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ZEITZEUGEN LINKS/007: Treu geblieben - Zerwürfnisse ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Logo 'Zeitzeugen links': Rote Fahne, Aufmarsch gegen die Uhr - Grafik: copy; 2016 by Schattenblick

Neubeginn und nichts vergessen

Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 1


Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man Rolf Beckers umfassendes künstlerisches Werk im einzelnen würdigen. Seit seinem Bühnendebüt an den Münchner Kammerspielen im Jahr 1957 hat er als Schauspieler am Theater, im Fernsehen und Film mitgewirkt, war Oberspielleiter, Drehbuchautor und Regisseur, Synchron- und Hörspielsprecher wie auch Sprecher zahlreicher Dokumentationen und gab Lesungen mit Musikbegleitung. Sein Name ist mit dem Bremer Aufbruch, das Theater der Zukunft zu gründen, ebenso verbunden wie mit dem Neuen Deutschen Film.

Nach seinem Verständnis kann die Aufgabe der Kunst heute nur darin bestehen, eine Welt zu schaffen, in der Kunst wieder möglich wird: "Wenn wir uns der gesellschaftlichen Debatte nicht stellen, verlieren wir den Kontakt zur Bevölkerung und geben uns selbst auf." [1] Berufliche Aktivitäten und politisches Engagement lassen sich nach seiner Überzeugung nicht trennen, und so hat der linke Gewerkschafter stets seine Stimme erhoben, wenn es galt, gegen Krieg und Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung Position zu beziehen.

Ohne Berührungsängste, selektiv beschränkte Perspektive und Rücksicht auf seine berufliche Karriere bereiste er Kriegsgebiete, setzte sich für politische Gefangene, Minderheiten und Flüchtlinge ein, leistete praktische Solidarität vor Ort. Von seinem Lebenswerk zu sprechen, verbietet sich dennoch aus einem bemerkenswerten Grund: Der heute 81jährige hat nie aufgehört, all das mit ungebrochenem Engagement und erfrischender Zuwendung zu verfolgen, was ihm am Herzen liegt. Er schreibt seine Geschichte, die zugleich die jener Menschen ist, denen er zur Seite steht, tagtäglich weiter.

Der Schattenblick veröffentlicht dieses am 18. Oktober 2016 mit Rolf Becker in seiner Wohnung in Hamburg-St. Georg geführte Gespräch in mehreren Teilen. Im ersten Teil erzählt er von seiner Kindheit im untergehenden NS-Staat in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick: Rolf, du hast deine Kindheit im untergehenden NS-Staat verbracht und den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Was waren deine prägenden Erfahrungen in dieser Zeit?

Rolf Becker: Wir haben damals in Schleswig-Holstein auf dem Bauernhof meines Großvaters gelebt, es war kein Erbhof, sondern ein gekaufter Hof. Mein Großvater war politisch relativ hellsichtig und hat als Makler für den Bremer Staat Grundstücke für die Hafenerweiterung und Ersatzhöfe für die enteigneten Landwirte aufgekauft. Von dem, was ihm an Einnahmen blieb, erwarb er um 1928 einen kleinen, wie wir sagen "Pütscher-Hof" von 28 Hektar. Er befürchtete, dass es zu einer Revanche für den Ersten Weltkrieg komme würde, und hat recht behalten. Dadurch hat er einen Teil der Familie über den Krieg gerettet. Meine Eltern wohnten damals in Stettin und brachten uns Kinder 1940 nach Schleswig-Holstein, weil mein Großvater davon ausging, dass wir dort im Norden, wenn es zum Zusammenbruch des 3. Reiches kommt, wahrscheinlich verschont bleiben würden.

Meine Erinnerungen beginnen auf diesem Hof, nur Fetzen von Erinnerungen noch an Stettin. 1941 kam ich in die Volksschule unseres kleinen Dorfes. Seit Kriegsende und Einmarsch der Alliierten gab es ein Jahr lang keine Schule. Im Frühjahr 1946 wurde ich nach Bremen zu mir fremden Leuten in Pension gegeben, um da das Gymnasium zu besuchen.

