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STANDPUNKT/090: Wo der Geist noch Töne hat (Ingolf Bossenz)


Wo der Geist noch Töne hat

Ein alter Sakralbau in Sachsen-Anhalt, eine in kommende Jahrhunderte ausgreifende Hoffnung und die Schwierigkeiten der Politik mit der Gnosis des Ostens.

Von Ingolf Bossenz, Juni 2017


Der Zeitgeist bemüht das Sakrale, um seine dürftige Konsistenz schmückend zu bedecken. Dass die Reserviertheit gegenüber solchen Zumutungen im Osten Deutschlands größer ist, überrascht nicht. Grund sind vor allem Weiher des Skeptizismus, die die abgeflossene Pseudoreligiosität der »Quasikirchlichkeit des Staatsmarxismus« hinterließ und deren Trockenlegung vergeblich laboriert wurde.

Der Heilige Geist wohnt in Halberstadt. In der ehemaligen Kirche des Zisterzienserinnenklosters St. Burchardi. Er verströmt sich dort als Fünfklang aus den Tönen c', des', dis', ais' und e'' - bis zum 5. September 2020: An diesem Tag kommen gis und e' dazu.


By Clemensfranz (Own work) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia Commons

Halberstadt in Sachsen Anhalt. Die Balganlage in der Kirche St. Burchardi mit dem Orgel Projekt von John Cage.
By Clemensfranz (Own work)
[CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia Commons

Wer fühlen möchte, was Pfingsten bedeutet und verheißt, kann bei einem Besuch des vor über 200 Jahren säkularisierten Sakralbaus in Sachsen-Anhalt eine »Beseelung« erfahren, die dem strapazierten Gemäuer durch Geist und Genius des Jahrhundertkünstlers John Cage (1912-1992) gleichsam als »Odem des Lebens« (1. Mose 2,7) eingeblasen wurde. Eine durch und durch profane Beseelung, die aber im Erleben der Besucher des seit Herbst 2001 realisierten John-Cage-Orgel-Kunst-Projekts sakrale Saiten zum Schwingen bringen kann. Das liegt vor allem an der zeitlich-philosophischen Dimension, die das Orgelstück ORGAN²/ASLSP des US-Komponisten umkleidet. »As SLow aS Possible« (So langsam wie möglich) - die Tempovorschrift, die Cage seinem Werk gab, wird in Halberstadt in einer Extensität umgesetzt, die einer nachgerade numinosen Unbekümmertheit eignet: 639 Jahre lang soll die eigens für dieses Ad-infinitum-Erleben gebaute Orgel (inklusive Notstromaggregat) über Stationen Hunderter Klangwechsel hinweg die vier Seiten der Partitur ins Ätherisch-Verflüchtigte entlassen. Ein unablässiges »Summen Gottes«, wie die »Zeit« mutig metapherte. Oder - je nach Standort des Hörenden - ein »Zischen des HERRN«, wie Luther zufolge der Prophet Jesaja die Aussendung des Heiligen Geistes nannte.

Für John Cage umfasste Musik alle Klänge, Töne, Geräusche. Egal, ob harmonisch, dissonant, isoliert oder komponiert. Das Leben - eine einzige Musik. Und damit ein heilig-profaner Geist, der immer und überall präsent ist, der ergreift, eingreift, ausgreift, beruhigt, erregt, stört, verstört. Im Zen-Buddhismus, mit dem sich der Multikünstler Cage zeitlebens intensiv beschäftigte, gibt es den zentralen Begriff der Erleuchtung, jener spirituell-glückhaften Erfahrung der Einswerdung mit dem Universum. Auf das Christliche bezogen, ist das, wie Thomas von Aquin (+1274) schrieb, der Moment, da der Mensch durch Gott den Heiligen Geist und damit die Erlösung empfängt.

Wer sich einlässt auf die weit ins Künftige ausgreifenden Töne in der St.-Burchardi-Kirche, den kann leicht ein Schwindelgefühl ankommen angesichts des Unwäg- und Unwissbaren der aufgetürmten Jahrhunderte dieses Projekts. Man blickt von 2000 (der Beginn der Aufführung verzögerte sich dann um ein Jahr) in die Gegenrichtung 639 Jahre zurück bis 1361, dem Bezugsjahr für das Unternehmen, als in Halberstadt die welterste Großorgel, eine Blockwerksorgel, gebaut wurde. Seither: Vernichtungen und Verheerungen, Revolutionen und Restitutionen, Kriege und Katastrophen. Ein Pandämonium der Kontingenz.

