneleben war also die Initialzündung für diese Entwicklung, die kam nicht aus dem theoretischen Bereich?

HS: Die kam nicht aus dem theoretischen Bereich. Die Bedeutung Freuds ergab sich natürlich schon aus den Aktionen, die freudianisch gedeutet wurden. Das Arbeiten mit Material, mit Nacktheit, mit Versumpfungen, mit Schreien und Toben und Kind spielen und Strampeln und Morden kommt natürlich zum großen Teil von Sigmund Freud.

SB: Die spätere politische Ausrichtung der AAO im Sinne eines sozialistischen Konzepts wurde ja auch zeitweilig "geiler Sozialismus" genannt.

HS: Das habe ich erfunden.

SB: Das programmatische oder ideologische Konzept bis hin zur Thematisierung der Eigentumsfrage ist also nicht nachträglich aus dem reichianischen Ansatz in der Körpertherapie entstanden?

HS: Die Thematisierung der Eigentumsfrage ist, wie gesagt, eigentlich aus der Einführung der freien Sexualität heraus entstanden. Jetzt haben die Leute schon miteinander Sexualität gehabt, und sie haben alle Analysen gemacht. Für die Analysen haben sie ein wenig bezahlt, 20 Schilling oder ähnlich mickrige Summen. Dann hat sich herausgestellt, daß manche mit kleinen Jobs wenig und andere einfach besser verdient haben, während manche, die überhaupt kein Geld hatten, nicht einmal das, was man für den Haushalt brauchte, einbringen konnten. Dafür wurden Schulden aufgeschrieben.

Eines Tages hat Otto gesagt, wir streichen das alles, wir machen Gemeinschaftseigentum. Das hat sich aus dem Zusammenhang mit dem engeren Leben, der freien Sexualität und einem langsamen Erwachen einer Identität ergeben, mit der wir uns, glaube ich, damals schon von den viel nichtssagenderen Formen der Hippiekommunen unterschieden haben. Wir haben uns dann plötzlich kurze Haare geschnitten und als durchaus eigenständige Bewegung konstituiert. Die basierte natürlich auf der freien Sexualität, die sonst nirgends, auf jeden Fall nicht in dieser klaren Form, durchgeführt wurde, sondern eher eine erworbene freie Sexualität war und nicht wie bei uns als eine Option für eine mögliche Gesellschaftsgestaltung entwickelt wurde. Wenn man jetzt schon freie Sexualität hat und Marx liest, die linken Klassiker liest und den Zeitgeist einsaugt, dann werden wir natürlich auch Gemeinschaftseigentum einführen, was uns das gute Bewußtsein gegeben hat, daß wir etwas leben, was andere nur fordern, daß wir jetzt den berühmten Freudomarxismus realisieren.

SB: Habt ihr die Abgrenzung zu den Hippies als einer irgendwie auch utopischen Bewegung in dem Sinn vollzogen, daß ihr meintet, im Laissez-faire dieser Gruppen wäre zu viel an individualistischer "Charakterpanzerung" mittransportiert worden? So stellte das Abschneiden der Haare ja einen deutlichen Bruch mit dem wilden Äußeren der Hippies dar.

HS: Ja, das war ein Bruch, aber wir glauben, bereits gespürt zu haben, daß die Entwicklung nicht in diese Richtung laufen kann, daß das einfach zerfällt, was tatsächlich auch der Fall war, daß das zerbröselt, daß das irgendwie in eine Orientierungslosigkeit verläuft. Wir haben auch Trips genommen, aber es war natürlich alles mehr geordnet und weniger individualistisch, denn es hat sich sehr bald auch eine Offenheit in der Sprache gerade auch über die Analysen entwickelt, in der die einzelnen über ihre Probleme geredet haben. Wir haben uns ja als schon von der Kleinfamilie geschädigte Menschen gesehen, und nach ein paar Trips haben wir das auch abgebrochen, weil da sind immer welche wahnsinnig geworden, und haben gemerkt, daß dieser liberalistische und formlose Hippietrip nicht weiterführt. Das hat entweder in der Esoterik geendet, oder die Leute sind nach Indien gefahren und haben religiöse Privatissima kultiviert.

SB: Damit habt ihr einen entschiedenen Schritt in eine politische Richtung getan.

HS: Ja.

SB: Ihr seid aber als Gruppe nie so weit gegangen, daß ihr euch an Aktionen der Linken beteiligt hättet, daß ihr Befreiungsbewegungen unterstützt hättet oder im gesellschaftlicher Rahmen mit politischen Forderungen aufgetreten wärt?

HS: Die politische Forderung hat darin bestanden, daß wir mit freier Sexualität und Gemeinschaftseigentum geworben haben und daß wir uns als Realisierung der Ideale der 60er Jahre selbst gedeutet haben. Das hat uns auch den utopischen Schwung über alle Schwierigkeiten hinweg gegeben, weil wir geglaubt haben, wir leben den Kommunismus und wir leben die freie Sexualität. Es wäre uns lächerlich erschienen, die Energie jetzt noch in die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in Lateinamerika zu investieren, weil die Energie begrenzt ist. Das Projekt war links orientiert und wir haben eigentlich geschaut, unsere Möglichkeiten zu ergreifen, uns selber weiter zu entwickeln.

SB: Ihr habt aber durchaus die Utopie verfolgt, daß das ein Gesellschaftsmodell für alle Menschen sein könnte?

HS: Ja, das wurde teilweise ernst genommen. Später wurde dann so eine World Commune Organization konzipiert, das hatte einen eher ironischen Charakter, aber wir haben das schon ernst gemeint. Zumindest haben wir uns als eine Avantgarde gesehen, sonst wäre die Gruppe auch nicht auf 700 Leute angewachsen. Dann erst war Einzugsstopp, dann wurde niemand mehr aufgenommen, weil es viel zu groß war.

SB: Ihr wart damals aber durchaus auch in der Linken präsent gewesen. Ich erinnere mich, daß ihr in den 70er Jahren auf einer Brokdorf-Demo wart, da gab es einen kleinen Eklat, weil Robert Jungk in den AA-Nachrichten auftauchte und sich später dann davon distanzierte.

HS: Ja, genau.

SB: Ihr hattet auch eine Zeitschrift, die AA-Nachrichten, die, ich vermute mal, damals auch in linken Buchhandlungen erhältlich war?

HS: Ja, natürlich. Es kam dann irgendwann dazu, daß wir von den Linken angegriffen wurden. Ich weiß nicht mehr genau, wann das war, aber es hat immer diesen Punkt mit der Autorität Ottos gegeben. Er war eine Generation älter, er war ein berühmter Künstler, er war eine faszinierende Persönlichkeit, und für viele Linke waren die, sagen wir, autoritären Züge der Kommune unannehmbar. Das war der eine Punkt, und der zweite Punkt bestand darin, daß Otto in den AA-Nachrichten einmal einen Artikel geschrieben hat, den müßte man nachlesen, der ironisch gemeint war. Die AA-Kommune als "Wehrdorf" oder so ähnlich. Es hat irgendwie auf eine ironische Weise faschistische Anklänge gehabt. Und das wurde ernst genommen.

Wir haben ein bißchen das Problem gehabt, daß wir die Autorität Ottos auch nach außen irgendwie verschweigen mußten. Und das haben wir auch gemacht. Einerseits ist unsere Kommune mit einem anarchischen Anspruch angetreten, mit einem linken Anarchismus, andererseits hat es eine anerkannte Führung gegeben, und das war immer problematisch. Das hat es bei der Linken auch gegeben, es hat Rudi Dutschke gegeben, es hat Rangkämpfe gegeben, aber dort waren wir angreifbar, weil wir nicht dem Ideal der Egalität entsprachen, das wir ansonsten behauptet haben.

SB: Daraus hat sich dann später durchaus eine explizit ausformulierte Hierarchie ergeben, die, wenn ich das richtig verstehe, per Abstimmung zustande kam, die aber auch in einer eindeutig festgelegten Rangfolge gelebt wurde?

