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EDITORIAL/112: Konspiration mit dem Wind (SB)



Wochendruckausgabe 112 der Elektronischen Zeitung Schattenblick zum 17.11.2018


Aufgeschlagene Schattenblick-Zeitung in den Händen eines Lesers - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

Konspiration mit dem Wind

1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden.
2 Der kam zu Jesus bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn, Gott mit ihm.
3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?
5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.
6 Was von Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.
7 Laß dich 's nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden.
8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.
9 Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann solches zugehen? 10 Jesus antwortete und sprach zu ihm: "Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht?
11 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.
12 Glaubt ihr nicht, wenn ich zu euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu euch von himmlischen Dingen sage?
13 Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel niedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn.
(Neues Testament, Johannes Evangelium, Kapitel 3, Vers 1-13, Jesus und Nikodemus)

Er kam heimlich, und er kam in der Nacht, ließ ihm doch sein Auftrag keine andere Wahl. "Wir wissen", sprach er den Unruhestifter an, "du kämpfst für die gleiche Sache wie wir, wie sonst solltest du so einflußreich und beliebt bei den Menschen sein?"

Der Angesprochene wußte nur zu gut, daß es um den Widerstand gegen die römische Besatzung ging, und entgegnete ohne Umschweife: "Solange ihr noch an überkommenen Ansprüchen und Vorstellungen festhaltet und in der Hauptsache an die eigene Herrschaft denkt, werdet ihr nie die Freiheit von euren Feinden und Euresgleichen erringen."

Darauf meinte der heimlich Gesandte: "Wie die Freiheit denn gebrauchen ohne Recht und Gesetz, ohne Besitzstand und Arbeit? Wie sollten wir sie schützen, wenn nicht durch eine starke Ordnung, auf daß sie uns nicht genommen werde?"

Der Nazarener aber sagte und sprach:

"Nur diejenigen, die in Bewegung bleiben, weil sie nicht durch Besitz und Beteiligung gefesselt sind, werden für diese Freiheit auch geboren. Sie sind wie das Wasser, das, durch nichts zu entzweien, überall hingelangt, und ihre Macht ist wie der Wind, der durch nichts zu halten, zu brechen, vorherzusagen oder einzufangen ist. Die Wahrheit ist, daß du und die Deinen eine solche Freiheit ebenso fürchten wie der Feind, der unser Land besetzt hält.

Von mir könnt ihr auch nicht mehr erfahren als das, was ihr längst bemerkt habt. Der Geist der Freiheit ist wie der Wind, ihr hört sein Sausen wohl und allerorten, aber ihr werdet ihn nicht packen können, weder durch ein heimliches Bündnis noch, indem ihr mich tötet.

Es liegt in der Natur dieses Geistes, daß er vom Reichtum weder bestochen noch beeindruckt werden kann. Ihr hört ihn wohl kommen und greift nach seinem Echo, aber ihr könnt ihn oder die Seinen nicht treffen, weil ihr seine Heimat nicht kennt und seine Freiheit nicht versteht. Ihr wißt nicht, wo er herkommt, und ihr seid außerstande zu sagen, wann er euch trifft. Niemand kann für die ganze Freiheit kämpfen oder für sie einstehen, es sei denn, er hat sie bereits erreicht.

Ausschließlich der in Freiheit geborene Mensch hält sie für andere bereit und nur diejenigen, die aus der Heimatlosigkeit des Wassers und dem Geist der Land- und Besitzlosen ihre Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Menschen richten, können diese Sicherheit und Klarheit in ihren Taten erreichen. Denn wahrhaftig, ich sage dir, die von Vorteilsstreben, Vergleichen, Besitzständen und Berechenbarkeit geborenen Ideen und Wünsche können nur geteilte, kalkulierte und zu Unterschieden geordnete Ideen und Verhältnisse gebären. Allein der Geist der Heimat- und Besitzlosen könnte die Freiheit von allen Vorteilen und Nachteilen und von allen Herrschaftsordnungen und Unterwerfungen gebären."

(aus: Helmut Barthel: Ein Zimmermann in der Wüste. Es begab sich aber vielleicht auch ... Eine heitere Exegese neutestamentarischer Begebenheiten, MA-Verlag 2016, Seite 13)

Ihre Schattenblick-Redaktion


16. November 2018


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