Allein der Zeit seit dem jüngsten Klangwechsel am 5. Oktober 2013 mangelt es an Wechselfällen ebenso wenig wie deren Folgen an Unberechenbarkeit. Wer kann da noch auf den eingangs erwähnten Heiligen Geist hoffen und bauen? Wer weiß von diesem überhaupt noch? »Wenn Sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, dann würde ich mal sagen, ist es mit der Kenntnis übers christliche Abendland nicht so weit her.« Ein wahrer Satz, den Angela Merkel da freiließ. Während bei einer Umfrage in Deutschland 92 Prozent Weihnachten und 86 Prozent Ostern bedeutungsmäßig richtig zuordneten, waren es bei Pfingsten nur noch 56 Prozent. In der Tat ist der Heilige Geist, der laut Apostelgeschichte zu Pfingsten - griechisch pentekosté / 50. Tag (der Osterzeit) -, 49 Tage nach Jesu Auferstehung, auf die in Jerusalem versammelten Jünger herabkam, eine ziemlich sperrige Angelegenheit. Im Jahr 325 auf dem Ersten Konzil von Nicäa als sogenannte dritte Person der göttlichen Dreifaltigkeit - gemeinsam mit Gott Vater und Gott Sohn - festgeschrieben, sorgt er bis heute für bizarre sophistischtheologische Haarspaltereien.

Doch warum liegt der Kanzlerin das Wissen ihrer Untertanen um den Heiligen Geist so am Herzen? Ihr Satz vom September 2015, gesprochen auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, während einer Publikumsdiskussion in der Schweizer Hauptstadt Bern war Teil ihrer Antwort auf die Frage, wie sie »Europa und unsere Kultur vor der Islamisierung schützen« wolle. Ganz einfach: Durch »den Mut, zu sagen, dass wir Christen sind« und »mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein«. Ein grandioses Konzept: Re-Christianisierung im freundlich-friedlichen Wettstreit mit Islamisierung. Oder - um das inkriminierte Reizwort zu vermeiden: Wenn's mal wieder religiöser zugeht, müssen eben alle mitmachen.

Dazu passen die Avancen, die Merkel jüngst auf dem Evangelischen Kirchentag machte: Die beiden christlichen Großkirchen sollten sich doch bitte weiter in politische Debatten einmischen. Gleichsam eine Dankadresse an ihre größten und treuesten Unterstützer in den Zeiten der Migrationswirren. Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas, Autor des Buches »Kirche als Moralagentur?«, hatte im Interview mit dem Deutschlandfunk konstatiert, dass sich vor allem die evangelische Kirche »aus gut nachvollziehbaren Gründen, aber so einschränkungslos auf die Linie von Bundeskanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik stellt und selbst so abwertend redet über diejenigen, die Bedenken gegenüber dieser Politik haben«.

Immerhin ergänzte die Kanzlerin in ihrem Ermunterungsstatement an die Kirchen, dass dabei die christliche Botschaft »nicht zu kurz« kommen dürfe. Evangelischerseits wird die christliche Botschaft, also der Geist Jesu (mithin der Heilige Geist, um beim Thema zu bleiben), vornehmlich von Reformationsbotschafterin Margot Käßmann propagiert. Vornehmlich in der »Bild«-Zeitung, in der sie denn auch ihr Patentrezept gegen Terroristen verkündigte: »Wir sollten versuchen, den Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen.« Für diese sei das »die größte Provokation«. Offenbar ist der ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden in dem reichlichen Jahr, das seither verflossen ist, die Lust vergangen, durch Liebe zu provozieren. Mit Blick auf die AfD jedenfalls, die niemanden umgebracht hat, hatte Käßmann bei ihrem Auftritt auf dem Kirchentag keinerlei Zweifel, »woher der braune Wind wirklich weht«, was mit »tosendem Beifall« (so eine Nachrichtenagentur) quittiert wurde. Anlass für das vernichtende Verdikt der Klerikerin war die Forderung der Partei nach Anreizen für eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung.

Ja, während der Geist, der heilige und unberechenbare, »weht, wo er will« (Joh 3,8), weht »der braune Wind« verlässlich aus einer Richtung. Man fühlt sich an Nietzsches Wort erinnert, in dem er den denkmüden Massen unterstellt, »eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend nöthig« zu haben. Eine Welt, wie sie wohl auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vorschwebt, der im Deutschlandfunk, gleichfalls aus Anlass des Kirchentages, die Chance des Lernens von den zugewanderten Muslimen pries - »für uns Christen, wie für alle, die in Deutschland leben«. Denn, so Schäuble, im Islam würden »sehr viele menschliche Werte sehr stark verwirklicht. Denken Sie mal an Gastfreundschaft und Ähnliches mehr, was da ist.« Eine starke Botschaft, die unter anderem zweifellos ein Umdenken bei den reichen Golfstaaten bewirken wird, die ungeachtet ihrer traditionellen Gastfreundschaft bislang keinen einzigen Flüchtling ins Land ließen.