HS: Richtig. Und es ist auch erstaunlich, wie das entstanden ist. Es hat ja diese AA-Parabel gegeben. Diese hat die verschiedenen Abpanzerungs- und Entpanzerungsstufen, also die verschiedenen Schädigungs- und Freiheitsstufen des Menschen dargestellt. Die Idee der Parabel bestand darin, daß ein Mensch, wenn er eine Analyse macht und sich hinlegt und berührt wird und atmet, zu schreien und zu weinen beginnt und so fort, von der körperlichen Abpanzerung über eine sogenannte emotionelle Abpanzerung über Ekelschranken, über infantile Mordschranken, über Liebesbedürfnis, aggressives Bedürfnis bis zur Geburt geht, wo der Nullpunkt erreicht ist und er jetzt plötzlich entpanzert, sozusagen mit positivem Liebesbedürfnis, mit positiven Eltern zur sogenannten Reichschen sozialen genitalen Identität gelangen kann. Das Endergebnis ist der nicht mehr abgepanzerte und liebesfähige, kontakt- und arbeitsfähige Mensch.

SB: Hättet ihr diesen Menschen auch als nichtentfremdet bezeichnet?

HS: Das wäre dann der Nichtentfremdete in jenem Sinn, daß er dann bereits in einer Gesellschaft lebt, in der keine Restriktionen seiner Sexualität und seiner kommunikativen und schöpferischen Bedürfnisse herrschen. Das war die Parabel. Wir haben dann zum Spaß und zum Spiel gefragt: Wo steht jetzt jeder? Wo schätzt sich jeder ein? Ist er noch im infantilen Haß, oder ist er schon im aggressiven Liebesbedürfnis? Hat er vielleicht gar schon die Geburt erreicht? Das war praktisch die erste inoffizielle Hierarchie. Aber wenn du Gemeinschaftseigentum hast, dann mußt du ein Ordnungsprinzip finden, daß die Konkurrenzen und Interessen bei so vielen Leuten nicht permanent auseinanderplatzen und man überhaupt nichts mehr machen kann. Das ist wie ein Arbeitsprozeß in einer Firma, auch der ist strukturiert. Das war unbedingt notwendig, etwas zu finden, um die Konkurrenz fruchtbar zu gestalten.

SB: Von der Konkurrenz mußte man aber ausgehen?

HS: Die war da. Ich könnte jetzt eine Reihe von Erlebnissen erzählen, wo Männer ganz einfach zusammengeknallt und zusammengekracht sind oder wo sich Leute aggressiv und ungut benommen haben. Irgendeine Regel muß es geben. In der Kleinfamilie, in der Gesellschaft wird das mit Geld geregelt.

SB: Ich beziehe mich deshalb auf den Begriff der Entfremdung, weil er im konventionell marxistischen Sinn wesentlich durch die materiellen Bedingungen in der Gesellschaft bestimmt ist. Wie seid ihr damit umgegangen, daß ihr im Sinne eures Experiments eine Insel inmitten einer fremden bis feindseligen Umgebung, bezogen auch auf die Zeit, in der ihr diesen politischen Anspruch vertreten habt, wart?

HS: Erstens einmal mußten wir uns teilweise verstellen. Schon in ganz frühen Jahren hat uns die Kirche angezeigt und wollte uns die Kinder wegnehmen. Das wurde dann abgewehrt, da ist überhaupt nichts draus geworden. Die Kinder wurden von Psychologen untersucht, und es ist festgestellt worden, daß sie sehr, sehr gut beisammen sind. Die Kirche wollte die Kinder natürlich wegnehmen, weil sie gewußt hat, daß wir freie Sexualität haben. Wo so etwas praktiziert wird, dürfen sie natürlich nicht wohnen und sein. Dann wurden wir von der Außenwelt plötzlich als Sekte gesehen. Das war ein sehr, sehr wichtiger, unangenehmer Einschnitt, weil wir nirgends mehr auftreten konnten.

SB: Wann war das ungefähr?

HS: Ich glaube, sicher schon '78, auf jeden Fall aber '79 und '80. Dann war es sowieso aus. Dann ist niemand mehr eingezogen oder nur noch ganz wenige. Wir mußten unsere Außenarbeit einstellen. Wir konnten nicht mehr öffentlich auftreten. Früher haben wir ja Hörsäle gefüllt und die alternativen Szenen bereist. Man konnte überhaupt nichts mehr machen. "Wie ist das mit Otto?", "Wie ist das mit der Sekte?", "Ihr seid ja eine Sekte!". Wir haben uns aber nicht als Sekte gesehen.

SB: Ihr wurdet praktisch stigmatisiert von einer, könnte man vielleicht sagen, gesellschaftlichen Innovation, die ja nicht nur euch getroffen hat. Damals war der Begriff eher der der Jugendsekte, es ging ja meistens um die Unterstellung, daß Kinder ihren Eltern und ihren Familien entfremdet werden. Das ist vermutlich auch deshalb auf euch angewendet worden, weil ihr entsprechende Identifikationsmerkmale dafür aufgewiesen habt, an denen die Leute einhaken konnten.

HS: Richtig. Natürlich die Autorität Ottos, dann die Aufgabe des Besitzes, um ihn dem Gemeinschaftseigentum zur Verfügung zu stellen und natürlich die freie Sexualität sowie eine eigene Zeitung. Wir haben tatsächlich einige Merkmale einer Sekte aufgewiesen, ohne, weil wir ja nicht religiös strukturiert waren, dieses wesentliche Element des Religiösen überhaupt zu erfüllen. Wir waren vielleicht eine Sekte wie einst die Kommunisten.

SB: Ihr habt aber nicht unbedingt versucht, dieser Offensive durch ein politisches Bekenntnis entgegenzutreten, indem ihr auf den gesellschaftlichen Charakter dieses Begriffs verwiesen hättet? Ihr habt nicht die offene Auseinandersetzung mit euren kirchlichen Gegnern gesucht?

HS: Das war ein schwerer Fehler! Wir haben uns zurückgezogen, irgendwie gekränkt und beleidigt. Von den Linken sind wir abgelehnt worden, und andere Felder, auf denen wir uns hätten ausbreiten können, hat es ohnehin nicht gegeben. Es war einfach zu revolutionär für einen normalen Bürger. Wenn Ansprechpartner in unserem Sinne in Frage gekommen wären, waren es die Linken. Aber gerade die Linken haben sehr, sehr gehetzt. Egal, inwiefern sie Recht gehabt haben oder nicht - denen war natürlich die Autorität Ottos ein Dorn im Auge.

SB: Hat es nicht vielleicht auch damit zu tun gehabt, daß ihr eine bestimmte Lebensform repräsentiert habt, die Widersprüche aufgegriffen hat, die in linken Lebensformen virulent waren? Es gab ja damals eine in den 60er Jahren entstandene Kommunenbewegung, es gab Gruppen in verschiedensten Städten, die sich als sozialistische Lebensgemeinschaften verstanden haben. Ihr habt in bestimmten Punkten, an bestimmten Grenzen empfindliche Punkte berührt, wo alle ihre Probleme hatten.

HS: Ja, wir haben gewildert im linken Revier, und es sind wirklich sehr, sehr viele übergelaufen. Und diejenigen, die nicht wollten, die haben sich natürlich gewehrt, die haben Aggressionen bekommen, waren eifersüchtig, waren neidisch und haben natürlich schwache Punkte gesucht, damit sie nicht ihre Kollegen verlieren, die ja vor allem aus der Kommunebewegung gekommen sind. Wir haben uns ja aus der Studenten- und Kommunebewegung rekrutiert, und das ist gewachsen und gewachsen, und die Verbleibenden waren darauf angewiesen, eine Strategie dagegen zu entwickeln.

SB: Aber ihr hattet durchaus ein expansives Selbstverständnis, vermute ich, aufgrund der Idee, daß ihr über ein mögliches Gesellschaftsmodell verfügt. Ihr seid durchaus offensiv in vorhandene Gruppen oder Kommunen hineingegangen und habt die Leute in gewisser Weise agitiert.

HS: Agitiert, ja, absolut. Das war eine Konkurrenz mit den alteingesessenen linken Ideologen und Bewegungen.

SB: Dabei sind verschiedenste Gruppen, wenn ich mich recht entsinne, gespalten worden.

HS: Ja, die Leute wurden gespalten und getrennt. Ich glaube, sie waren mit Recht böse auf uns. Ich glaube heute, daß es ein Fehler war, daß wir so groß geworden sind.

SB: Daß Ihr so expansiv wart?

HS: Ja, viel zu expansiv, das heißt die Energien ständig nach außen zu tragen und sich, indem wir größer wurden, sozusagen zu beweisen, daß wir Erfolg haben und wir tolle Leute sind.

