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ZEITZEUGEN LINKS/005: Quergedacht und schwergemacht - Freunde, Feinde, Weggefährten ...    Ingrid Zwerenz im Gespräch (SB)


Logo 'Zeitzeugen links': Rote Fahne, Aufmarsch gegen die Uhr - Grafik: copy; 2016 by Schattenblick

Begegnungen und Kontroversen

Gespräch mit Ingrid Zwerenz am 13. und 14. August 2016 in Oberreifenberg im Taunus - Teil 3


Er zeigte eine politische Courage, von der seine politischen Kritiker, die alles viel besser wussten, keinen blassen Schimmer hatten. Sie waren Ideologen, also Untertanen fremder Ideen, er zeigte Menschen, erzählte Geschichten, brachte aufrührerische Unordnung in den Gleichklang der Ansichten. Das war seine Form von Ästhetik und Widerspruch, wo es glückte: Widerstand.
(Gerhard Zwerenz über Rainer Werner Fassbinder in der Sächsischen Autobiographie)

Was Gerhard Zwerenz mit seiner Sächsischen Autobiographie in Fortsetzung am 10. September 2007 auf der Literaturseite www.poetenladen.de ins Werk zu setzen begann, wuchs sich schlußendlich zu einem Opus magnum von 250 Artikeln und 3000 Seiten aus. Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte, so der etwas kryptische Titel des Gesamtwerks, ist weit mehr als eine am festen Faden der Zeitläufte aufgezogene Chronologie eigenen Schaffens und Erlebens. Als am 18. Januar 2015 der letzte Text erschien, hatte Gerhard Zwerenz ein regelrechtes Kompendium eines über tausend Personen umfassenden Kreises deutsch-deutschen Kunst-, Politik- und Geisteslebens vorgelegt. Indem Zwerenz seinen literarischen Kosmos mit Figuren der Zeitgeschichte bevölkerte und sie in ihren realen Begegnungen und Diskursen dokumentierte, erfüllte er abstrakt verhandelte Entwicklungen mit neuem Leben und machte sie so auf menschlich nachvollziehbare Weise begreifbar und begehbar - stets inspiriert von der "konkreten Utopie" Ernst Blochs und Bertolt Brechts "eingreifendem Denken" verpflichtet. Geblieben ist ein zum Quereinsteigen und Durch-die-Jahrzehnte-Springen einladendes, um überraschende Wendungen und ironische Zuspitzungen nie verlegenes Epochengemälde deutscher Grausamkeiten und Befindlichkeiten.

Im dritten und letzten Teil des Gespräches mit Ingrid Zwerenz tauchen einige wenige der zahllosen Personen auf, die dem Schriftstellerpaar in Freundschaft verbunden waren, aber auch solche, die ihnen als Gegner in der politische Arena gegenübertraten und deren restaurative Gesinnung die beiden immer wieder in Harnisch brachte, so auch Ingrid Zwerenz im Gespräch mit dem Schattenblick.


Ingrid und Gerhard Zwerenz untergehakt auf dem Sofa - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Streitbare Übereinkunft
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Schattenblick (SB): Wie ist es eigentlich zu der Sächsischen Autobiographie im Poetenladen gekommen und was war die Absicht dahinter?

Ingrid Zwerenz (IZ): Kurioserweise habe ich zuerst ein paar Artikel im Poetenladen geschrieben. Wir hatten das Buch Sklavensprache und Revolte fertig, als uns Andreas Heidtmann [1] hier besucht hat, und dann hat sich das mit diesem größeren Projekt so ergeben. Damals waren wir viel auf Lesereise, unter anderem in Berlin, und da probierte Gerhard zunächst mehrere Titel für die Arbeiten im Poetenladen aus. Eine Idee war "Die Verteidigung Sachsens oder warum Karl May die Pleiße erfand." Viele Berliner, die ja nun wenig mit der Pleiße zu tun haben, kippten vor Lachen fast von den Stühlen. Das haben wir ein paar Mal getestet, und es war jedes Mal ein Lacherfolg. Aber dann wählten wir doch die Überschrift "Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte." Denn das tat er ja.

SB: Nicht wenig Raum nimmt die Geschichte Fritz Bauers in der Sächsischen Autobiographie ein. Der Jurist und hessische Generalstaatsanwalt war maßgeblich dafür verantwortlich, daß die Bundesrepublik mit der vermeintlichen Rechtsstaatlichkeit Hitlerdeutschlands brach und der Widerstand gegen den NS-Staat nachträglich legalisiert wurde, daß Adolf Eichmann in Israel der Prozeß gemacht wurde und die ersten Auschwitzprozesse 1963 in Frankfurt begannen.

IZ: Wir begegneten Fritz Bauer in Frankfurt bei verschiedenen Anlässen. Gerhard und er trafen sich häufig. Vor sechs, sieben Jahren meldete sich bei uns die inzwischen international bekannte und anerkannte Regisseurin Ilona Ziok. Ihr Film Tod auf Raten ist die einzig wirklich zuverlässige Dokumentation über Fritz Bauer. Von den zwei oder drei im nachhinein herausgekommenen Produktionen kann man sich nur entschieden distanzieren.

Friedrich Engels hat einmal gesagt, Richard Wagner hätte die Nibelungensage durch Blutschande und dergleichen etwas pikanter gemacht. Auf eine ähnliche Art und Weise hat ein Autor - ich nenne den Namen nicht - eine Biographie zu Fritz Bauer verfaßt mit einem Riesenkapitel über dessen angebliche und zwar ausgeübte Homosexualität.