Ich war also zehn Jahre alt, als der Krieg zu Ende war. Und was in den letzten Jahren des Krieges passierte, ist bei mir einigermaßen gespeichert. Ich habe den ersten Bombenangriff, meine Großeltern kamen ja aus Bremen, dort miterlebt, 1941. Ich bekam zum ersten Mal mit, was passiert, wenn Bomben fallen. Wir saßen unten im Keller, und bei einem Einschlag in der Nähe sah ich, dass sich die Fundamente, die Grundmauern des Hauses bewegten. Aber die entscheidenden Eindrücke entstanden in Schleswig-Holstein.

Zweierlei hat sich besonders eingeprägt. Das eine war der Krieg, wir wurden zwar nicht direkt bombardiert, lagen aber in der Einflugschneise der Bomber, die aus England kamen und zunächst die mitteldeutschen Gebiete anflogen. Unvergesslich der Angriff Gomorrha auf Hamburg im August 1943. Glühende Hitze, also Bombenwetter. Geschwader auf Geschwader, mehrere Tage lang. Häufig stürzten Maschinen ab, angegriffen von deutschen Jagdflugzeugen, entledigten sich ihrer Bomben, bevor sie auf den Feldern aufschlugen oder eine Notlandung hinbekamen. Für uns Dorfjungs waren die zertrümmerten Maschinen von größtem Interesse, manchmal gelang es uns vor den zuständigen Soldaten oder der Polizei vor Ort zu sein - die Folge: ein Mitschüler aus meiner Klasse, Kind einer Flüchtlingsfamilie, verunglückte bei unserem, wie wir es nannten, Kriegsspielen, im Frühjahr 1945 tödlich. Der Krieg war eben indirekt spürbar, wir waren nicht Ziel der Luftangriffe.

Über Hamburg war der Himmel tagsüber verdunkelt durch die ungeheuren Rauchschwaden, die die Sonne im Süden verdeckten, und nachts, noch einprägsamer für uns Kinder, wie eine untergehende Sonne mit Protuberanzen die in 70 Kilometer Entfernung brennende Stadt. Das ging über mehrere Tage, die Bomberstaffeln flogen weiter und weiter. Da war auch Angst, wenn wir nachts aus dem Strohdachhaus rausgeholt wurden, Beutel mit den wichtigsten Papieren umgehängt bekamen, und dann, trotz der warmen Sommernächte dick vermummt in Pullovern und Jacken, um Kleidung zu haben falls das Haus abbrennt, in einen selbstgebauten Bunker aus Eichenstämmen, tief eingegraben in die Erde, mit Stroh abgedeckt, und dann mit Erde - ob der uns geschützt hätte, wer weiß. Und dauernd dieses dröhnende Gebrumm der einfliegenden Bombergeschwader, bei dem die Scheiben klirrten, dass wir dachten, sie zerreißen.

Der andere Aspekt waren die Verhaltensweisen der Nazi-Oberen im Dorf. Spürbar war schon für uns Kinder, dass es im Dorf zwei Fraktionen gab. Die einen, die sich mit erhobener rechter Hand, dem Hitlergruß, begrüßten. Wenn wir auf dem Schulweg einen von denen trafen und provozierend "Moin-moin" sagten, dann gings los: "Wie heißt das?" "Guten Morgen." "Wie heißt das?" Trotziges Schweigen. "Das heißt "Heil Hitler!" Wir auch "Heil Hitler!" Beziehungsweise nur "Hitler", das war ja so der übliche Gruß. Das kam zum dorfweiten Konflikt, als Asmussen, der Obernazi im Ort, und andere seinesgleichen Gefangene, vor allem russische Kriegsgefangene, verprügelten. Wir hatten auf unserem Hof einen französischen Kriegsgefangenen, Dubois, und Anton, einen Russen. Ich habe den Vorfall nicht mitgekriegt, hörte nur davon durch Gespräche. Meine Mutter war darauf zugekommen, als die Nazis, angetrunken, auf die Gefangenen in einer Scheune mit Latten einschlugen. Sie ist dazwischen gegangen, die Folge war eine Anzeige gegen sie. Am nächsten Morgen standen die berüchtigten Regenmäntel vor der Tür und holten meine Mutter ab nach Rendsburg.