SB: Aber ging es nicht auch darum, wie wir eben gesagt haben, die Idee einer anderen Gesellschaft auf diese Weise voranzutreiben?

HS: Richtig.

SB: Da waren die Leute, nehme ich an, auch von der AAO überzeugt. Sie müssen es ja insofern gewesen sein, als sie die Entscheidung für sich selbst getroffen haben, in einer solchen Lebensform zu leben. Wenn du in der Rückschau sagst, daß es ein Fehler war, sich so sehr auszudehnen, hätte es deiner Vorstellung mehr entsprochen, sich auf ein kleineres und dafür lebensfähiges Modell zu beschränken?

HS: Ja, weil ich glaube, daß solche Modelle mit so vielen Leuten mehr oder weniger sehr, sehr schwer zu organisieren sind. Es muß kleiner sein, sonst entsteht eine Art Staat, es entsteht eine Organisationsstruktur, in der erst recht wieder bestimmte Entfremdungen eintreten, die nicht eintreten, wenn es nur 20 und nicht 700 Leute sind. In den Gruppen wie am Friedrichshof selbst als eine kleinere Gruppe hat es ohnehin gut funktioniert. Die haben sich gekannt, die haben sich auch geliebt, es sind nur Leute dort geblieben, die sich gemocht haben oder die geglaubt haben, daß das sehr wichtig ist und daß man eine gesellschaftliche Aufgabe hat.

SB: Würdest du sagen, daß es vielleicht eine soziale Grundeigenschaft des Menschen ist, daß er sich nur in einem begrenzten Kreis von 20, 30, 40, 50 Menschen gut organisieren kann?

HS: Ja, vor allem mit einem Gemeinschaftseigentum. Wenn man kein Gemeinschaftseigentum hat, dann hat jeder sein kleines Privateigentum und dann ist das sowieso wieder ganz anders gelöst. Die Leute haben ja für sich nichts gehabt, das Geld ist in einen großen gemeinsamen Topf geflossen, und die haben nicht ihr eigenes kleines Häuschen und einen Garten und was weiß ich gehabt.

SB: Die Idee der AAO war doch davon getragen, daß man in den 70er Jahren beanspruchte, nicht nur sozialistisch zu denken, sondern das auch praktisch zu verwirklichen. Eine Art gelebter Kommunismus mit eigener Ökonomie inmitten einer kapitalistischen Gesellschaft, wie hat sich diese Widerspruchslage für euch ausgewirkt?

HS: Da war erstens der Sektenvorwurf. Wir sind zurückgezuckt und haben dann schöpferische Lehrgänge gemacht, aber in den Gruppen wurde gar nicht mehr deklariert, daß das eigentlich die AAO war. Wenn man irgendwo im linken Umfeld AAO erwähnt hat "Ah ja, AAO, das sind die Faschisten", oder "Ist wurscht, mit denen wollen wir nichts mehr zu tun haben!" Wir haben uns zurückgezogen, das war ein Fehler, weil wir hätten uns auseinandersetzen müssen. Wir hätten uns stellen müssen, wir hätten ins Fernsehen gehen müssen. Wir hätten in die Medien, in die Zeitungen gehen müssen. Wir hätten politisch agieren müssen, aber wir haben immer dieses leicht schlechte Gewissen gehabt, daß da dieser eine sektiererische Zug der Fixierung auf eine große Autorität war. Das hat dem Ganzen eine Schlagkraft gegeben, das hat dem Ganzen eine Orientierung gegeben, der Lenin war sozusagen da, und wir haben deswegen Schuldgefühle gehabt, und der Lenin selbst hat sich nicht mehr gestellt.

SB: Das hättet ihr keinesfalls offensiv nach außen vertreten?

HS: Das wäre unmöglich gewesen, das war so gegen den Zeitgeist, das ist heute wieder anders. Das war so gegen die gesamte Ideologie und gegen alle Leute, mit denen wir gearbeitet haben, die unsere Hoffnung und unsere Chance waren. Das war einfach nicht zu vertreten. Wir haben es dann versucht mit dem Begriff "positive Autorität", aber das war zu euphemistisch.

SB: Wo du sagst, daß das heute anders ist - positive Führung ist essentielles Gedankengut kapitalistischer Managementdoktrin. Die Frage der Kompetenz, der Autorität, der Leistungsträger wird selektiv beantwortet. War die Identität Otto Mühls als positive Leitfigur allgemein akzeptiert, oder gab es Differenzen um diese Position?

HS: Eigentlich nicht. Er hat das gegründet, er war von der Lockerheit, von der Energie, von seiner Erfahrung her überzeugend. Er hat Leute angezogen, die um eine Generation jünger waren. Viele haben in den Verunsicherungen der 60er Jahre auch eine Orientierung gesucht. Sie waren froh, einen Halt zu haben in einer Person, die behauptet, sie wisse, wo es langgeht, und die es offensichtlich wirklich wußte. Der zweite Punkt ist der, daß wir alle Analysen gemacht haben, daß wir alle, wie man es heute nennen würde, infantil geworden sind, daß wir uns als Geschädigte, als Geschädigte auf dem Weg zur Gesundheit gesehen haben, und eine Autorität, die es weiß, das ist wie bei Sigmund Freud, muß da sein. Das war er.

Wir sind nie wirklich ganz aus dieser Analysesituation entlassen worden. Ich habe oft gegen Otto opponiert, ich bin aber gescheitert. Ich bin einfach nicht durchgekommen, und die Mehrheit oder alle waren für Otto, die haben das bei mir für eine neurotische Idee gehalten. Schließlich habe ich mir überlegen müssen, gehe ich oder bleibe ich? Anerkenne ich, daß er, was wir damals geglaubt haben, mehr Bewußtsein hat als ich, daß er einen größeren Weitblick hat als ich, daß er freier ist als ich, daß ich ihm gegenüber neurotischer bin, daß ich an mir mehr zu arbeiten habe als er an sich zu arbeiten hat, anerkenne ich das oder nicht. Wenn ich das nicht anerkenne, muß ich gehen. Und man geht nicht, wenn man sich als Avantgarde fühlt, man geht dann nicht.

SB: Noch einmal zum Konzept der Schädigung. Es beruht ja auf dem Modell, daß man in die Kindheit zurückkehrt, daß man psychische Traumata aufarbeitet, die sich körperlich niedergeschlagen haben, und über diesen Weg zu einer Art positiver Identität gelangt. Wie beurteilst du aus heutiger Sicht demgegenüber die Idee, Emanzipation sofort zu verwirklichen. Also aus dem Erleiden des Mangels oder der Not heraus zu sagen: Ich mache den Schritt sofort, ich möchte jetzt das ganze Leben leben, anstatt eine Perspektive auf Jahre hinaus zu haben. Sich direkt frei zu machen von einer Fessel, die im Zweifelsfall wieder projektiver Art wäre, wenn sie auf einen zukünftigen Stand der Befreiung hinarbeitet. Wie würdest du das aus heutiger Sicht sehen?

HS: Ich glaube, das kann man nicht allgemein sagen. Ich glaube, das hängt von den psychischen Strukturierungen des einzelnen ab. Ich kann mir vorstellen, daß jemand, der sehr neurotisch ist, tatsächlich eine Analyse braucht. Und ich muß noch etwas anderes hinzufügen: Damals hat intellektuell der Freudomarxismus geherrscht. Man kann sich, was wir gedacht haben und was wir gemacht haben, überhaupt nur aus diesem Sog der 60er Jahre, aus dieser Befreiungsideologie erklären. Wir sind Zeitpartikel, wir sind in Wirklichkeit angefüllt mit Zeit. Wir sind auch jetzt mit unserer Zeit angefüllt, auch wenn wir dem kritisch gegenüber stehen, du bist mit den Inhalten voll. Und wenn einer halbwegs intellektuell auf der Höhe der Zeit ist, so schließt er sich jenen Ideen an, von denen er glaubt, es sind jetzt die fortschrittlichen.

Und er hält sich an die. Damals war die fortschrittlichste Idee zweifellos der Freudomarxismus. Freud und Reich sagen aber: Du mußt Analyse machen, damit du gesund wirst. Ich würde sogar sagen: Der Schritt zurück ist in Wirklichkeit der Schritt nach vorn. Allerdings stehe ich heute der Psychoanalyse sehr viel reservierter gegenüber. Ich würde nicht unbedingt jemandem empfehlen, eine Psychoanalyse zu machen, sich jahrelang auf die Couch zu legen. Wir haben ja auch nicht gewußt, wie lange das dauert. Manche haben ja schon geglaubt, sie sind durch. Ich habe einen Artikel in den AA-Nachrichten geschrieben "Wie ich es geschafft habe". Daß ich es in Wirklichkeit gar nicht geschafft hatte, habe ich ja nicht gewußt (lacht).