Inzwischen sind fürchterliche Filme entstanden, wenn auch mit einigen guten Akteuren. Alle hier, die wir das von Anfang an beobachteten und Fritz Bauer gut kannten, haben uns gefragt, wie so etwas unwidersprochen gezeigt werden kann. Ich habe nicht das geringste dagegen, wenn sich homosexuelle Männer küssen, im Film wie öffentlich. In Faustrecht der Freiheit, in dem Fassbinder auch die eigene Homosexualität thematisiert, küßt er einen Mann auf eine Weise, daß es einem beinahe das Herz bricht. In Der Staat gegen Fritz Bauer dagegen findet ein peinliches Geschmuse zweier outrierender Mimen statt. Ein bewährter Schauspieler wie Burghart Klaußner, der in Das weiße Band eine Hauptrolle souverän gestaltete, spielt diesen verzerrten, verzeichneten Fritz Bauer. Verheerend ist auch, daß im Frankfurter Fritz-Bauer-Institut, das seinen Namen trägt, ein ausgeprägter Gegner von ihm sitzt und Bauers Ruf schadet, wo er nur kann. So etwas hätte ich mir vorher nicht vorstellen können.


Lesungsplakat mit Foto Gerhard Zwerenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Vergiss die Träume deiner Jugend nicht
Foto: © 2016 by Schattenblick

In dem Zusammenhang muss ich immer noch eine kleine individuelle Wut verarbeiten. 1968 habe ich einen Band Anonym. Schmäh- und Drohbriefe an Prominente herausgebracht. Damals gab es noch keinen PC. So tippte ich unverdrossen 268 Originalbriefe sowohl an verschiedene Personen direkt als auch an Zeitschriften und Redaktionen und habe um den Inhalt ihrer Papierkörbe gebeten. Tatsächlich sandten einige von ihnen hochinteressante Materialien. Darunter Fritz Bauer, der ausnahmsweise ein Exemplar der Beschimpfungspost aufgehoben hatte. Diese Karte ist 1968 in meinem Bändchen abgebildet. Und ein Autor, der auch die Behauptungen über das aktive homosexuelle Leben von Fritz Bauer in die Welt gesetzt hat, schreibt doch, frech wie Dreck - sein Buch ist vor zwei oder drei Jahren herausgekommenen -, er wäre der erste, der diese anonyme Beschimpfung Fritz Bauers veröffentlicht hätte. Ich muß schon sagen, so etwas finde ich nicht komisch. Es gehört sich nicht. Heute kann jeder im Archiv leicht herausfinden, wer diese Karte zuerst publizierte.

Die Macher dieser merkwürdigen sogenannten Fritz-Bauer-Filme haben sich wohl Chancen auf einen Oscar ausgerechnet, aber das war eine Fehlspekulation, während Ilona Ziok mit ihrem Film Tod auf Raten auch nach vielen Jahren noch international Erfolg auf Erfolg feiert. Sie hat auch andere wichtige Projekte realisiert wie zum Beispiel über das KZ Theresienstadt und Kurt Gerron, einen der wichtigsten Kabarettisten in der Weimarer Republik. Der hatte von den Nazis den Auftrag erhalten, den Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt zu drehen - gemeint war Theresienstadt. Natürlich hat der arme Fritz Gerron gedacht, daß er zumindest überleben dürfte. Aber ein paar Wochen, nachdem der Film abgedreht war, haben sie ihn wie auch die anderen direkt ins Gas geschickt.

Mit Der Junker und der Kommunist - der Titel ist Programm - hat Ilona Ziok einen weiteren wichtigen Stoff verarbeitet. Inzwischen hat sich diese Frau ein Standing in diesem wichtigen halbdokumentarischen Filmgenre erobert. Für Tod auf Raten hat sie sich wirklich in die Materie reingewühlt, sehr lange und gut recherchiert und auch glänzende Interviewpartner präsentiert wie zum Beispiel Conrad Taler oder einen der engsten Bauer-Freunde, Thomas Harlan. Der Sohn von Veit Harlan stand ja im Unterschied zu seinem naziaffinen Vater weit links von sich selber und hat sehr einprägsame Erinnerungen über Fritz Bauer beigesteuert.

Meine Lieblingsszene ist die, als Fritz Bauer in den 60er Jahren in Rheinland-Pfalz einen Vortrag über das Dritte Reich und seine Folgen hält. Das Thema hat ihn naturgemäß dauernd beschäftigt. Eigentlich sollte der Vortrag gedruckt und an die Schulen verteilt werden, aber ein sogenannter Kultusminister hat dagegen sein Veto eingelegt. Und dann ist ein junger, hochgewachsener Abgeordneter von der CDU, der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl, dazugekommen und hat sich nicht entblödet, den jüdischen Remigranten und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zu belehren, es wäre überhaupt noch nicht genügend Zeit vergangen, um das Dritte Reich gerecht beurteilen zu können. Das ist doch wirklich eine politische Meisterleistung!