Nun war die Sorge: Kommt sie ins KZ? Das muss im Oktober 1943 gewesen sein, mein Vater war kurz zuvor in Russland gefallen. Meine Mutter kam nach drei Tagen wieder. Sie hatte bei der Gestapo in Rendsburg offenbar jemanden gefunden, der einerseits nachsichtig war, aber auch ihrem Argument wenig entgegenzusetzen hatte, weil sie ihm erklärte: Wenn hier von dem Ortsgruppenführer und seinen Leuten Kriegsgefangene zusammengeschlagen werden, hat das ja zur Folge, dass die Wehrmacht schlechter versorgt wird. Hinzu kam Rücksicht auf die Tatsache, dass mein Vater ein hochrangiger Offizier und gefallen war.

Wie das später aufgearbeitet wurde, zeigte sich, als meine Mutter 1976 starb. Ich hatte dem Pastor von dieser Episode erzählt, und er hat sie in der Trauerfeier erwähnt, gesagt: Das war eine, die dagegengehalten hat. Normalerweise kommt das ganze Dorf nach einer Beerdigung in den Dorfkrug, man isst Brötchen zusammen, nachher wird Schnaps getrunken und gelästert. Es kam jedoch bis auf zwei oder drei, keiner. Das zeigt, was bis dahin an Aufarbeitung nicht stattgefunden hat.

Aus eigenen Wahrnehmungen: Auf der Eisenbahnstrecke Neumünster-Heide, die an unserem Hof vorbei führte - die Hauskoppel, unser Spielplatz, lag direkt an der Bahn - wurden Teile der V2-Raketen nach Husum transportiert, von wo sie abgeschossen wurden. Diese Strecke war also kriegswichtig und musste instandgehalten werden. Das wurde mit Häftlingen aus Neuengamme gemacht, was ich damals noch nicht wusste. Wir sahen nur diese gestreiften Anzüge, notdürftige und dünne Kleidung, in der sie arbeiteten. Manchmal kamen welche rüber geschlichen zum Hof und bettelten um Nahrung. Meine Tante hat ihnen etwas gegeben, dann krochen sie durch die Wassergräben wieder zurück. Das mussten die Nazis irgendwann mitgekriegt haben, denn wir nahmen beim Spielen plötzlich wahr, dass geschossen wurde, zweimal, und dass danach Leute weggetragen wurden - ob tot oder verwundet, kann ich nicht sagen. Aber sagen kann ich: Das Dorf wusste, was geschah. Positioniert haben sich kaum welche. Der Unterschied bestand zwischen denen, die sich sozusagen ruhig verhalten haben, sich nichts haben anmerken lassen, aber Essbares scheinbar unabsichtlich so rausgestellt haben, dass die Häftlinge rankommen konnten, ohne es selber zu übergeben, weil sie dann auch dran gewesen wären. Es gab also unausgesprochen unterschiedliche Positionierungen innerhalb des Dorfes, die NSDAP-Leute um den Ortsgruppenleiter, die Mehrheit sich kaum äußernder Mitläufer, und eine kleine Minderheit, die in den letzten Kriegsjahren begann, sich vorsichtig miteinander zu verständigen, öffentlich aber allenfalls dann und wann mal die eine oder andere Bemerkung wagte.

Ein Vorfall, den ich nur aus Gesprächen der Familie erinnere: Der jüngste Sohn einer Bauernfamilie, deren Hof neben unserer Schule lag, war gegen Kriegsende nach seiner Festnahme, wie es hieß wegen Fahnenflucht, entkommen, kurz darauf aber wieder verhaftet worden. Erneut gelang ihm die Flucht, er sprang auf der Fahrt von Neumünster nach Hamburg aus dem fahrenden Zug, war danach wochenlang nicht auffindbar. Der elterliche Hof wurde durchsucht und um die Uhr bewacht. Irgendwann dann fiel ein Schuss - er hatte sich, ob aus Rücksicht auf seine Eltern oder weil er für sich keinen Ausweg mehr sah, das Leben genommen. Nicht nur damals, auch seitdem wurde nie offen darüber gesprochen.

Nach häufigen Tieffliegerangriffen, um den 8. Mai herum, vermutlich wenige Tage davor, der Einmarsch der britischen Armee im Dorf, das Dröhnen der heranrollenden Panzer war zu hören lange bevor sie zu sehen waren. Im Dorf war seit einigen Tagen eine kleine Einheit deutschen Militärs, zum Teil auch bei uns auf dem Hof, in Zelten. Es hieß zur Verteidigung, wahrscheinlich aber auf der Flucht. Schon bevor die Engländer kamen, hatten sie Funkgeräte, Waffen und Munition auf unserer Hauskoppel eingegraben, vermutlich liegen die da heute noch.