SB: Aber ihr hattet durchaus die Auffassung, daß die Lebenspraxis die Möglichkeiten eine solchen Identitätsbildung beschleunigt?

HS: Ja.

SB: Eine Kritik an der Psychoanalyse von links lautet ja, daß sich inmitten einer entfremdeten Welt im Grunde kein Leben führen läßt, das nicht entfremdet wäre.

HS: Im großen ganzen Falschen gibt es kein richtiges Leben.

SB: Ihr seid ja damals von dieser Idee, die ihr als "geilen Sozialismus" bezeichnet habt, irgendwann ziemlich schlagartig auf die andere Seite umgeschwenkt. Das wurde dann als "geiler Kapitalismus" propagiert. Habt ihr das mehr als eine Spielerei mit Ideologie betrachtet, oder war das für euch eine programmatische Geschichte, die ernst gemeint war?

HS: Auf diesen Punkt hat sich unsere Selbstidentität fokussiert. Das war durchaus ernst gemeint, wir haben uns als "geilen Sozialismus" gesehen.

SB: Aber der Schwenk in den Kapitalismus, in den Gegenpart?

HS: Der ist ja aus ganz anderen Gründen gekommen. Es hat sich plötzlich herausgestellt, daß es kein Geld mehr gibt. Wir hatten eine gemeinsam betriebene Ökonomie, wir hatten Läden und ein Fuhrunternehmen und so weiter, eine Art Undergroundwirtschaft. Dann sind Kinder gekommen, es sind immer mehr Leute eingezogen, plötzlich haben dann diejenigen, die die Ökonomie überblickt haben, Alarm geschlagen: Wir können unsere Ausgaben nicht mehr decken! Wir müssen etwas machen! Vorher haben wir zum Teil davon gelebt, daß diejenigen, die einziehen und auch nicht eben reich waren, ihre Sachen eingebracht haben. Das ist dann weggefallen. Was können wir tun? Wir müssen in die Kleinfamilie arbeiten gehen. Daß wir dann so tüchtig wurden und auf dem Finanzsektor gearbeitet haben, hat sich daraus entwickelt, daß viele wieder studiert haben und das sogenannte BAföG bekommen haben. Manche sind als Lehrer in ihre angestammten Berufe zurückgegangen. Andere sind in den Arztberuf zurückgegangen. Und manche haben gesagt: Wir gehen auf den Finanzsektor. Sie sind dann irgendwie an Versicherungen geraten und, siehe da, plötzlich hatten sie irrsinnigen Erfolg.

Geniale Verkäufer, die vorher in der Struktur ganz unten waren, weil sie aus vielen Gründen, natürlich ungerechten Gründen und teilweise gerechten Gründen - es ging um andere Ideen, um Emotionalität, um Kommunikation, um Geilheit und Frische - waren aber in dieser Kleinfamilienökonomie ganz tolle Verkäufer. Und die haben natürlich die anderen angesaugt und angezogen, so daß bestimmte Versicherungsagenturen zu einem Großteil nurmehr aus Kommunarden bestanden. Da ist dann plötzlich zu unserer eigenen Überraschung sehr viel Geld hereingekommen. Wir haben uns umgestellt, du konntest natürlich nicht mehr mit Glatze als Versicherungsmann oder als Finanzbetreuer auftreten, das geht heute vielleicht, aber damals ist das nicht gegangen.

Wir haben gelacht über Kleinfamilienfrisuren, so ganz normale, natürlich waren die dann auch normal gekleidet, und es ist dann diese Doppelschiene entstanden, einerseits Arbeiten in der Kleinfamilie und Urlaub am Friedrichshof, dem Zentrum, und die Kinder sind auch zentriert am Friedrichshof. Dort ist dann eine eigene Schule aufgemacht worden, wir haben auch das Öffentlichkeitsrecht gehabt und teilweise sehr gute Pädagogik gemacht. Die meisten Leute waren in den Gruppen, sie wurden von einem Gruppenleiter angeleitet, der dann alle drei Wochen oder alle paar Monate gewechselt hat, und haben Geld verdient und in der Gesellschaft gearbeitet. Da ist dann der sogenannte Konzern entstanden. Ich kann mich noch an einen Spruch von Otto erinnern: "Die Gesellschaft erkennt nicht an, was wir machen und was wir leisten. Jetzt verdienen wir viel Geld, jetzt überholen wir sie auf dem finanziellen Sektor und dann werden sie schauen, wer wir sind!" Das ist tatsächlich eingetreten. Plötzlich sind die Politiker gekommen, und wir waren eigentlich sehr, sehr gut vernetzt in Österreich. Erstaunlich.

SB: Ihr habt dann, könnte man fast sagen, die Avantgarde des neoliberalen Finanzkapitalismus in eurer Geschäftstätigkeit praktiziert?

HS: In der Geschäftstätigkeit, ja. Ich glaube, daß sich an unserer Organisation heute noch viele Firmen etwas abschauen könnten. Wir waren einfach viel besser organisiert. Wir haben jeden Kunden besprochen, es hat jeden Tag Besprechungen gegeben. Ich war dann auch ein Weilchen in einer Gruppe. Ich war immer Pädagoge. Eigentlich habe ich die Wirtschaft sowieso für etwas Kriminelles gehalten, ich bin Bergmannssohn, ich bin ganz arm aufgewachsen. Die Wirtschaftstreibenden waren irgendwelche entfernte Großkriminelle, die die Leute immer ausbeuten und ausräumen und Schweine sind. Ich habe mich nicht einmal anzurufen getraut am Anfang. Aber ich bin dann durch viel Schulung ein versierter Verkäufer geworden. Viele Sekten sind natürlich wirtschaftlich sehr gut, weil sie ganz anders zusammenarbeiten. Es bröselt nicht so viel Sand im Getriebe, wenn die gemeinsame Idee, die in einer Firma vielleicht nur von den Oberen, die schwer miteinander konkurrieren, vertreten wird.

SB: Nach dem, was ihr in der Analyse und der Selbstdarstellung gelernt habt, die, wenn ich das recht entsinne, als eine Art Kunstform verstanden wurde, mit der man sich von den Projektionen, die einen bedingen, lösen konnte, um sie selbst zu kontrollieren, habt ihr vermutlich gedacht, daß ihr die Leute im Verkaufsgespräch praktisch am Band führen könnt?

HS: Das ist richtig, ja. Wir haben gruppendynamisch sehr viel gelernt und gewußt, wie man am besten mit Chefs, mit großen Tieren umgeht. Wie man trotzdem locker sein kann und nicht so steif und einen guten Eindruck hinterläßt und sich gruppendynamisch mit den richtigen Gesten der Unterwerfung und eines leisen Humors präsentiert.

SB: Wie hat sich der äußere Erfolg auf das Gruppenleben ausgewirkt?

HS: Ich bin heute der Ansicht, daß es sich schlecht ausgewirkt hat. Natürlich hat es sich einerseits gut ausgewirkt, wir haben plötzlich besser gegessen, wir waren plötzlich besser gekleidet, am Friedrichshof wurde einiges aufgebaut. Allerdings wurden nun die Kriterien, die vorher für die Struktur gegolten haben, ausgehöhlt. Das waren vorher künstlerische Kriterien, wie gut man in der Kommunikation ist, wie man im Bett ist, wie schöpferisch man ist, wie locker man ist, wie gut man malen und zeichnen kann, wie gut man tanzen kann, vor allem ob man in der Selbstdarstellung gut ist, denn das war das öffentliche Präsentieren, wer man ist und ob man sich in die Mitte traut oder nicht, das waren ungefähr die Kriterien. Plötzlich sind die Kriterien unterlaufen worden, weil einige Verkäufer sehr viel verdient haben.