Ingrid Zwerenz jung mit Zigarette - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Ingrid Zwerenz im Jahr 1974
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Conrad Taler, der von Geburt her einen anderen Namen trägt, aber unter Taler veröffentlicht, hat, wie viele andere, tüchtig gegen die fürchterlichen Verdrehungen von dem, der diese Biographie verbrochen hatte, angeschrieben und -gesprochen. Der Gerechtigkeit halber muß ich anfügen, daß mir Frau Ziok vor ein paar Monaten erzählte, es wäre diesem Autor dann doch etwas peinlich gewesen, was er in dem Buch behauptet hat. Er hätte sich auf falsche Zeugen verlassen. Zurücknehmen kann er es nicht mehr, gedruckt ist gedruckt, aber das ist zumindest eine mündliche Entschuldigung. Dieser ganze Mist wird nun immer weiter verbreitet.

Fritz Bauer war oft zu Gast im Kabarett Die Maininger Frankfurter Resistenz-Theater in Nähe der Goethestraße, dieser teuren Prachtmeile, kannte also Conny und seine Frau sowie ihre Programme. Conrad Reinhold hatte in Leipzig das Kabarett Die Pfeffermühle mitgegründet und auch lange betrieben, aber nach den Wirren des 20. Parteitages sah er sich gezwungen, Leipzig fluchtartig zu verlassen. Als hygienebewußter Schauspieler kam er bei Gerhard an, der in Westberlin seit kurzem in einem möblierten Zimmer wohnte, ausgerüstet mit einer ganz kleinen Tasche, aber zwei neuen Zahnbürsten. Er hat sich dann aber relativ schnell zurechtgefunden in der BRD. Danach haben wir zu viert, also Conny, seine Frau Christel und wir beide, für einige Wochen zusammengewohnt, dicht beim Nollendorfplatz. Eines Tages klingelte es an der Tür und davor standen Ursula Herking von der Lach- und Schießgesellschaft und der mit Recht hochgelobte Organisator der Truppe, Sammy Drechsel, um Conny zu engagieren, wie es dann auch geschah.

Einmal hatten die beiden Reinholds in Westberlin ein Gastspiel und fuhren, was man ja, schon wegen der vielen Requisiten, versteht, mit einem riesigen Opel Admiral durch die Lande, also auch in Westberlin. Jeder, der den Betrieb kennt, weiß, daß es viel schwieriger ist, ein fremdes Publikum zum Lachen zu bringen, als eine Tragödie zu spielen. So hatte der gute Conny Reinhold nach der Vorstellung tüchtig einen im Tee, als er auf der Straße des 17. Juni, die sehr breit ist und einen erheblichen Mittelstreifen besitzt, statt auf die Teerstraße einzubiegen auf die Grünfläche fuhr, und das über eine ziemlich lange Strecke. Er hupte wohl auch und sang eventuell sogar, jedenfalls öffneten sich ringsum die Fenster der Berliner, die ja ohnehin gerne auf dem Quivive sind und dann hat einer die Polizei gerufen. Die rückten auch an, mein Conny stieg fröhlich aus seinem Admiral, baute sich vor den Polizisten auf und sagte: "Sie suchen wohl den, der hier gerade über den Grünstreifen gefahren ist", und das entsprach ja nun den Tatsachen (lacht). Kurz und gut, der Führerschein war weg und auf der Agenda stand mindestens ein Vierteljahr Gefängnis, wenn nicht länger. Da schaltete sich der humane Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ein und sagte, "das wäre doch ein Jammer, wenn wir Conrad Reinhold in eine Zelle stecken. Ich habe einen Vorschlag, er soll mit seinem Kabarettprogramm eine Tournee durch die Gefängnisse machen." Und so ist es dann auch gelaufen.

SB: Hat sich Fritz Bauer nicht auch für eine Reform des Gerichtswesens stark gemacht?

IZ: Ja, er hat sich dafür eingesetzt, die Schranken abzubauen, daß also die Richter erhöht sitzen und der Angeklagte auf einer Art Arme-Sünder-Bänkchen, und stattdessen dafür plädiert, einen riesigen runden Tisch zu installieren, so daß alle auf einer Ebene wären, ob nun Angeklagte, Verteidiger oder Ankläger. Natürlich hat sich die Idee nicht durchgesetzt, aber vielen jungen Jurastudenten doch imponiert. Überhaupt haben sich speziell nach den 68ern doch viele angehende Juristen sehr zu ihrem Vorteil verändert, wenn man bedenkt, was das früher noch für naziverseuchte, erzreaktionäre Knochen waren, zumal sich fast alle unbeschadet vom Dritten Reich in die Bundesrepublik herüberretten konnten.

SB: Über diese Kontinuität hat Gerhard Zwerenz ja häufig geschrieben.


'Soldaten sind Mörder' - Plakat der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner - Foto: © 2016 by Schattenblick

'Alle Soldaten sind potentielle Deserteure'
Foto: © 2016 by Schattenblick

IZ: Als wir noch in Köln lebten und auch die ersten Jahre in Bad Homburg, war das braun wie ..., ich will es nicht näher ausführen, ganz furchtbar! Das hat sich erst allmählich geändert. Gerhard ist auch ein paar Mal vorgeladen worden wegen seines Buches Soldaten sind Mörder. Darüber hat er hinreichend im Poetenladen berichtet. Otto Köhler, der damals noch für die Zeit arbeitete, hat das übrigens phantastisch in seinen Berichten zu dem Prozeß in Buxtehude zusammengefaßt, bei dem er selbst zugegen war. (Ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier und späterer Bundeswehrgeneral fühlte sich durch den Deserteur Gerhard Zwerenz beleidigt; Anm. d. Red.). Dieses Ereignis hat Otto Köhler noch einmal in seinem Vortrag zum Gedenken an Gerhard im Bundestag Revue passieren lassen. [2] Otto Köhler ist einer der Begründer der Ossietzky-Zeitschrift und schreibt dort auch sehr viel. Vor allem bewundere ich an ihm auch die so glänzend fundierten Artikel in der jungen Welt.

