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KIRCHE/460: Orthodoxe und Katholiken in Rußland (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 12/2006

Noch kein Tauwetter
Orthodoxe und Katholiken in Russland

Von Gerd Stricker


Die Katholiken sind in Russland nur eine kleine Minderheit. Dennoch werden sie von orthodoxer Seite mit Argwohn betrachtet. Massive antikatholische und antiökumenische Vorurteile beherrschen weithin die Szene. Es gibt durchaus gute Alltagskontakte zwischen Katholiken und Orthodoxen, doch selbst sie gestalten sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung schwierig.


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Als der Heilige Stuhl am 11. Februar 2002 die Apostolischen Administraturen auf dem Boden der Russländischen Föderation (Moskau/Nördliches Europäisches Russland, Saratow/Südliches Europäisches Russland, Nowosibirsk/Westsibirien, Irkutsk/Fernost) zu vollberechtigten Diözesen erhob, reagierte die Russische Orthodoxe Kirche mit äußerster Heftigkeit. Wie könne eine "Schwesterkirche", als die sich die römische Kirche gern bezeichne, auf dem "Kanonischen Territorium" der Russischen Orthodoxen Kirche ungehemmtem katholischem Proselytismus Tür und Tor öffnen, wie dies durch die Diözesanstruktur möglich werde? Die Beziehungen zwischen römisch-katholischer Kirche und Moskauer Patriarchat waren erheblich gestört; von tief greifenden Verletzungen war die Rede.

So äußerte sich beispielsweise der orthodoxe Erzbischof von Pskov in einem empörten Brief an Präsident Vladimir Putin zur katholischen Diözesanstruktur (März 2002): "Das ist eine Aggression, eine Herausforderung des russischen Volkes. Mit unseren Tränen und unserem Blut haben wir unser Vaterland - und damit den Glauben unserer Ahnen - verteidigt. Jeden fremden Versuch, russisches Land zu erobern, hat unser Volk immer als Versuch verstanden, unseren Glauben zu vernichten, und es hat weder Kräfte noch Leben geschont, um ihn zu verteidigen. [...] Jetzt können sich in unserem Lande jene [= die Katholiken] ungehindert entfalten, gegen die unsere Vorfahren gekämpft haben. [...] Russland braucht keine katholische Mission. Herr Präsident, gestatten Sie der römisch-katholischen Kirche nicht, in Russland zu wirken! Wir bitten Sie: Verhindern Sie mit allen Mitteln, dass sie ihre Eroberungsziele verwirklicht!"

Orthodoxe Demonstranten, die sich vor katholischen Kirchen postierten und Katholiken beschimpften, führten Plakate voll markiger Losungen mit sich, beispielsweise: "Wo der Vatikan ist, dort ist Blut!", "Wir protestieren gegen die Eroberung Russlands durch den Vatikan!", "Rom will die Orthodoxie verschlingen!", "Nieder mit der katholischen Expansion in Russland!", "Katholische Häresie - raus aus Russland!" usw.

Kardinal Walter Kasper hat jahrelang daran gearbeitet, das gestörte Verhältnis zur Führung des Moskauer Patriarchats zu normalisieren. Auf oberster Ebene ist dies so weit gediehen, dass Bischof Clemens Pickel (Saratow), der aus dem Bistum Dresden-Meißen stammt, am 18. Oktober 2006 in einem Interview erklären konnte: Die Beziehungen zwischen Russisch-Orthodoxer und katholischer Kirche hätten sich in jüngster Zeit deutlich gebessert; der Dialog intensiviere sich; er persönlich habe in seiner Diözese herzliche Kontakte mit orthodoxen Bischöfen, Priestern und Mönchen. Die Russische Kirche spüre, dass ihr wirklicher Gegner heute nicht die katholische Kirche, sondern die Säkularisierung ist.