Asmussen hatte den Volkssturm mobilisiert. Die Knicks, mit Sträuchern bewachsene Erdwälle zwischen den Feldern, die den Wind zwischen den beiden Meeren abhalten, waren im Winkel durchstochen, damit die Verteidiger, egal von welcher Seite geschossen wurde, auf die andere Seite ausweichen konnten. Wir, einige Jungs aus der Nachbarschaft, standen neugierig dahinter auf dem Feld. Waffen, Panzerfäuste, alles war da. Das Dröhnen der Panzer nahm zu, der Boden zitterte, sie waren noch einen guten Kilometer weg, noch nicht zu sehen, nur hörbar. Als sie sichtbar wurden, ließ der deutsche Befehlshaber, ein Unteroffizier oder Feldwebel, die Soldaten auf der Straße antreten, rief den Volkssturm raus, alte Männer, auch uns Kinder: "Alle Waffen auf die Straße, Schluss." Asmussen schrie, das sei Verrat. Der Feldwebel, oder Unteroffizier ging ruhig auf ihn zu, dann knallte er ihm, dem Tischler und Wagenmacher, rechts und links ein paar, wie uns Kindern schien, fürchterliche Ohrfeigen, und der große Nazi rannte heulend zurück ins Dorf. Das war die Niederlage.

Die Panzer kamen näher, der deutsche Feldwebel, oder was er war, ging ihnen mit einem kleinen Stock und einem weißen Tuch oben dran entgegen, blieb auf der Straße stehen. Sie ließen ihn herankommen, stiegen aus, er wurde abgetastet, die Übergabe des Dorfes erfolgte vollkommen friedlich. Die Soldaten verhielten sich ruhig, die Waffen wurden eingesammelt und von den Engländern verladen. Damit war das Dorf raus. Wenn da noch ein Schuss gefallen wäre in diesen letzten Kriegstagen, hätten sie das Dorf abgeräumt. Dem Feldwebel ist zu danken, er hat zumindest ein ganzes Dorf gerettet, egal, was er vorher gemacht hatte. Er hat kapiert, was Sache war, und die Situation richtig eingeschätzt: seine Leute gerettet und das Dorf.

Soweit diese ergänzungsbedürftige Skizze. Ich sage mir oft, du bist ja nicht der einzige dieser Generation, andere haben diese Zeit auf weit schlimmere Weise durchlebt. Nur - warum sind kaum Konsequenzen gezogen worden?

Dass ich nicht eingeschwenkt bin auf das weitgehende Selbstverständnis der neugegründeten Bundesrepublik, in der es an Aufarbeitung des Faschismus mehr als mangelte, hat mit meinem Elternhaus zu tun. Mein Großvater gehörte - und der wieder hatte zur Orientierung meiner Mutter beigetragen - 1919 zu den Verteidigern der Bremer Räterepublik. Mein Vater hingegen war Nationalist und Stahlhelm-Mann, der die Bremer Räterepublik auf Seiten der Gerstenberger [2] mit niedergekämpft hat. Es hat sich viel später herausgestellt, dass die beiden an der gleichen Barrikade gegeneinander gekämpft haben, an der Ochtum-Brücke bei Bremen-Huchting, etwa acht Kilometer vor der Stadt. Darüber gab es, als mein Vater in einem seiner letzten Urlaube zu Hause war, eine heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden, Anlass war eine Diskussion über den Kriegsverlauf. Mein Vater zu meinem Großvater: "Die Splitter von eurer Handgranate, unter denen leide ich heute noch." Darauf mein Großvater: "Wo hast du die Handgranate denn hingekriegt? In den Rücken, weil du weggelaufen bist!" Großer Krach, es flogen Teller.