SB: In einem Artikel für Ossietzky haben Sie sich auch mit Martin Heidegger auseinandergesetzt. Wie würden Sie seine Rezeption in der Philosophie beurteilen, nachdem mit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte das ganze Ausmaß seiner NS-Vergangenheit ans Licht gekommen ist?

IZ: Er war ein glühender Antisemit, aber ein Teil seiner Philosophie ist nach wie vor unausrottbar, selbst seit die Schwarzen Hefte bekannt sind. Der Verantwortliche der Heidegger-Gesellschaft hält immer noch fest an der ungeheuren Bedeutung, die Heidegger nach wie vor auch als Philosoph hätte. Der Franzose Emmanuel Faye war einer der ersten, der ein kritisches Buch über Heidegger und den Nazismus geschrieben hat.

SB: Was kritisieren Sie an der Philosophie Heideggers?

IZ: Alles! Das "nichtende Nichts", du meine Güte, er hat ja nur Holzwege eingeschlagen, furchtbar, nur Verquastes, fast wie heute der unsägliche Sloterdijk. Den habe ich ebenfalls ein bißchen rangenommen in meinen Artikeln, die ich ab und an in Ossietzky publizierte. Wissen Sie, gegen Heidegger habe ich gewissermaßen eine angeborene Abneigung, und ich werde in meinem ganzen nicht mehr lange währenden Leben nicht begreifen, wie sich eine hochintelligente, sensible Hannah Arendt mit dieser Trockenpflaume einlassen konnte. Der Knilch galt ja als Womanizer, aber doch bitte nicht bei dieser Ausnahmeerscheinung Hannah Arendt. Liebe macht bekanntlich blind, aber auch blöd?


Ingrid Zwerenz im Gespräch mit dem Schattenblick - Foto: © 2016 by Schattenblick

Sehr bei der Sache
Foto: © 2016 by Schattenblick

In der letzten Leipziger Vorlesung von Bloch, die ich genau notiert habe und die veröffentlicht ist, ging 's nochmal um Heidegger, das war seine Abrechnung. Ernst Bloch, Bert Brecht und Walter Benjamin - die drei B's - haben versucht, Heidegger etwas entgegenzuhalten. Aber verglichen mit dem Sensationserfolg von Sein und Zeit war da nicht viel zu erreichen. Mich packt schon nach einer halben Seite Heidegger großer Lach- und Brechreiz, ganz zu schweigen von den Schwarzen Heften.

SB: Wie hat sich die Philosophie Ihrer Ansicht nach in den letzten Jahrzehnten entwickelt?

IZ: Sehr desaströs. Gerhard und ich erlebten in den letzten Jahren unser besonderes Amüsement, wenn ungefähr alle 14 Tage in der FAZ ein neuer Philosoph oder eine neue Philosophin auftauchten. Zuerst habe ich gedacht, ist ja großartig, daß das Ressort so aufblüht, aber wenn man einen Blick dahinter warf, waren es nur Wolken, die da produziert wurden; ein Ausdruck von Gerhard, wenn man sich nicht exakt genug artikulierte: "Schreib keine Wolken!" Ein paar trostreiche Ausnahmen gibt es natürlich unter den vielen stud. bzw. Dr. phil. Gerhard hat sich zum Schluß noch sehr mit dem Franzosen Alain Badiou beschäftigt. Kurioserweise hat Badiou in der letzten Zeit positive Worte zur Verteidigung von Heidegger geschrieben. Aber da war Gerhard schon nicht mehr am Leben. Mich hat dieses Statement sehr verblüfft, denn Badiou gilt unter den Denkern als Linker.

SB: Könnten Sie uns berichten, wie es zu Ihrer Freundschaft mit Rainer Werner Fassbinder gekommen ist?

IZ: Ja. Das war bei einer Buchmesse. Damals gab einer der berühmtesten Feuilleton-Redakteure der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte, nach der Messe kleine Empfänge für ausgewählte Gäste in seiner Frankfurter Wohnung. Gerhard und ich saßen so wie hier am Tisch. Auf einmal tauchen zwei Figuren uns gegenüber auf und ich schubse Gerhard an: "Was sagst du denn dazu, das ist doch Fassbinder!" Neben ihm Ingrid Caven - wir hatten ihn damals noch nie direkt von Angesicht zu Angesicht erlebt. Das war der erste Abend, sozusagen von Schütte vermittelt, und das hat dann angehalten. Ein großer Sonderfall war auch, daß Rainer drei- oder viermal direkt bei uns angerufen hat. Damals war das etwas ganz Seltenes für ihn, er hatte immer andere Leute für das Telefon. Dann entwickelte sich das Schritt für Schritt. Fassbinder hat ja die Intendanz vom TAT (Theater am Turm in Frankfurt; Anm. d. Red.) übernommen und uns zu verschiedenen Premieren eingeladen. Eine hinreißende Aufführung war Fräulein Julie mit Fassbinder in der Hauptrolle als Diener Jean, unwiderstehlich. Da war er ganz stolz - nicht ein einziger Hänger oder Versprecher, und er mit seiner vielen Arbeit nebenbei. Ingrid Caven hat uns extra noch geflüstert, wir sollten ihm sagen, wie sehr es uns gefallen hat. Und das taten wir auch.