Historische Altlasten haben Mentalitäten geprägt

Die Frage stellt sich, wie es um die "geschwisterlichen" Beziehungen zwischen orthodoxer und katholischer Kirche auf russischem Boden insgesamt bestellt ist: Erfassen sie das ganze Kirchenvolk - oder aber nur die Hierarchie. Vergegenwärtigt man sich, was orthodoxe Russen und katholische Polen für historische Altlasten in ihren Mentalitäten gespeichert haben, fällt es schwer zu glauben, dass sich das in fünf Jahren geändert haben soll. Polnische Katholiken und russische Orthodoxe nehmen die gemeinsame konfliktreiche Geschichte jeweils auf ihre Weise wahr, jeder sieht sich als historisches Opfer der "anderen". Die Kirchenspaltung von 1054 wurde auf ostslawischem Boden anfangs gar nicht zur Kenntnis genommen. Die Probleme entfalteten sich auf anderen Feldern. Die "russischen" Lande lebten seit dem 13. Jahrhundert unter ständiger Bedrohung durch den katholischen Westen, der seine Vorstöße nach Osten mit der Mission unter der dortigen orthodoxen Bevölkerung begründete. So mussten sich die Fürsten von Nowgorod im 13. Jahrhundert der Bedrohung durch schwedische und deutsche Ritterheere erwehren.

Es blieb die existentielle Bedrohung der "russischen" Lande durch den polnisch-litauischen Westen. Denn etwa seit dem Jahre 1300 kann das Verhältnis der Russen zu ihren polnischen und litauischen Nachbarn nicht anders als eine Art "Erbfeindschaft" bezeichnet werden: Ein Jahrhundert, nachdem um 1250 die Tataren das seit 988 orthodoxe Kiewer Reich zerstört hatten, entrissen ihnen Litauer und Polen zentrale Gebiete des einstigen Kiewer Reiches: heute Weißrussland und die Ukraine. Den Moskauer Großfürsten und Zaren galten sie als "Vätererbe" - als Verpflichtung, diese Territorien Polen-Litauen wieder abzunehmen; das war über Jahrhunderte die Dominante der moskowitischen Außenpolitik.

Dass sich 1596 unter polnischem Druck in den einst Kiewer orthodoxen Gebieten viele orthodoxe Bischöfe Rom unterstellten und damit die mit Rom "Unierte Kirche" begründeten, sorgt bis heute für heftige anti- katholische Gefühle in der Orthodoxie: "Die Union ist ein Stachel im Fleische der Orthodoxie!" Schließlich sind im kollektiven russischen Gedächtnis die Jahre 1610 bis 1612 als tiefe Schmach eingegraben, da die Polen Moskau besetzt hatten und in den Kremlkirchen katholische Messen feierten.

Damit war die Zeit der Demütigung der orthodoxen Moskowiter durch die katholischen Polen zu Ende. Nun schlug das Pendel in die andere Richtung. Seit 1656 gliederten die Moskauer Zaren (seit 1700: die Petersburger Kaiser) das "Vätererbe" stückweise ihrem Reich ein; den größten Teil nach den Teilungen Polens (1772, 1793, 1795). Der Wiener Kongress (1815) sprach zudem den größten Teil des polnischen Staatsgebiets dem Russischen Reich zu. Sofort setzten weitgehende Russifizierungsmaßnahmen ein; polnische Aufstände (1830, 1863) wurden blutig unterdrückt.

In den neuen russischen Westgebieten, wo römisch- und griechisch- katholische Bevölkerungsanteile die Mehrheit bildeten, gestalteten sich die Beziehungen zwischen Heiligem Stuhl und Petersburger Regierung hochproblematisch: Es kam zum Dauerkonflikt, weil Petersburg versuchte, die katholischen Diözesen zu einer gefügigen Staatskirche umzugestalten. Zum Ärger der Regierung war diesen Versuchen nur wenig Erfolg beschieden. Die katholische Kirche war, trotz der Gründung eines neuen Suffraganbistums "Tiraspol" für die katholischen Russlanddeutschen mit Sitz in Saratow/Wolga, seitens der Regierung ständigen Schikanen - viel einschneidenderen als etwa die Lutherische Kirche - ausgesetzt.


Wie stehen Katholiken und Orthodoxe heute zueinander?

Die Sowjets übernahmen intuitiv die antikatholischen Ressentiments aus der Zarenzeit und führten die Diskriminierung der Katholiken weiter. So wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die katholische Kirche fast in der gesamten Sowjetunion in den Untergrund gedrängt, wohingegen die Russische Orthodoxe Kirche auf religiöser Ebene im Ausland die offizielle Sowjetunion repräsentierte (etwa in ökumenischen Gremien). Außer in Litauen und Lettland wurden nur wenige Dutzend Gemeinden "registriert", eine diözesane Struktur wurde nicht gestattet. Hunderttausende Katholiken in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien mussten sich - immer unter der Gefahr der Verhaftung - in Untergrundgemeinden sammeln.