Trotz dieser widersprüchlichen Positionen hielt die Familie zusammen, hat sich wechselseitig nicht verpfiffen. In der guten Stube, die sonst nur bei besonderen Anlässen betreten wurde, hing mein Großvater, akustisch abgeschirmt mit einer Pferdedecke, täglich am Volksempfänger. Die Rückseite der schwarzen Hülle aus Bakelit nahm er ab, dann das Band zur Sendereinstellung, so dass durch Drehen der Spule per Hand die gewünschte Sendereinstellung möglich wurde. Entweder das "Bam-bam-bam-bám, bam-bam-bam-bám", die Anfangstakte aus Beethovens 5. Sinfonie, das Signal der deutschsprachigen Nachrichten des britischen Senders BBC, ab 1945 mit den Thomas-Mann-Reden "Deutsche Hörer!", oder nach dem Tatataá-tatatatatataáta, der russischen Hymne von Radio Moskau, die Berichte über die Ereignisse an der Ostfront. Er verglich das Gehörte mit den Siegesmeldungen der Nazisender, eingeleitet mit Nationalhymne, Horst-Wessel-Lied, oder irgendwelchen Fanfarenklängen, und gewann so ein differenzierteres Bild des Kriegsverlaufs. Meine gelegentliche Anwesenheit schien ihn nicht zu stören, entweder weil er mir vertraute, wahrscheinlicher, weil er davon ausging, ich bekäme nicht wirklich was mit.

Durch ihn angeregt war meine Mutter Anfang der 1929er Jahre in Kontakt mit Heinrich Vogeler [3] gekommen - dadurch haben wir noch einige Radierungen von ihm -, der in Worpswede eine Kommune aufzubauen versucht hat. Sie war oft rausgefahren zu den Schulungen, die Hermann Duncker [4] und Hermann Böse [5] damals machten. Sie war also links orientiert. Dass es zur Ehe mit meinem Vater gekommen ist, der damals noch deutsch-national orientiert war, hat sich vermutlich aus Auseinandersetzungen zwischen beiden ergeben, wenn sie morgens zusammen mit dem Zug vom Vorort Huchting zur Arbeit nach Bremen gefahren sind. Gesprochen hat sie darüber nur andeutungsweise.

Die Widersprüche innerhalb der Familie haben dazu beigetragen, dass ich früh mit unterschiedlichen Standpunkten konfrontiert war. Einerseits war ich damit überfordert, andererseits gefordert selber zu denken. Die Nazi-Ideologie war kaum Thema. Wir wussten schon als Kinder recht genau, über das und das wird nicht gesprochen, lernten auch, uns nicht aus der Reserve locken zu lassen, beispielsweise im Schulunterricht, wenn gefragt wurde: Welche Witze werden denn zu Hause erzählt? Oder: Dein Vater war doch gerade bei Euch zuhause in seinem Urlaub, was hat er denn so erzählt? Dieses Aushorchen. So entstand eine Art schützendes Misstrauen, eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allem, was ich außerhalb der Familie wahrnahm.

Franz Josef Degenhardt hat gesagt, wir waren keine Mitmacher-, wir waren eine Zuschauer-Generation, zu jung für den Krieg, aber schon in der Lage aufzunehmen, zumindest erfahrungsgemäß, erlebnismäßig, was sich abspielte. Degenhardt meinte, das hat uns angeregt, auch später genau hinzuhören, genau hinzugucken und kleinste Zeichen wahrzunehmen und zu reflektieren, was war und was ist. Ich denke, das ist auch ein Ansatz zum Verstehen, warum viele unserer Generation sich bis heute bedeckt halten, sich scheuen, das vorgegebene bürgerliche Denken zu verlassen.

(wird fortgesetzt)


Rolf Becker im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://archiv.labournet.de/krieg/zgk_21.html

[2] Wilhelm Gerstenberg (1863-1945) war ein deutscher Generalmajor und wurde 1919 durch den Einsatz der Division Gerstenberg bei der Niederschlagung der Bremer Räterepublik bekannt.

[3] Heinrich Vogeler (1872-1942) war ein deutscher Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialist. Der vielseitig begabte Künstler ist besonders durch seine Werke aus der Jugendstilzeit bekannt geworden. Er gehört zur ersten Generation der Künstlerkolonie Worpswede.

[4] Hermann Ludwig Rudolph Duncker (1874-1960) war Mitbegründer des Spartakusbundes und gehörte 1918 zu den Gründern der KPD. Er war Gründer und Leiter der Berliner Marxistischen Arbeiterschule.

[5] Hermann Böse (1870-1943) war Musiklehrer, Dirigent und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus.


11. Dezember 2016


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