Dann begann die Geschichte mit dem Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, da hat er ja dieses partiell unglückselige Stück geschrieben. Bei verschiedenen Spielfilmen hat er auch Gerhard immer mal wieder als Schauspieler eingesetzt. Bolwieser nach dem Roman von Oskar Maria Graf war großartig, ein sehr starker Film, auch Elisabeth Trissenaar glänzte darin und Kurt Raab, ganz ohne Faxen, hervorragend. In dem Film spielt Gerhard einen älteren Fährmann. Bei ihm klopft der arme Bolwieser an, der von seiner Frau betrogen worden ist, und wird von Gerhard aufgenommen. Auf dem Ofen brodelt ein Topf mit Suppe und Gerhard füllt sich noch eine Schüssel und die Suppe mundet ihm, da ruft Fassbinder: "Tot!", und prompt sinkt Gerhard mit dem Kopf in die Suppenschüssel - Exitus. Michael Ballhaus war damals noch Kameramann und hat Fassbinder gefragt, ob das denn schon genug sei, wie Zwerenz nun jetzt gestorben ist. Darauf Fassbinder: "Lass nur, Gerhard weiß schon, was er macht."


Lesungsplakat: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond mit gezeichnetem Porträt des Autors Gerhard Zwerenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Von herausfordernder Aktualität
Foto: © 2016 by Schattenblick

Fassbinder hat uns extra zur Voraufführung in die Bavaria eingeladen. Catharina sitzt neben mir und zwei Reihen vor uns Fassbinder. Als nun ihr Vater und mein Mann über der Suppe zusammengesunken war, flüstert mir Catharina zu: "Kein Wunder, daß Gerhard an der Suppe gestorben ist, die er selber gekocht hat". Wir müssen natürlich lachen und der Filmemacher Rainer drehte sich ganz empört um. Wir haben ihm das hinterher erklärt und dann hat er doch mitgelacht.

Catharina war um diese Zeit in Berlin und auch schon lange mit Robert (Robert van Ackeren; Anm. d. Red.) liiert. Eines Vormittags ruft sie Gerhard an, da kam sie gerade von einem unerfreulichen Arztbesuch und suchte bei ihrem Vater ein bißchen Trost. Der hat sich das angehört und gesagt, das war so seine Art: "Na, wenn du dann oben ankommst, kannst du ja Fassbinder schön grüßen." Der war gerade ein paar Tage zuvor gestorben. Da geht Catharina zu ihrem Robert und erzählt ihm das und er: "Wieso oben, du kommst doch unten an!" Man hat es eben nicht leicht als Satiriker-Tochter und Filmemacher-Gefährtin. Robert und Gerhard pflegten einen ziemlich ähnlichen Humor.


Gerhard Zwerenz, Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder - Foto: © 2016 by Schattenblick

Buchtitel aus dem Jahr 1982
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: In einer Dokumentation über den Schweizer Regisseur Daniel Schmid, der mit Fassbinder zusammengearbeitet und dessen Bühnenstück Der Müll, die Stadt und der Tod unter dem Titel Schatten der Engel verfilmt hat, sagt Schmid über sich, daß er eigentlich immer versuchen würde, eine eher positive Botschaft zu vermitteln, ganz anders als Rainer Werner Fassbinder, der eher selbstdestruktiv gewesen sei. Deckt sich das mit Ihrem Eindruck von Fassbinder?

IZ: Stellenweise schon, ja. Er hat zwar auch herrliche, heitere Szenen geliefert, trug aber doch oft schwer an einer tiefen Melancholie, wie zum Beispiel bei In einem Jahr mit 13 Monden, den er zur Hälfte in unserer Wohnung in Offenbach gedreht und gewissermaßen im Gedenken an seinen langjährigen Gefährten gemacht hat. Der war im Lebensborn gezeugt worden. Ein ganz armer Junge, Armin hieß er, gelernter Metzger. Als Fassbinder wegen seiner Intendanz am TAT nach Frankfurt gezogen war, gab es eine Eröffnungsparty. Da war Armin Mâitre de plaisier und hat ein ziemlich strenges Regiment geführt: "Merkt euch eure Gläser, nicht, daß nachher wieder das große Gesuche anfängt!" Man wußte ja, von wem so was stammte, sonst war er ein sympathischer, hübscher Junge und sehr angenehm.

Ein paar Jahre haben sie es miteinander ausgehalten und dann hatte Rainer angeboten, ihm als Grundlage für eine neue Existenz entweder ein kleines Geschäft oder ein Lokal einzurichten. Aber Armin hat die Trennung nicht verwunden und sich das Leben genommen. Es war ein heißer Sommer, Rainer war beruflich auf Reisen und als er in die Wohnung zurückkam, war es schon geschehen. Das hat ihn lange beschäftigt und in gewisser Hinsicht traf das auf seine tiefe Melancholie. Er hatte ja eine Reihe wechselnder Freunde, hintereinander, gleichzeitig hat er wohl keine festen Beziehungen gehabt. Zwischendurch war er sogar einige Zeit mit Ingrid Caven verheiratet. Ich mochte Ingrid sehr gern, sie hatte starke Szenen in diesem Film. Da hat man hautnah miterlebt, wie gedreht wird. Sie können sich vorstellen, was das für ein Trubel war, ein vollständiges Filmteam in unserer Wohnung. Gerhard ist immer wieder aus Offenbach abgehauen in unser damals halbfertiges Haus hier. Uns konnte es ja egal sein, wie die Filmmenschen alles umräumten, weil wir sowieso bald wegzogen.