Damit die nicht davonlaufen, muß man ihnen einen Strukturplatz zuweisen, der ihnen eventuell zwar in der Wirtschaft zustünde, aber nicht nach unseren alten Kriterien. Die alten Kriterien wurden unterlaufen, und ich weiß es noch sehr gut, plötzlich waren Leute über mir, die vorher, als noch keine wirtschaftliche Kriterien galten, immer unter mir waren. Und die nicht unbedingt in der Kommunikation oder in der Menschenführung besser gewesen sind, aber sie haben sehr gut verkauft. Das war natürlich für sie eine große Chance, aber es hat das Wort vom "hofieren" gegeben. Die Leute, die in der Führung waren, haben gesagt "naja, wir werden die hofieren, weil was ist, wenn die ausziehen? Dann geht gleich irrsinnig viel Geld weg, wir müssen denen noch etwas zahlen", und natürlich kam immer: "Die sind besonders gefährdet, daß sie ausziehen. Wir müssen besonders nett mit ihnen umgehen".

SB: Weil die gesellschaftlichen Angebote für sie entsprechend gut waren.

HS: Weil die gesellschaftlichen Angebote bestanden. Wenn jetzt die Großverdiener, wie wir sie genannt haben, alle ausziehen, dann sitzt Otto mit den Kindern und den Frauen am Friedrichshof und "keine Geld, keine Musik", wie der Österreicher sagt (lacht).

SB: Ihr habt, wenn man so will, eigentlich das vorvollzogen, was sich mit der sogenannten Wende vom Realsozialismus zum Kapitalismus ereignet hat. Die beanspruchte Gleichheit der Lebensbedingungen wurde kapitalisiert, und mit dem Auswachsen der sozialen Unterschiede wurden die Verhältnisse zwischen den Menschen stärker vom Materiellen, vom Einkommen, vom Lebensstandard dominiert, was letztlich die Vereinzelung der Konkurrenzgesellschaft begünstigt hat. Daraus ergibt sich eben auch, daß man auf den anderen Rücksicht nimmt, ihm nicht offen seine Meinung sagt, weil man befürchtet, ihn zu vergraulen.

HS: Das war der Fall, man konnte einiges nicht sagen, dann wäre er wirklich vergrault gewesen.

SB: Habt ihr das im Verhältnis zu euren urspünglichen Absichten reflektiert? Schließlich ist das Thema Gemeinschaftseigentum für euch immer relevant gewesen, soweit ich weiß?

HS: Das Gemeinschaftseigentum hat es sowieso weiterhin gegeben. Das Gemeinschaftseigentum ist nicht angezweifelt worden. Es wurde zwar ganz kurz Privateigentum eingeführt, aber in Wirklichkeit hat es immer Gemeinschaftseigentum gegeben.

SB: Gab es Leute, die sich dennoch benachteiligt gefühlt haben?

HS: Weil es so viele Leute waren, hat sich langsam so etwas wie eine - vielleicht klingt das ein bißchen zu hart - so etwas wie eine Klassengesellschaft herausgebildet. Da waren einerseits die Pädagogen, das waren die Führenden. Ob ihre Qualifikation zutrifft oder nicht, das waren die offiziell Anerkannten. Sie wurden natürlich immer gewählt und haben die Gruppen geleitet. Dann hat es die Gruppenmitglieder gegeben, also eine erste Gruppe, eine zweite Gruppe und dann sogar eine dritte Gruppe. Es hat dann auch bestimmte materielle Ungleichheiten gegeben. Es wurde ein Haus gebaut, es können nicht alle in dieses Haus einziehen. Wer wohnt jetzt in diesem Haus, wer wohnt in diesen Zimmern? Natürlich wohnen die dort, die in der Struktur oben sind. Es konnte zwar passieren, daß einer raus mußte, weil ein anderer hochgekommen ist, aber es gab schon materielle Ungleichheiten. Im übrigen hatten die Frauen häufig eigene Zimmer, während die Männer wandern mußten.

SB: Waren diese Privilegien in eurem Sinne mit der sozialen Kompetenz des einzelnen verknüpft?

HS: Das hat sich in Wirklichkeit aus dem Wachstum unserer Gesellschaft entwickelt. Wie gesagt, was ist, wenn eine schöne Wohnung da ist, wer zieht ein? Natürlich kriegt der andere, der nicht einziehen darf, vielleicht einen Haß.

SB: Wie seid ihr mit diesem Problem der Konkurrenz dann umgegangen? In den Frühzeiten, würde ich vermuten, wurde Konkurrenz als eine Form gesellschaftlicher oder familiärer Schädigung betrachtet.

HS: Das wurde nicht so betrachtet.

SB: Es ist überhaupt nicht negativ bewertet worden?

HS: Konkurrenz ist aufgetreten. Konkurrenz ist eine Tatsache des Lebens. Wenn es viele Leute sind, dann prallen immer ungefähr gleich starke Personen oder welche, die sich gleich stark wähnen, aufeinander. Wir haben uns als Gesamtes geschädigt gefühlt, und wenn einer dauernd Konkurrenz gemacht hat gegen einen, der weit angesehener war, und er war überhaupt nicht angesehen, dann ist das als Schädigung gedeutet worden. Aber prinzipiell wurde die Konkurrenz sogar gefördert. Wenn du sie unterdrückst, dann verkrüppelst du dich noch mehr. Wenn du die Konkurrenz gestaltest und auslebst, und zwar dort auslebst, wo sie ausgelebt gehört, wenn es um die Struktur gegangen ist, und nicht in der Firma oder in der Zusammenarbeit mit Leuten, das wurde dann natürlich negativ gesehen: "Ja, die hat dauernd Konkurrenz. Der kommt dann in der nächsten Struktur herunter, weil alle über ihn schimpfen. Er ist unerträglich, er hat dauernd Konkurrenz, also wird er heruntergewählt werden".

SB: Dann habt ihr Konkurrenz als eine Art anthropologische Voraussetzung verstanden?

HS: Ich glaube jetzt auch, daß Konkurrenz immer und sicher eine anthropologische Voraussetzung ist. Ganz klar. Schau' dir den Sport an, schau' dir die Firmen an. Es ist auch nicht auszuschalten. Es macht auch nichts. Ich glaube auch, es gibt eine positive Konkurrenz, und es gibt eine unfruchtbare, eine negative Konkurrenz. Womit ich nicht sage, daß es nur Konkurrenz gibt. Aber Konkurrenz existiert. Sperr eine Gruppe von sechs Leuten zwei Stunden in ein Zimmer ein, und du hast bereits eine Struktur von oben bis nach unten. Und der untere hat Konkurrenz zum nächsten und der nächste zum nächsten und der zweite hat Konkurrenz zum ersten. Aber ich möchte das nicht ontologisieren. Ich möchte nicht sagen, daß das immer und immer und ewig so sein muß. Das ist wichtig. Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, daß es historisch so ist und daß es naheliegend ist. Solange wir so nahe zum Tier sind - man braucht sich nur eine Affenhorde anschauen, wie da die Konkurrenz geregelt wird -, wird das Konkurrenzproblem bestehen. Es hat ja auch eine fruchtbare Seite, es regt ja auch an, gut zu werden. Es ist nicht nur negativ.

SB: Um noch einmal auf die Selbstdarstellung zu sprechen zu kommen - war das eine Art von Gruppentreffen, bei der sich der einzelne der Gruppe gegenüber präsentiert, in seiner kreativen Gestaltung und sozialen Kommunikation entwickelt hat?

HS: Das war ein kreativer Gestaltungswettbewerb im Rahmen eines Kollektivs. Die Selbstdarstellung ist aus der Therapie entstanden. Zuerst waren es Einzeltherapien, dann kam die Frage auf, was machen wir am Abend? Wir treffen uns alle. Es können nicht 30 Leute miteinander kommunizieren, aber wir wollten uns trotzdem alle treffen, sonst zerfällt das Ganze. Wenn dann jeder wieder macht, was er will, braucht man nicht in einer Gruppe zu leben.

Da hat sich eine Art Ritual entwickelt. Wir haben einmal einen Film gesehen, da hat ein Stamm in Afrika oder in Neuguinea das so durchgeführt. Wenn jemand krank war, hat sich der Stamm oder die Großfamilie mit Trommeln und Gesang um ihn versammelt und er wurde aufgefordert, seine Probleme auszuagieren. Ungefähr so hat das auch bei uns angefangen. Es hat Leute gegeben, die haben Depressionen gekriegt, die haben tagsüber auf dem Hochbett gelegen, das wurde dem Otto gesagt: "Weißt du, dem und dem geht es schlecht. Wir müssen was machen." Trommeln her, dann haben sich die Leute versammelt, dann haben sie zu trommeln angefangen, und der ist dann gebeten worden, statt in Einzelanalyse zu schreien, in der Mitte einen Wutausbruch zu kriegen oder seine Emotion zu zeigen oder depressiv herumzugehen oder zu weinen oder zu imponieren. Und daraus hat sich das entwickelt. Die Abendgestaltung hat daraus bestanden, daß jeden Abend Selbstdarstellung gemacht wurde. Die Gruppe hat sich jeden Abend getroffen, und mit Musik, mit Klavierspiel und Trommeln und Flöten und Trompeten und Pauken wurde ein Ekstasefest abgehalten.