Lediglich in Riga gab es ein katholisches Priesterseminar - und zwar für die gesamte Sowjetunion (dasjenige in Kaunas war nur für Litauen vorgesehen). Zu Sowjetzeiten wurde die katholische Kirche immer als konterrevolutionäre Institution angeprangert. In den Augen der einstigen "homines sovietici" sitzt bis heute dieses katholische Negativ-Image sehr tief und verdichtet sich zusammen mit den historisch gewachsenen antirömischen Ressentiments zu einem antikatholischen Komplex, der bei jeder Gelegenheit in Aggression umschlagen kann.

Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz (Moskau) sprach Anfang Oktober 2006 von 600000 Katholiken in Russland (etwa 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung von 145 Millionen); viele meinen, die wirkliche Zahl liege viel tiefer (nicht zuletzt nach dem Exodus der Russlanddeutschen). Mit 225 Gemeinden sei zu rechnen. So ist die katholische Kirche in der "Russländischen Föderation" statistisch eine Quantié négligeable. Wenn von russischer Seite gegen sie polemisiert wird, geht es nicht um die Zahl ihrer Glieder, sondern darum, dass die katholische (und erst recht die Griechisch-katholische) Kirche auf dem "Kanonischen Territorium" der Russischen Orthodoxen Kirche nichts zu suchen habe.

Es erhebt sich die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen Orthodoxen und Katholiken nach dem 11. Februar 2002 entwickelt haben. Wegen der unendlichen Weiten Russlands und wegen des Gegensatzes zwischen Stadt und Land sind die Unterschiede groß. Auch ist zwischen weltlicher beziehungsweise kirchlicher Intelligenz und Menschen mit niedrigerem Bildungsstand zu unterscheiden. Und unter Katholiken sind die verschiedenen ethnischen Mentalitäten (Polen, Deutsche, Balten, die wenigen Russen) zu berücksichtigen.

Aber die Gemeinsamkeiten unter diesen ethnischen und religiösen "Mini- Minoritäten" sind prägender: Es gibt ein "kollektives Bewusstsein" der Katholiken in Russland. Seitdem Putin den russischen-orthodoxen Patriotismus zum Kern der neuen russischen Staatsideologie gemacht hat, sind unter orthodoxen Russen die antikatholischen Ressentiments wieder leichter zu mobilisieren (vergleichbare anti-lutherische Emotionen in Russland sind gar nicht vorstellbar).

Um trotz dieser Einschränkungen eine gewisse Vorstellung von der Situation an der orthodoxen und an der katholischen Basis zu gewinnen, wurden für diesen Artikel aus dem Bekanntenkreis russisch-orthodoxe und römisch-katholische Geistliche gebeten, ihre Haltung gegenüber der je anderen Kirche darzulegen und weitere Kollegen und vor allem Laien hinzuzuziehen. Absolute Anonymität wurde zugesichert.

Der Rücklauf hielt sich in Grenzen. Offenkundig haben Menschen mit klaren Aversionen gegen die je andere Kirche gar nicht geantwortet, da die Anfrage eindeutig aus dem Westen kam. Trotzdem sind die eingegangenen Antworten aufschlussreich - wie orthodoxe Priester Kritik an orthodoxen Institutionen hinsichtlich des Umganges mit Katholiken üben. Oder wenn sowohl orthodoxe als auch katholische Laien erklären, gute Beziehungen zu Gliedern der je anderen Kirche zu pflegen, und sich wünschen, beide Kirchen mögen doch den Streit, den sie als Laien überhaupt nicht verstünden, endlich beilegen. Gebildete Laien wiederum meinen hinsichtlich der orthodox-katholischen Konfrontation, es handele sich doch nur um Politik. Es wird auf gute katholisch-orthodoxe Mischehen hingewiesen; vor allem in Großstädten stoße man auf katholische Taufpaten für orthodoxe Kinder und umgekehrt. Katholiken weisen auf ein häufig unkompliziertes Miteinander an der Basis hin.

Auf katholischer Seite spürt man stets die Position des "underdog", die Mentalität der einst verfolgten beziehungsweise deportierten Minderheiten: Deutsche, Polen, Balten. Sie hegen gegenüber den Russen noch immer unterschwellige Ängste und suchen deshalb gute Beziehungen zum Staatsvolk, die für sie die beste Grundlage gedeihlicher Existenz auf dem "Kanonischen Territorium" der Russischen Kirche darstellen. Ein katholischer Priester meinte, 98 Prozent aller Katholiken bezeugten höchsten Respekt vor der orthodoxen Kirche.