In meinem Arbeitszimmer hatte ich einen Einbauschrank mit Glastüren, der war so luftig und bequem, in den hat sich Fassbinder mit einer Baby-Kamera gesetzt und von dort aus die große Diele gefilmt. Immer, wenn dann Anrufe für ihn kamen und ich Telefondienst hatte, habe ich gesagt: "Nee, Herrn Fassbinder kann ich jetzt nicht holen, der sitzt in meinem Kleiderschrank und dreht" (lacht).

Zwischendurch kam noch die Ehefrau von Erich Loest aus der DDR. Annelies war das erste Mal im Westen und geriet gleich in den Trubel. Sie war als erste wichtige Leserin von Erichs Büchern durchaus nicht unbeleckt, was Literatur und Kultur betraf, und er hat ja ein paar schöne Bücher geschrieben wie Durch die Erde ein Riß. Aber dieser Film, der eine Geschlechtsumwandlung thematisierte, war ein bißchen schwierig für sie. Nach den ersten drei, vier Stunden nahm mich Annelies zur Seite und sagte: "Also, wenn man nicht wüßte, daß es der Fassbinder ist, der das geschrieben hat würde man sagen, das ist ein furchtbares Durcheinander." Ich habe sie beruhigt und versucht zu erklären. Vor allen Dingen schickte ich sie abends mit einem ganz elegant fotografierten, sanften Pornoband ins Bett, damit sie sich in den Stoff einfühlt. Als ich sie am nächsten Morgen fragte: "Na, hast du dir das ein bißchen angesehen?", sagte sie: "Weißt du, ich war so todmüde, ich bin sofort eingeschlafen."


Ingrid Zwerenz 1974 mit Katze im Arm - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Annelies war auch eine tüchtige Hausfrau. Eines Morgens, als sie gerade mit dem Staubsauger in der riesigen Diele zugange war, meinte sie: "Das war vielleicht eine Arbeit, diese vielen Klebestreifen vom Teppich loszukriegen." Ich denk, mich rührt der Schlag, das waren die Markierungen für den Set am nächsten Tag. Also fing ich Rainer unten auf der Straße ab und sagte: "Es tut mir furchtbar leid, Frau Loest hat es gut gemeint. Wenn du jetzt nachdrehen mußt, sagst du uns halt, was das gekostet hat." Aber in so etwas war er wieder rührend und meinte: "Na, das kriegen wir schon wieder hin." Und dann mußten sie tatsächlich alle Positionen nochmal markieren.

Manchmal konnte ich mich nicht zurückhalten und habe kleine kritische Bemerkungen gemacht. Zum Beispiel sollte Elisabeth Trissenaar dreimal hintereinander sagen "Tu nicht immer ablenken!" In einer kleinen Pause fragte ich Rainer: "Muß das sein, was stellt sie denn dar?" - "Ja, eine Lehrerin." Darauf sage ich: "Was lehrt sie denn, hoffentlich nicht Deutsch?" "Nee", sagt Trissenaar so von der Seite her, "ich glaube, Biologie." - "Trotzdem", sage ich zum Rainer, "muß sie denn wirklich sagen 'Tu nicht immer ablenken'?" Und um es ihm noch leichter zu machen: "Weißt du, woran mich das erinnert: Wenn ich jetzt 'ne Täte hätte, täte ich auf der Täte täten, solange, bis die Täte nicht mehr täten täte" (lacht). Das hat vorübergehend geholfen, er hat gelacht, aber dann hat er gesagt: "Ingrid, das ist kein Roman." Also mußte es weiter heißen "Tu nicht immer ablenken!"

SB: Wie haben Sie Fassbinders Verhältnis zur Literatur wahrgenommen? Sein skandalumwittertes Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod hatte ja den von Gerhard Zwerenz verfaßten Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond zur Vorlage, und er hat auch Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin verfilmt.

IZ: Er war ein besessener Leser, der wohl schon als Schüler z. B. den Casanova, Gerhards ersten großen Erfolgsroman, gelesen und schon damals das Ziel hatte, dieses Buch zu verfilmen. Aber das wäre ungeheuer aufwendig geworden. Und er mußte sich ja erstmal ein gewisses Standing schaffen. Mit Im Jahr mit 13 Monden hat das dann geklappt. Als wir bei der Besprechung im Wohnzimmer saßen, fragte Volker Spengler (spielte den Transsexuellen Elvira Weißhaupt im Film; Anm. d. Red.): "Ist das denn nun wirklich richtig mit der Wohnung als Kulisse, vielleicht stehen doch zu viele Bücher hier rum." Darauf Fassbinder weise: "Wenn einer viele Bücher besitzt, bedeutet das ja nicht, daß er sie alle gelesen hat."

Volker Spengler, mit dem wir damals oft zusammen saßen, war ein vielseitiger Schauspieler. Er meisterte auch die Premiere von Gerhards Stück Die Rede des Georg Büchner vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung anläßlich seiner Ablehnung als Büchner-Preisträger, was danach noch lange von Studententheatern rings in der BRD aufgeführt worden ist.

SB: Wie war Ihr Verhältnis zur Neuen Linken der 60er Jahre? Wurde Gerhard Zwerenz von der aufbrechenden linken Bewegung als jemand akzeptiert, der ihr etwas zu sagen hatte?