SB: Hat dieses Ritual sehr großen Einfluß auf das Gruppenleben gehabt?

HS: Ja, weil es immer, wenn so viele Leute zusammen sind, Spannungen gibt. Es gibt immer Verletzungen. Es gibt immer Kränkungen, irgendeiner hat einen beleidigt. Man arbeitet miteinander, man schluckt es, und am Abend hat man das, zuerst therapeutisch, alles herausgelassen. Der therapeutische Aspekt hat sich modifiziert, weil wie läßt man es heraus? Wie zeigt man das, es soll ja Unterhaltung sein, es soll die Leute ja berauschen, es soll sie in Ekstase versetzen. Es soll eigentlich eine wirklich kollektive Ekstase entstehen, denn dann sind alle glücklich.

Am Anfang war das sehr schwierig, man hat irrsinnige Angst, in die Mitte zu gehen, sich zu blamieren, man fürchtet sich, es fällt einem nichts ein, dann ist man erst recht blockiert. Das hat sich natürlich auf die Beliebtheit der Leute ausgewirkt. Wer in der Selbstdarstellung gut war, wer die Leute begeistern konnte, der wurde, ob Frau oder Mann, sexuell umworben. Jeder wollte einen tollen Sexualpartner, der sich gerade gut fühlt. Das hat sich bis in die Sexualität und am Schluß bis in die Struktur hinein entwickelt. Wenn der Gruppe nicht klar war, soll sie den Andy hochwählen oder soll sie den Rudi hochwählen, dann sind beide in die Mitte gerufen worden und haben eine sogenannte Konkurrenzdarstellung gemacht. Da ist es natürlich darauf angekommen, wer die Lacher auf seiner Seite gehabt hat. Der Konkurrent hat dann gespürt, der triumphiert über mich. Diesmal habe ich verloren, schade.

SB: Wie würdest du diese Art von Regulation der Konkurrenz im Rückblick betrachten? Könntest du dir vorstellen, daß die Gruppe ohne ein solches Regulativ überhaupt dauerhafte Existenz gehabt hätte oder wäre das früher gescheitert?

HS: Ich habe mir das nicht vorstellen können. Das ist auch möglich, sicher, es hat ja viele Gruppen gegeben, aber ich glaube, das es ein wichtiger energetischer Ausgleich war. Es war wichtig für die Entfaltung der Energie des Ganzen, daß am Abend die Frustrationen in positive Energie umgewandelt wurden. Daß man, wenn man tagsüber eine mindere Rolle gespielt hat, weil man in der Arbeitsorganisation nichts gekonnt hat, das am Abend kompensieren konnte, indem man einen tollen Tanz hingelegt hat und alle haben Beifall geklatscht. Er war plötzlich sexuell begehrt, und das sexuelle Begehren war unabhängig von seinem Alltagsstrukturplatz.

SB: Um auf Otto Mühl zu sprechen zu kommen - er war in der Hierarchie dauerhaft die Nummer eins?

HS: Ja.

SB: Jetzt einmal vom Ende aus gesehen, als das Ganze relativ schnell zusammengefallen ist - hat sich etwas in seiner Position verselbständigt oder haben sich rigide Strukturen herausgebildet, die nicht mehr durch die Frage der sozialen Kompetenz überprüfbar waren? Hat sich das Autoritäre wider die Idee einer flexiblen Rangfolge durchgesetzt? Wenn jemand immer unangefochten an der Spitze steht, begehren sicherlich einige auch dagegen auf.

HS: Natürlich hat es Unzufriedene gegeben beziehungsweise Leute, die anderer Meinung waren. Normalerweise wurde dann geredet und diskutiert. Viele, die Einwände hatten, haben, weil sie aufgrund ihres Narzißmus und aufgrund der Qualitäten der Kommune trotzdem sehr gebunden waren, bei Nacht und Nebel die Flucht ergriffen. Sie haben sich nur lösen können, indem sie einfach still abgehauen sind. Oder sie sind in die Gruppe gefahren und sind in der Gruppe nicht angekommen. Das heißt, es haben sich nicht sehr viele offiziell verabschiedet, sondern sie sind einfach ausgezogen. Natürlich war die Kritiklosigkeit, mit der Otto das so lange geführt hat, sehr schlecht.

Man weiß ja, wie Leute werden, wenn sie eine Firma führen. Man hat ihn ja kritisieren können. Wenn er kritisiert wurde, hat er entweder den Kritiker besiegt und der Kritiker hat gesagt, ich bleibe trotzdem, ich habe mich getäuscht, oder der Kritiker ist ausgezogen. Ich glaube, ein Dauersieger wie der Otto entwickelt automatisch eine Hybris. Er hebt ab. Daß er als Künstler großen Erfolg gehabt hat, daß er als Künstler einen Tabubruch, das heißt einen Mord an der Gesellschaft begangen hat und Sieger war, das hat ihn automatisch zu der Auffassung verleitet, er müsse immer Sieger sein und er wäre immer Sieger. Weil er sich selbst als durch den Aktionismus gereinigt betrachtet hat. Er hat seine Analyse bereits im Aktionismus erledigt. Was nicht stimmte, weil natürlich Prägungen existieren. In einer bestimmten Weise gehört der Otto sicher einer Generation an, die in der Kindheit von den dreißiger Jahren und von einer unendlichen Autorität geprägt wurde, die dann noch die Jahre Hitlers und dieses Reich durchlaufen mußte, das heißt mit einem sehr großen Autoritarismus aufgewachsen ist. Ich glaube, daß er das Problem nicht gelöst hat.

SB: Ist es nicht innerhalb der Gruppe zu der Überlegung gekommen, ob es überhaupt zwischen Menschen darum gehen kann, daß der eine siegt und der andere verliert? Ist das niemals in Frage gestellt worden?

HS: Das ist leider nicht in Frage gestellt worden. Es hat eine Ideologie des Siegens geherrscht. Es wurde später sozialanthropologisch und ethnologisch untermauert, aber es hat, glaube ich, zu sehr eine Ideologie der Konkurrenz und des Siegens geherrscht. Das wurde auf jeden Fall forciert. Was den Vorteil hat, daß die Leute natürlich viel Energie gehabt haben, weil sie sich ständig messen mußten. Was aber den Nachteil hat, daß jene feineren psychischen Schwingungen schon während der Zeit, in der wir Analyse gemacht haben, zu kurz gekommen sind. Das heißt, daß Trauer und Depression nicht ausagiert wurden und es zu wenig thematisiert wurde, daß dieses energetische Moment des Aktionskünstlers Otto Mühl, der es wirklich versteht, seine Probleme in Energie und Destruktion und Kunst umzusetzen, als Modell gedient hat, das kann natürlich nicht für alle gut sein.

SB: Das betrifft auch den Konflikt zwischen der AAO der 70er Jahre und der Linken. Der Antagonismus zwischen der Positionierung zu Gunsten von schwachen, unterlegenen, unterdrückten und ausgebeuteten Menschen und auf der anderen Seite für Erfolg, für Leistung ist ja ein inhaltlicher Widerspruch.

HS: Ja, aber in Wirklichkeit sind gerade nicht die Starken eingezogen. Wer stark ist, zieht nicht dort ein, wo ein noch stärkerer ist. Wer stark ist, macht seine eigene Sache. In Wirklichkeit sind eher Intellektuelle und Studenten eingezogen, aber es sind sicher nicht die Starken eingezogen. Obwohl es natürlich Starke gegeben hat, wie sich nach der Kommune herausgestellt hat, aber in der Regel waren es nicht die Stärksten. Es sind zum Beispiel keine bedeutenden Künstler eingezogen, obwohl der Otto sie eingeladen hat. Sie wollten sich nicht einem beugen, der sowieso schon das Sagen hat, sie hatten ihre eigene Sache gehabt. Es sind sicher Leute eingezogen, die sich noch nicht gefunden hatten, das ist auch nicht verwunderlich, weil es sind hauptsächlich Leute von 14 bis 25 eingezogen. Es sind ja lauter junge Leute eingezogen, die vom Schwung und vom revolutionären Wind der 60er Jahre ganz einfach hinein geweht wurden.