Katholiken fühlen sich missverstanden

In orthodoxen und katholischen Zuschriften fand sich - unterschiedlich formuliert - der Hinweis, dass die Aussage von Bischof Pickel, es habe sich seit dem Tiefpunkt des Jahres 2002 auf orthodoxer Seite etwas zum Guten verändert, wohl nur auf einen Teil des orthodoxen Episkopats zutreffe. Laien beider Konfessionen beklagen, dass die Solidarität von Orthodoxen und Katholiken unter der sowjetischen Verfolgung nach dem Zerfall der Sowjetunion schnell verloren gegangen sei.

Katholische Pfarrer meinen unumwunden, eine Bestätigung der optimistischen Situationsbeschreibung kirchenleitender (orthodoxer und katholischer) Kreise stehe aus; sie spürten keinerlei Verbesserung der Beziehungen. Auch im Jahre 2006 sei die Bereitschaft orthodoxer Priester zum Gespräch mit katholischen "häretischen" Pfarrern überaus gering. Auch die meisten orthodoxen Bischöfe, die man in der Provinz kenne, verhielten sich katholischen Priestern und Laien gegenüber verhüllt oder demonstrativ ablehnend.

Diese Einstellung wird auf die Ausbildung an orthodoxen Bildungsstätten zurückgeführt, wo den Seminaristen eine antikatholische Einstellung eingeimpft werde. Ein einziger Fall wird erwähnt, wo ein orthodoxer Pfarrer seinen katholischen Kollegen zur Osterliturgie und zur anschließenden Agape eingeladen hat. Katholische Pfarrer weisen auf leider ganz seltene theologische Gespräche mit orthodoxen Kollegen hin. Aber: Diese Gespräche müssen heimlich stattfinden, und die orthodoxen Geistlichen bäten inständig, niemanden von diesen Gesprächen zu erzählen - sie fürchten um ihren guten Ruf in der Gemeinde, bei ihren orthodoxen Kollegen und vor allem bei ihrem Bischof.

"Wie sollen wir denn mit Orthodoxen einen Dialog führen, wenn keiner mit uns sprechen will?" Diese Frage zieht sich durch alle katholischen Äußerungen. "Man wirft uns 'Proselytenmacherei' und Mission vor. Das ist haltlos. Wir wenigen Priester sind mit der Seelsorge an Menschen mit katholischen Wurzeln, die unter dem Druck des Sowjetregimes den Väterglauben verloren haben, völlig überlastet. Zum Missionieren fehlen uns die Kräfte. Allerdings weisen wir Menschen mit katholischen Wurzeln, die orthodox getauft sind, weil es seinerzeit keine katholischen Priester mehr gab, nicht zurück, wenn sie zu uns kommen möchten. Russen, die mit uns in Verbindung treten, schicken wir prinzipiell in die orthodoxe Kirche. Wenn sie dann aber wiederkommen und erklären: Wir wollen bei Ihnen in der katholischen Gemeinde leben!, dann können wir sie nicht abweisen."

Wenn katholische Priester mit orthodoxen Amtskollegen sprechen wollen, werden sie meist mit einer Reihe von Vorwürfen aus dem Haus komplimentiert: Ein Gespräch mit Katholiken sei reine Zeitverschwendung und für das Seelenheil eines Orthodoxen gefährlich, denn Katholiken seien Schismatiker, mit denen man nicht einmal beten dürfe; der Vatikan wolle Russland, die Ukraine und Weißrussland "katholisch machen"; deshalb wollten katholische Priester in diesen Ländern nichts anderes als missionieren und Orthodoxe abwerben.

Die Ökumene ("Ökumenismus") sei ein Irrweg: Die Orthodoxie allein sei der wahre Glaube, den die katholische Lehre verfälscht und zur Häresie gemacht habe. "Trotz der Kreuzzüge und trotz der Inquisition bleibt der Sieg unser: Gott ist mit uns!" Darüber hinaus sind die Verurteilung des "Filioque" und des Dogmas von der "Unfehlbarkeit des Papstes" (in orthodoxer Interpretation) Stereotypen orthodoxer Katholizismus-Kritik.