IZ: Ja, durchaus, zum Beispiel war Rudi Dutschke ein paar Mal bei uns, sowohl vor dem Attentat als auch danach. Da gab es natürlich eine Verständigungsebene. Wir hatten um diese Zeit gute Beziehungen zum Offenbacher Kulturdezernenten, auch zum Oberbürgermeister. Gerhard hatte, kurz bevor wir wegzogen, noch einen Film über Offenbach gedreht mit recht relevanten Szenen. Unser bewährter Rechtsanwalt Manfred Coppik wirkte auch mit und der Oberbürgermeister hat wichtige Interviews gegeben. Als der Film dann, ich glaube sogar im Ersten Programm, gelaufen ist, sind wir in den Nächten danach fast verrückt geworden. Da kam ein Anruf nach dem anderen: "Du verfluchtes Dreckstück! Trau dich nur nicht mehr auf die Straße!" und so weiter. Wir haben das weggesteckt, das ist ja öfter passiert. Aber einmal ist Rudi Dutschke bei uns zu Besuch, damals hatte man noch einen Anrufbeantworter mit Band, der stand in meinem Arbeitszimmer, wo er übernachtete, da geht mitten in der Nacht auf einmal das Telefon und einer schreit: "Wir erschießen dich!" Den armen Rudi, der das Attentat von Bachmann knapp überlebt hatte, mussten wir morgens beruhigen und ihm erklären, daß sich die Drohung nicht auf ihn bezog. Einige Zuhälter wüteten über ein paar Fakten, die Gerhard in dem Film über eine Hochhaussiedlung gesagt hatte, wo sie ihre Mädchen einquartierten. So sehr wir uns vorher in Offenbach wohlgefühlt hatten, das fanden wir dann nicht mehr so anheimelnd. Danach sind wir hierher in den Taunus gezogen.

Und natürlich gab es auch Kontakt mit Joschka Fischer, als er noch nicht sein früheres Ich abgeschafft hatte. Während der Bundestagszeit war Joschka Fischer absolut anständig und tapfer im Verhalten zu Gerhard, eingedenk dessen bemühe ich mich durchaus um Gerechtigkeit. Man muß bedenken, daß die PDS dort zuerst behandelt wurde, als hätte sie die Pest. Da ist Joschka morgens quer durch den ganzen Bundestag auf Gerhard zugegangen, hat ihn herzlich begrüßt und auch jederzeit Kontakt mit ihm gehalten. Umso mehr ist man enttäuscht, wie die Leute durchs Geld korrumpiert worden sind. Tapfer war er ja noch, als er vor der UN gesagt hat, er sei vom Vorhandensein der Massenvernichtungswaffen im Irak nicht überzeugt.


Wahlplakat der PDS aus dem Jahr 1991: Rote Socken in den Bundestag, Unser Kandidat Gerhard Zwerenz stellt sich vor - Foto: © 2016 by Schattenblick

'Rote Socke' Gerhard Zwerenz
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ein paar Mal sind die beiden auch gemeinsam mit der Bahn von Bonn gekommen, denn Joschka hatte eine Zeitlang kein Auto, und dann hat Gerhard ihn in Frankfurt nach Hause gefahren. Der ehemalige Taxichauffeur, der Joschka war, hat auf dem Beifahrersitz immer gemahnt: "Langsam, langsam!" Gerhard war schon gern per Tempo unterwegs. Er allein oder wir auch zusammen waren ja x-tausende von Kilometern zu Reden z. B. bei Ostermärschen oder auch auf Lesereisen unterwegs.

SB: Zur Zeit im Bundestag gab es auch einen Wortwechsel mit Gauck, den man in der Sächsischen Autobiographie nachlesen kann. Damals hat Ihr Mann sinngemäß prognostiziert: Wenn dieser Mann Präsident wird, wird Deutschland wieder in den Krieg ziehen.[3] Diese Prognose wurde bisher nicht widerlegt, sondern eher bestätigt, unter anderem durch seine Rede über die Verantwortung, die wir übernehmen müssen. Wie haben Sie das erlebt, daß mit Gauck ein ehemaliger DDR-Bürger Bundespräsident wurde, der sich ja auch als Dissident profiliert hat?

IZ: Das ist alles unwahrhaftig. Ich habe immer gesagt: "Gauck ist ein selbsternannter Bürgerrechtler, den kein Mensch vorher kannte." Diejenigen, die wirklich den Kopf hingehalten und sich in Gefahr gebracht hatten, haben vor Wut geschäumt, als Gauck sich plötzlich als tapferer Kämpfer für ihre Rechte geriert hat - widerlich. Ich fand ihn damals unerträglich, im letzten Jahr hatte er mitunter lichte Momente. Erst neulich habe ich einen Notizzettel von Gerhard gefunden, der noch aus der Zeit in Bonn stammen muß. Er hat sich verschiedene Notizen gemacht wie zum Beispiel "Revolution unter Revolutionsverwaltern" oder, was wirklich gelungen ist, "Für mich ist der Bundestag ein Maulkorb" bzw. "Abschied von Bonn", aber auch "Nur Dinos sterben höflich aus". Schön kräftig finde ich auch "Die Hinterherhelden", was prima auf Gauck paßt.