SB: Wo würdest du die Hauptgründe für das Scheitern des Experiments ansiedeln?

HS: Es sind viele. Zuerst einmal hat der große Wurf, die große Vision nicht mehr bestanden. Die große Vision der Befreiung ist immer mehr in den Hintergrund getreten. Die Ideale sind immer mehr von der Wirklichkeit geschluckt worden. Es hat wenig Bewegungen in den Gruppen gegeben, es hat sich eine bestimmte Führung etabliert, die zwar immer wieder ausgewechselt wurde, und manchmal wurde, um der Lebendigkeit willen, einer von ganz unten nach ganz oben als erster in der Gruppe gewählt. Die allgemeine Ideologie ist sozusagen erodiert.

Der zweite Grund war sicher, daß die Leute, die jetzt 40 wurden und die relativ tüchtig gewesen sind, die auch teilweise sehr viel Geld verdient haben, sich nicht mehr so sehr einer Autorität beugen wollten wie mit 20. Sie haben auch gespürt, daß sie selber etwas machen können.

Der dritte Grund bestand darin, daß eine Art monarchistisches System, über das sich viele Leute geärgert haben, entstanden ist. Das war mit Otto und seiner Frau Claudia an der Spitze. Es wurde sogar ein Kind von ihnen als Nachfolger aufgebaut. Das ist vielen viel zu weit gegangen. Außerdem hatten sie geheiratet und damit das oberste Tabu, nämlich die Freiheit selber, verletzt. Und ich glaube, der Hauptpunkt hat darin bestanden, daß der Otto - deswegen ist es auch so schnell zersplittert - angeklagt wurde wegen der Übergriffe auf die Mädchen,

SB: Auf Minderjährige.

HS: auf die Minderjährigen, daß er mit denen geschlafen hat, ja. Da war dann schon sehr viel Unruhe. Auf die Frage wirst du noch kommen: Wieso hat Otto das gemacht? Wo er doch riskiert, daß das Ganze zerfällt. Ich glaube, daß war einerseits der Hang, Tabus zu übertreten, zweitens natürlich der alte Verdacht, den alle 68er gehabt haben, daß alle sexuellen Verbote in Wirklichkeit zu hinterfragen sind und in Wirklichkeit Sexualunterdrückung bedeuten. Einen Aktionisten, der gewohnt ist, Sieger zu sein und Tabus zu überschreiten, lockte dieses Tabu, mit den jungen Mädchen Sexualität zu haben. Das hat alles zusammengespielt, so daß er angeklagt und nach einer sehr schnellen Verhandlung eingesperrt wurde.

Die Kommune ist dann sehr schnell, noch bevor er im Gefängnis war, auseinandergebrochen. Es wurde schon die Frage aufgeworfen, was man nun macht. Nachher hat sich noch herausgestellt, daß im Zentrum am Friedrichshof viel zu viel Geld ausgegeben wurde, daß wirtschaftlich unsinnige Dinge gemacht wurden und daß in Wirklichkeit schon sehr viel Konkurrenz auch oben zwischen den Leuten geherrscht hat. Dann gab es Phasen, in denen wurde Perestroika und Glasnost propagiert. Einige wurden gestürzt und andere eingesetzt. Das Ganze ist in Machtkämpfen zersplittert.

SB: Dann kamen sicherlich viele Leute im nachhinein zu dem Schluß, daß es doch nicht so gut war?

HS: Das sage ich auch, aber wegen mir wäre es nicht zerbrochen. Ich würde jetzt auch noch in der Kommune leben, trotz allem, trotz meiner Erkenntnis.

Ich glaube übrigens, daß es einen sogenannten Blendungsfaktor gab, dem der Otto erlegen ist. Er hat die Mädchen natürlich besonders gefördert. Sie haben Instrumente gelernt, sie durften immer auftreten und sie haben ihm vorgespielt, sie lieben ihn, und vielleicht haben sie ihn auch geliebt, aber später sicher nicht mehr. Ich glaube, er ist auf dieses Spiel total hereingefallen, er glaubte, sie mögen ihn, sie lieben ihn wirklich. Er hat zur Selbstrationalisierung gemeint, damit die Mädchen nicht diese langen Wege über die Zweierbeziehung durchmachen müssen und diese ganzen Enttäuschungen und Freuden, um dann erst recht sehr spät überhaupt zur freien Sexualität zu kommen, müsse er die Mädchen in die Sexualität einführen. Was natürlich Unfug war. Ich vermute, daß ihm das jetzt, obwohl er ein Mensch ist, der sehr schwer etwas einsieht, sogar bewußt ist, daß er den Mädchen die Freiheit hätte lassen müssen, selbst zu bestimmen, mit wem sie Sexualität haben und wie sie das machen wollen. Das war ein eindeutiges Ergebnis einer übertriebenen Autorität.

SB: Um es platt zu sagen: Ein Herrscher braucht immer auch Beherrschte, und die Beherrschten haben eigene Interessen an der Herrschaft des anderen. Wie hat sich das gruppendynamisch geäußert, daß Otto Mühl in seiner Position nicht wirksamer angefochten wurde? Wie ist es dazu gekommen, daß die Leute das dauerhaft mitgemacht haben?

HS: Jede Gesellschaft braucht entweder eine Ideologie oder eine herausragende Figur, mit der sich die Leute identifizieren können. Weshalb es die Leute lebenswert finden, weil diese Figur da ist. Das ist einfach eine anthropologische Konstante. Ich erinnere an Nelson Mandela, der wird wie ein Heiliger - war in Südafrika - gefeiert, mit Recht. Aber natürlich hält er in Wirklichkeit sehr viele Konflikte zusammen. Das weiß man. Und so war es auch bei Otto, alle wollten Otto werden, das große Versprechen war, daß man eben die Chance hat, ein gesunder und ein toller Mensch zu werden. Ich hatte ganz bewußt aufgegeben, ihn zu kritisieren: "Ich komme ohnehin nicht durch, ich verschlechtere nur meine Position, wenn ich lange herummeckere, weil die anderen sagen: Ja, der ist negativ, der liebt uns nicht, der meckert herum, der ist abgehoben!" Ich habe dann eines Tages gedacht: "Ich höre auf mit der Kritik! Ich sehe ab jetzt alles nur mehr positiv". Und ich muß sagen, es ist mir tatsächlich besser gegangen, denn es geht einem nicht gut, wenn man in einer Umwelt ist, der man negativ gegenübersteht.

SB: Die Idee der Kommune war ja eine der positiven Identität.

HS: Genau, das ist richtig.

SB: Daß sich diese positive Identität in autoritären Strukturen nicht verwirklichen läßt, war dann vielleicht auch der ungenügenden Reflexion dieses Problems geschuldet. So wird heute unter häufig elenden materiellen Bedingungen auf einen oberflächlichen Freiheitsbegriff abgehoben, der vor allem neoliberal determiniert ist.

HS: Ja. Aber es gibt außer dem neoliberalen Freiheitsbegriff, genauso wie es ein Bindungsbedürfnis gibt, tatsächlich auch ein Freiheitsbedürfnis, und ein Selbstbestimmungsbedürfnis. Genauso wie es ein Anlehnungsbedürfnis gibt und ein Selbstaufgabebedürfnis. Ich würde sogar von einem Unterordnungsbedürfnis sprechen. Wenn ich jemanden habe, gegen den ich nicht ankomme, muß ich lernen, mich unterzuordnen, wenn es sonst keine Chance gibt. Was bei uns nicht gefördert wurde außer ein paar Versuchen, war der Mut zur Demokratie. Wirkliche Demokratie hätte natürlich den Zerfall des Ganzen in verschiedene, einander bekämpfende Lager bedeutet. Deswegen wurden Zweierbeziehungen nur in ganz wenigen Ausnahmen geduldet als sogenannte therapeutische Zweierbeziehung.

SB: Das betrifft auch deine vorherige Aussage, daß ihr zu groß geworden seid. Würdest du sagen, daß die Fragmentierung schon in der größeren Institutionalisierung der Kommune angelegt gewesen ist?