Diese Beispiele mögen genügen. Sie sind lediglich Schlaglichter, die einen Zeitgeist beleuchten, der das Sakrale bemüht, um seine dürftige Konsistenz schmückend zu bedecken. Dass die Reserviertheit gegenüber solchen An- und Zumutungen im Osten Deutschlands größer ist als im Westen, überrascht nicht. Die aus zeitlich und quantitativ versetzter Saturiertheit erwachsenen Differenzen sind das Eine. Doch es geht hier in der Tat um Geist, der weht. Und es ist mitnichten nur der »braune Wind«, dessen »historisch gewachsene« Richtung die von der Bundesregierung bestallte Ostbeauftragte unterstellt. Allerdings beruht die immer wieder beklagte Ost-Renitenz gegenüber der ideologisch umkleideten und agitatorisch aufgeladenen Berliner Basta-Politik in der Tat auf historisch Gewachsenem - das sich allerdings komplexer darstellt als aus der Sicht kurzschließender Milieustudien. Der in Berlin lebende Historiker und Philosoph Jürgen Große (geboren 1963) lässt sich in seinem Essay-Band »Die Gnosis des Ostens« nicht von prüfender Pädagogik für das demokratisch-korrekte Wahl- und Wohlverhalten in diesem geografisch-politischen Landstrich leiten. Große geht es um die Weiher des Skeptizismus, die die abgeflossene Pseudoreligiosität der »Quasikirchlichkeit des Staatsmarxismus« hinterließ und deren Trockenlegung bislang vergeblich laboriert wurde.

Diese »Gnosis« (griechisch: Wissen, Erkenntnis) bereitet der kapitalistisch verfassten Staatsdemokratie offenbar ähnliche Schwierigkeiten, wie es die gnostischen Sekten einst mit Blick auf das sich etablierende Christentum taten. Die Gnostiker gelten als die ersten Häretiker der Jesus-Bewegung. Sie sahen sich geleitet einzig vom Geist Gottes, durch den ihnen gegeben war, »zu reden von der Erkenntnis nach demselben Geist«, wie Paulus im ersten Brief an die Korinther schreibt. Eine solche Fixierung auf den Heiligen Geist, der »weht, wo er will«, war ein Ärgernis für die Träger der im 2. und 3. Jahrhundert sich ausformenden hierarchischen Strukturen eines lehramtlichen Christentums. »Die Gnosis des Ostens«, summiert Große, »mit ihrem freien Blick auf die Schicksale aller Ideen-Institutionen, ist historisch erzwungen; sie gibt den Ihren keinen Grund zu Hochmut oder Behagen.«

Mit anderen Worten: Ostdeutsche sind ideologischen Verkündigungen, Verheißungen, Verordnungen gegenüber vorsichtiger, misstrauischer, ablehnender als in ökonomischer Prosperität sozialisierte Westdeutsche, die sich aus dem Fundus religiöser wie säkularer Heilslehren frei bedienen oder das auch lassen konnten. Letzteren fehle die Erfahrung einer staats- oder dogmengewollten Öffentlichkeit, »die man zwar meiden, aber nicht umdeuten kann«, meint Große. »Der Homo Germanicus orientalis, durch Staat und Partei und anhängenden Erziehungseifer zum Volksein verdammt, war verurteilt und befähigt zur geistigen Reserve.«

Eine ergänzende Binse, die nicht fehlen darf: Selbstverständlich ist nicht alles, was aus dem Osten kommt, Licht. Die tief stehende Sonne der politischen Kultur sorgt (in Ost wie West) nicht nur für lange Schatten von Zwergen, sondern auch für reichlich unausgeleuchtete Ecken, Winkel, Tiefpunkte, Abgründe. Doch es ist wohlfeil, Sachsen als »das dunkelste Bundesland« zu schmähen, wie es der »Stern« tat, dessen eigene Leuchtkraft sich - wie wohlfeil - nie von des Führers Tagebüchern erholt hat. Und es ist so wohlfeil wie anmaßend, wenn die Ostbeauftragte Kritiker ihrer Studie mit dem ceterum censeo abbügelt: »Im Übrigen ist doch allen völlig klar, dass eine Gefahr vom Rechtsextremismus in Ostdeutschland ausgeht.« Was allen völlig klar ist, bedarf selbstredend keiner Debatte mehr. Es zeugt vom Mut der Verzweiflung, in Zeiten des Relativismus eine solche absolute »Wahrheit« zu formulieren.

Es wird kein neues Pfingsten geben, an dem plötzlich - so die Apostelgeschichte - »vom Himmel her ein Brausen« kommt, alle mit dem Heiligen Geist erfüllt werden und beginnen, »in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab« - und sich dennoch endlich glänzend gegenseitig verstehen. Aber eine Hoffnung geht vielleicht aus von dem Geist, der mitgewirkt hat, das ebenso zeitlose wie jahrhundertpralle John-Cage-Projekt in einem ostdeutschen Refugium ins musikalisch-philosophische Werk zu setzen. Denn dessen - hörbare - Botschaft ist: Man braucht Geduld, man muss hinhören und zuhören. Und vor allem: Ein Wechsel des Tons kann alles verändern.

www.aslsp.org


Literatur
  • Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Stuttgart 2016.
  • Adolf Holl: Die linke Hand Gottes. Biographie des Heiligen Geistes. München 1999.
  • Horst Georg Pöhlmann: Heiliger Geist - Gottesgeist, Zeitgeist oder Weltgeist? Anstöße zu einer neuen Spiritualität. Neukirchen-Vluyn 1998.
  • Jürgen Große: Die Gnosis des Ostens. Von Frommen, Freidenkern und dem fremden Blick. Kleve 2016.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juni 2017
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 3./4. Juni 2017
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1052950.wo-der-geist-noch-toene-hat.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2017

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