Handschriftliche Notizen von Gerhard Zwerenz: Revolution unter Revolutionsverwaltern - Für mich ist der BT ein Maulkorb - Die Hinterherhelden - Abschied von Bonn oder nur Dinos sterben höflich aus - Foto: © 2016 by Schattenblick

Notizen aus dem Bundestag
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Im heutigen gesellschaftlichen Klima wird sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel von Rechten wegen ihrer Aussage "Wir schaffen das" aufgrund ihrer DDR-Vergangenheit verdächtigt, eine Art FDJ-U-Boot zu sein. Wie finden Sie das?

IZ: Die AfD hat neulich gefordert, Frau Merkel in eine Zwangsjacke zu stecken und aus dem Bundeskanzleramt ins Gefängnis zu überführen. Das ist alles dermaßen penetrant. Gerhard hat noch vieles von der Rechtsentwicklung und Pegida mitgekriegt und eine tiefe Enttäuschung über die Entwicklung in Sachsen empfunden. Er hat stets versucht, die Linke wieder hochzustemmen. Eine tüchtige Redakteurin vom MDR hat jahrelang darum gekämpft, daß ein Film über Gerhard gemacht wird. Schließlich entstand Ein Unbeugsamer - eine wirkungsvolle TV-Produktion. Zum Schluß steht er auf einer Brücke über der Pleiße, an der Stelle mußte ich schon immer heulen, auch als er noch gesund und am Leben war.

SB: Heute ist auch Hermann Kant gestorben. Gerhard Zwerenz und er haben sich ja öffentlich auseinandergesetzt. [4] Konnten sie ihr Verhältnis verbessern?

IZ: Ja, zu Anfang mußten jedoch viele Sachen auf den Tisch, weil Kant tödlich gekränkt war wegen des Buches Antwort an einen Friedensfreund oder längere Epistel für Stephan Hermlin und meinen Hund. Darin fährt Gerhard zu Recht ziemlich Schlitten mit Hermlin, denn Hermlin hat sich nicht entblödet, uns alle, die wir aus der DDR emigriert waren, gewissermaßen als Kriminelle zu diffamieren. Da gibt es Grenzen, man muß nicht auf sich herumtrampeln lassen. Weil Kant aber eine innigste Freundschaft mit Hermlin verband, mußten er und Gerhard zuerst vieles zwischen sich abräumen. Das war eine hochinteressante Veranstaltung, ich war damals in Leipzig bei den academixern im Kabarett dabei. Der MDR zeichnete einiges auf. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt.

SB: Was ist, um noch einmal zu Bloch zurückzukehren, Ihre Hoffnung für die Zukunft?

IZ: Daß die Menschheit auf dem jetzt eingeschlagenen, elenden Weg noch einmal eine Öffnung zur Umkehr findet. Ich bin entsetzt darüber, daß es heute so viele neonazistische Gruppen in Rußland und der Ukraine gibt. Das hat mich immer sehr beschäftigt, wo die Bevölkerung doch so sehr unter dem gegen ihr Land gerichteten Vernichtungskrieg zu leiden hatte, und jetzt gibt es dort Leute, die mit "Heil Hitler" grüßen. Wir hatten ja gedacht, daß Putin dergleichen nicht dulden würde, doch ist der beschäftigt mit seinen bewunderten Popen und der dämlichen Homophobie.


Mit Vermerk: Der Carl-von-Ossietzky-Preis wird am 4. Mai an Gerhard Zwerenz verliehen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ausschreibungsplakat für den Carl-von-Ossietzky-Preis 1986
Foto: © 2016 by Schattenblick

Als Gerhard 1986 für seinen Essay Der Krieg der Pazifisten den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg verliehen bekam, las Walter Kempowski aus der Niederschrift von Gesprächen vor, die er mit verschiedenen Zeitzeugen über ihr Verhalten im Dritten Reich geführt hat: "Was taten Sie, als ringsumher jüdische Familien verhaftet und abtransportiert wurden? Die meisten hielten Augen und Ohren verschlossen." Plötzlich ruft eine weibliche Stimme aus dem Publikum: "Aber das alles will ich überhaupt nicht mehr hören!" Das hatte ich auch noch nie erlebt bei einer öffentlichen Lesung.

SB: Liebe Frau Zwerenz, wir bedanken uns für Ihre Gastlichkeit, Ihre Offenheit und für das sehr anregende Gespräch.


Anmerkungen:

[1] Der Verleger Andreas Heidtmann betreibt die Literaturseite www.poetenladen.de

[2] Die vollständige Rede Otto Köhlers anläßlich der Gedenkfeier der Linksfraktion für ihren ehemaligen Bundestagsabgeordneten am 13. November 2015 in Berlin finden Sie, mit freundlicher Genehmigung des Autors, im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → REDAKTION → REPORT:
ZEITZEUGEN LINKS/006: Quergedacht und schwergemacht - uns bleibt doch die Weigerung ...    Otto Köhler über Gerhard Zwerenz (Otto Köhler)

[3] "Pastor Gauck als Bundespräsident wäre die deutsche Reichskriegsflagge über Berlin. Die Schande der Roten Fahne vom Mai 1945 über dem Reichstag soll ausgelöscht sein. Dazu fehlt nur noch der rechte Unrechtsstaat."
http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-29-pastor-gauck.html

[4] Am 23. März 1997 fand zur Leipziger Buchmesse im Kabarett academixer in Leipzig ein öffentliches Streitgespräch zwischen Hermann Kant und Gerhard Zwerenz statt, nachzulesen in: Hermann Kant, Gerhard Zwerenz, Unendliche Wende, Dingsda-Verlag, 1998, auch als Audio-CD.


18. Oktober 2016


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