HS: Ja. Erstaunlicherweise haben die Gruppen in den Städten gut funktioniert. Die haben miteinander gearbeitet, haben miteinander gelebt und eigentlich ist das relativ gut gegangen. Ich glaube, die Leute hatten dann, als sozusagen der Obersignifikant Otto ins Kriminal geschlittert ist, gesagt: "So, es reicht jetzt! Wir haben es lang genug gemacht". Wir waren nach 20 Jahren natürlich tief geprägt. Viele haben all ihre Energien hineingegeben und waren total begeistert, aber es will niemand zurück.

Herbert Stumpfl

SB: Gab es denn eine Kontinuität, die 20 Jahre lang währte? Gab es einen relativ stabilen Stamm von Personen?

HS: Einmal hat es einen relativ großen Austausch in der Führung gegeben, dem auch ich dann zum Opfer gefallen bin. Da wurden ganz einfach die Alten, die irgendwie kritischer sind, verdrängt. Ich beispielsweise war der erste, der in die Kommune eingezogen ist, und habe den Otto schon vorher von den Aktionen her gekannt. Ich war zwar kein Aktionist, aber ich war Mitspieler und habe auch ein paar Ideen eingebracht. Ich war eigentlich befreundet mit ihm, ich habe ihn gemocht, habe ihn geliebt, weil er ein toller Typ war, ich habe ihn einfach bewundert.

Es hat noch andere gegeben, die so alt waren wie ich und die den Otto auch von früher gekannt haben. Die sind alle auf einmal eingezogen und waren in der Führung. Die Autorität Ottos hat immer bestanden, aber sie war zuerst mehr eine sehr sozial eingebundene Autorität, ich würde sogar fast von einer Art Kumpel- oder Stammesführerautorität sprechen. Ungefähr 1980, als unsere Wirtschaft zusammengebrochen ist und alle in der Kleinfamilie arbeiten gegangen sind, war Otto plötzlich derjenige, der das Ganze zusammengehalten hat. Die Selbstdarstellungen wurden in Trancen ungewandelt. Er war dann plötzlich ein unbestrittener Führer, der er zwar vorher auch war, aber plötzlich in einer ganz anderen Funktion.

SB: Worum handelte es sich bei den Trancen?

HS: Etwa so, wie es sie heute überall gibt, Phantasiespiele mit geschlossenen Augen und Hypnose, es war einfach eine Phase der Hypnose. Aber dann hat Otto eine unendliche Autorität aufgebaut, plötzlich mußten wir vor ihm umfallen. Plötzlich war die Selbstdarstellung nicht mehr so, daß ich entscheide, wann ich in die Mitte springe. Ich übertreibe jetzt, das hat es weiterhin bis zum Schluß gegeben, aber es war trotzdem mehr so, der Otto holt sich jemanden, mit dem er spielt. Es hat sich dann in ganz andere Formen verwandelt, so daß die ursprüngliche Selbstdarstellung, die vielleicht sowieso ausgelaugt war, nicht mehr bestand. Es wurde zwar aufgetreten, aber man hat sich als Tänzer oder etwas anderes vorbereitet. Plötzlich haben die Leute, ich kann mich noch gut erinnern, alle große Bücher gehabt und mitgeschrieben, was er gesagt hat. Das hat es vorher alles nicht gegeben. Ich habe einen irrsinnigen Widerstand gekriegt, plötzlich der kleine Schüler zu werden, und er hat das gespürt. Dann hat es einen großen Umbruch gegeben. Da hat es spaßeshalber geheißen "die Jagd auf die alten Hasen", weil die tatsächlich nicht so unbeschränkt positiv waren wie die, die von unten hochgekommen sind.

SB: Es gab also einige Leute, die die ganze Zeit von Anfang bis Ende in der Gruppe waren?

HS: Ja, viele.

SB: Das ist an sich schon erstaunlich, daß Menschen in einer zumindest von der Lebensform her radikalen Art von Lebensgemeinschaft bleiben. Es kann also nicht nur Negatives stattgefunden haben, wie eure Kritiker behaupteten?

HS: Ich habe sowieso gesagt, von mir aus würde die Kommune nicht zusammengebrochen sein.

SB: Aber du sagst eben auch: "Da will keiner zurück!"

HS: Auch das stimmt. Es geht trotzdem niemand zurück. Man verändert sich, man richtet sich dann trotzdem anders ein. Ich glaube allerdings, daß sehr, sehr viel von dieser Prägung der Kommune in den Leuten erhalten geblieben ist. Was die Gruppendynamik, die Psychologie und was eine bestimmte Form des Bewußtseins betrifft, da haben wir sehr viel gelernt. Wer weiß, vielleicht lebe ich auch wieder einmal mit mehreren zusammen, mit freier Sexualität - wunderbar (lacht).

SB: Wie ist die Resonanz bei den Leuten, die bis zum Schluß dabei waren? Herrscht da mehr so ein Geist wie: "Schön, daß das hinter mir liegt, das war ja schrecklich!", oder gibt es auch so etwas wie ein gewisses Nachtrauern?

HS: Es gibt alles. Es gibt die, die sagen "Das war ja ganz arg, ganz schrecklich". Es gibt die, die glücklich sind, daß sie überhaupt dort gewesen sind. Ich habe mich selbst entschieden, ich bereue überhaupt nichts. Und es gibt die, die dem ein bißchen nachtrauern, wie ich zum Beispiel, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Weil Ideen und Ideale wirklich verloren gehen. Und in meiner jetzigen Situation muß ich mir das alles selbst machen.

SB: Und es gibt natürlich noch die, die das Ganze letztlich als Opfer aufarbeiten.

HS: Und es gibt die, die sich als totale Opfer sehen, und ich glaube, es gibt auch Opfer. Auch in der Pädagogik, das war nicht so gut, wie wir geglaubt haben. Die Kindererziehung war teilweise sehr gut, aber teilweise gab es eine Art Verheimung. Die Kinder haben nie Zeit für sich alleine gehabt. Sie waren immer in der Gruppe und immer präsent und immer Alle und immer Viele und immer Konkurrenz, das war für viele sehr stressig.

SB: Kennst du heute noch Kinder, die in der Gruppe aufgewachsen sind? Weißt Du, wie die mit dieser Art von Vergangenheit umgehen?

HS: Die sind sehr, sehr kritisch. Also die, die ich kenne, sind schon kritisch. Natürlich haben sie auch Spaß gehabt, aber der Tenor ist schon kritisch.

SB: Also die würden nicht sagen, daß sie in irgendeiner Weise gegenüber Menschen, die in der Kleinfamilie aufgewachsen sind, einen Vorteil haben?

HS: Das läßt sich schwer sagen. In der Kleinfamilie gibt es ganz arme und ganz reiche und minderbegabte oder hochbegabte und welche, die in stabilen Strukturen aufwachsen und welche, die in chaotischen Strukturen aufwachsen, welche, die in Spießerstrukturen aufwachsen, welche, die auf dem Land aufwachsen, welche, die vielsprachig aufwachsen, welche, die studieren dürfen, welche, die keine Chance haben, welche, die kriminell aufwachsen. Diese großen Kategorien sollte man sich gefälligst abschminken.

SB: Wie war der gesellschaftliche Nachhall? Die AAO stellte hier in Österreich durchaus ein gewisses Spektakel dar und wurde bestimmt immer wahrgenommen, auch wenn kein großer Eklat produziert wurde. Gab es in den Jahren nach diesem spektakulären Niedergang 1991 noch eine Art Resonanz in der Öffentlichkeit, oder ist das schnell in Vergessenheit geraten?

HS: (lacht) Davon wird immer noch geredet. Die Kommune ist ungefähr wie die 68er-Universitätsaktion, das ist irgendwie ein fixer Bestandteil im Denken der Österreicher zumindest einer bestimmten Generation. Das war sensationell, es stand immer etwas in den Zeitungen über freie Sexualität und so weiter.

SB: Heute hat man es in der Gesellschaft mit einer Permissivität zu tun, was Sexualität in der Darstellung in den Medien und der Verwendung für bestimmte Nutzeffekte kommerzieller Art betrifft, demgegenüber kann man so etwas ja gar nicht mehr als besonders spektakulär aufrechterhalten, jedenfalls nicht, was den vordergründigen Aspekt der Freizügigkeit betrifft. Das ist praktisch durch eine regelrechte Pornographisierung überholt worden.

HS: Du sagst es (lacht).

SB: Herbert Stumpfl, vielen Dank für dieses lange Gespräch.

3. Juli 2009