Persönliche Begegnungen sind schwierig

Dass nicht der gesamte orthodoxe Episkopat um Verständigung mit der katholischen Kirche bemüht ist, mögen nur zwei Beispiele - echter "hardliner" - belegen, denen man zahllose andere anfügen könnte. Erzbischof Tichon von Nowosibirsk hatte bereits 2001, also vor dem "Eklat" vom 11. Februar 2002, erklärt, er werde künftig keine öffentliche Veranstaltung besuchen, zu der auch der katholische Bischof (Joseph Werth) eingeladen sei. Seitdem dürfen die Behörden den orthodoxen und den katholische Bischof nicht mehr gemeinsam einladen. Metropolit Vladimir von Taschkent bezeichnete 2003 in der "Izvestija" Johannes Paul II. als "kalten, grausamen Politiker in der Maske eines frommen Greises, der zum Kreuzzug gegen Moskau aufgerufen hat".

Es haben dem westlichen Fragesteller (verständlicherweise) nur solche orthodoxe Priester und Laien geantwortet, die offen sind für katholische Belange und eine Verbesserung der Situation wünschen: Sie beurteilen das orthodoxe Vorgehen gegenüber Katholiken kritisch und weisen auf folgendes hin: Das vielleicht schwierigste Hindernis für Orthodoxe, Katholiken kennen zu lernen, liege darin, dass es so wenige Katholiken in Russland gibt, besonders in der Provinz. Persönliche orthodox-katholische Begegnung ist aus statistischen Gründen schwierig und geschieht eher zufällig.

Es wird betont, das der "Normal-Russe" von der katholischen Kirche wenig weiß. Die Medien überschwemmen ihn mit undifferenzierten Informationen. Zwar ist in der säkularen und der gesamtrussischen Presse das Bemühen um Objektivität erkennbar; jedoch erscheint in der kirchlichen und in der regionalen Presse (und fast nur sie steht dem Bürger in der Provinz zur Verfügung) die katholische Kirche meist völlig entstellt; positive Berichterstattung ist selten. Die regionalen Medien bedienen eine Bandbreite zwischen Misstrauen bis Hass auf alles Katholische. Charakteristisch ist der polemische Ton, der mit Blick auf Katholiken angeschlagen wird. Seit den neunziger Jahren wird in großen Mengen orthodoxe Literatur aus der Zarenzeit nachgedruckt und vor allem in Kirchenkiosken verkauft. Diese Werke strotzen nur so von anti-katholischen Äußerungen.

Konkrete Kenntnisse über die katholische Kirche besitze der "Normal- Orthodoxe" nur wenige, zum Beispiel dass das Oberhaupt der Katholiken der Papst im Vatikan und der Klerus unverheiratet ist. Am wichtigsten sei: Die katholische Kirche ist der Hauptfeind der Orthodoxie. Orthodoxe - schrieb ein orthodoxer Priester - erkennen die katholische Kirche oft gar nicht als christlich an (schon gar nicht als Verkörperung der großen Tradition des westlichen Christentums), sondern verachten sie wegen ihres Abfalls von der Orthodoxie 1054. Man hält Katholiken nicht für fromm, da sie von der strengen liturgischen und Fastenpraxis der Orthodoxie abweichen. Dass die katholische Kirche im Sowjetstaat zahllose Märtyrer hervorgebracht hat, interessiert kaum einen Orthodoxen.

Das negative Urteil der Orthodoxen über den Katholizismus entsteht weniger durch Medien und Bücher, sondern wird geprägt einerseits durch die öffentliche Meinung, andererseits durch das soziale Umfeld: Nachbarn, Kollegen, Parteien, Vereine - und natürlich durch die Pfarrgemeinde. Gängige Meinungen und anti-katholische Stereotypen werden übernommen und weitergegeben. Natürlich will man Konflikte mit seiner Pfarrgemeinde vermeiden; viele schimpfen deshalb weiter auf Katholiken, selbst wenn sie persönlich gute Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Mit sympathischen Berichten darüber würden sie gegen den orthodoxen Strom schwimmen müssen.

Vor allem stehen die meist konservativen orthodoxen Priester allem Katholischen negativ gegenüber und leiten in diesem Geist ihre Gemeinden. Diese Haltung wird künftigen Geistlichen bereits am Priesterseminar anerzogen. Deren Zahl (über 70) täuscht: Die meisten Anstalten sind noch im Aufbau; der Lehrkörper ist oft nicht qualifiziert; als Lehrbücher dienen vielfach die erwähnten Nachdrucke aus dem 19. Jahrhundert, die von Grund auf anti-ökumenisch und vor allem anti-katholisch sind. Orthodoxe Fachliteratur, die sich seriös mit der katholischen Kirche, ihren Glaubensinhalten und ihrer Geschichte auseinandersetzt, sei ausgesprochen selten. Damit die Priesterschaft von neuem Geist beseelt wird, müssen (so schreiben orthodoxe Priester) sich die gesamte Ausbildung an den Seminaren und das geistige Klima dort ändern. Das ist aber vorerst weder möglich noch bald zu erwarten.


Ein Papstbesuch wäre hilfreich

Orthodoxe Priester reagieren unwirsch, wenn sie von katholischen Kontakten ihrer Gemeindeglieder erfahren. Grundsätzlich untersagt sind diese aber nicht. Orthodoxe scheuen auch die Annäherung an Katholiken, weil sie um ihre orthodoxe Selbstidentifikation fürchten und Angst haben, dass die Gemeinde ihr Verhalten missbilligt. Wahrer Christ könne man eben nur in einer orthodoxen Gemeinde sein. In diesem Kontext sagt auch der Hinweis manches aus, dass der ethnisch russische Katholik das Image eines Verräters hat: Er habe sich von seinen orthodoxen Grundlagen entfernt und sich einer fremden (eigentlich feindlichen) Kultur zugewandt.

Mit Katholiken haben Orthodoxe zuweilen auf kirchlich-humanitärer Basis zu tun. Echte Annäherung fände aber auch hier nicht statt, weil Orthodoxe die katholische Konkurrenz fürchten: Zwar sei die katholische humanitäre Hilfe in Russland eine gute Sache, doch sei sie manchmal über den katholisch-kirchlichen Rahmen hinausgegangen, auch habe es einige Fälle von Proselytismus gegeben. Neben der guten Aufbauarbeit sei von katholischer Seite nach dem Ende der Sowjetunion natürlich nicht alles richtig gemacht worden. Der springende Punkt sei aber: Katholische Fehler würden von orthodoxer Seite aufgebauscht, um Vorurteile zu bestätigen und neue Vorwände zu haben, gegen Katholiken herzuziehen.

Am besten wäre es natürlich, wenn es zu Kontakten zwischen Priestern beider Konfessionen käme. Solche sind aber seitens der konservativen Bischöfe unerwünscht; sie üben Druck auf die Priester aus - ebenso wie die in der Regel absolut antiökumenisch eingestellten Gemeinden. Von Gemeindegliedern werde, so schreibt ein orthodoxer Priester ausdrücklich, der Geistliche belauert, jeder in ihren Augen falsche Schritt, etwa auf einen katholischen Priester zu, werde ihm angekreidet. Deshalb brauche der orthodoxe Priester großen persönlichen Mut, wenn er sich mit einem katholischen Kollegen austauschen möchte. Eine Ausnahme von dieser Regel bilden die wenigen "liberalen" Gemeinden wie die an der Kirche "Kosmas und Damian" in Moskau mit den Priestern Georgij Tschistjakow und Alexander Borisow. Hier findet sich auch eine ökumenisch ausgerichtete Buchhandlung.

Die russisch-orthodoxe Hierarchie bilde zu ihrem überwiegenden Teil eine Nomenklatur, die mit niemandem Macht und Einfluss teilen wolle - vor allem nicht mit der katholischen Kirche, deshalb wünsche sie nicht wirklich eine Annäherung. Nur ein kleinerer Teil des Episkopats stehe der katholischen Kirche wohlwollend gegenüber. Absolut notwendige Voraussetzung für die Arbeit an der Basis bilde das interkonfessionelle Gespräch zwischen Priestern. Ein Besuch des Papstes in Russland würde ganz sicher die anti-katholische Stimmung im Lande aufweichen, konkretes Wissen über die katholische Kirche verbreiten und tradierte unsinnige Vorstellungen überwinden - schreibt ein orthodoxer Priester.


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Dr. phil. Gerd Stricker (geb. 1941), Chefredakteur der Zeitschrift "G2W/Glaube in der 2. Welt". Arbeitsbereiche: Christliche Kirchen auf dem Boden der einstigen Sowjetunion; Staat und Kirche in Russland; die Russlanddeutschen und ihr Kirchenwesen. Zu diesen Themen zahlreiche Publikationen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
60. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2006, S. 626-631
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2007