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INTERNATIONAL/120: Pakistan - Ein Anschlag nach dem anderen, massive Gewalt gegen Hazara-Schiiten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Januar 2013

Pakistan: Ein Anschlag nach dem anderen - Massive Gewalt gegen Hazara-Schiiten

von Zofeen Ebrahim


Bild: © Altaf Safdari/IPS

Mahnwache nach Blutbad in Quetta
Bild: © Altaf Safdari/IPS

Karachi, Pakistan, 14. Januar (IPS) - "Ich will Gerechtigkeit", sagt Shukria Jamali. "Doch selbst meinem schlimmsten Feind würde ich nicht den Schmerz wünschen, den ich erleide." Die 20-Jährige hat gerade ihren Verlobten verloren. Der Polizist fiel einem Bombenanschlag in der Stadt Quetta in der südwestpakistanischen Provinz Belutschistan zum Opfer.

Am 10. Januar starben insgesamt 115 Menschen, mehr als 150 wurden verletzt. Einen Abend darauf weigerten sich tausende Frauen, Männer und Kinder im Rahmen einer Protestaktion ihre Angehörigen beizusetzen. "Das war die längste Nacht meines Lebens. Wir haben neben den Särgen gehockt und Wind, Regen und Minus-Temperaturen ertragen", berichtete die junge Frau in einem Telefoninterview mit IPS.

Ein Selbstmordattentäter hatte einen Billardclub in einem von ethnischen Hazara dominierten Stadtteil angegriffen. Wenige Minuten später, als Rettungswagen und Medien anrückten, detonierte eine Autobombe. Die meisten Todesopfer sind Angehörige der 600.000 Mitglieder zählenden Minderheit schiitischen Glaubens. Im mehrheitlich sunnitischen Pakistan stellen Schiiten etwa ein Fünftel der 180 Millionen Pakistaner.

Die militante sunnitische Gruppe 'Lashkar-e-Jhangvi' (LeJ) mit Verbindungen zur Terrorgruppe 'Tehrik-e-Taliban' hat sich zu dem Attentat bekannt. Sie macht regelmäßig Jagd auf Schiiten.


Zweifach verfolgt

Den Hazara wird nicht ihre religiöse, sondern auch ihre ethnische Zugehörigkeit zum Verhängnis. Die Nachfahren von Mongolen, die an den Feldzügen von Dschingis Khan teilgenommen hatten, werden in Pakistan inzwischen ähnlich drangsaliert wie die afghanischen Hazara zu Zeiten der Taliban-Schreckensherrschaft von 1995 bis 2001.

Vor 120 Jahren, nach ihrer Flucht aus Afghanistan vor sunnitischen Paschtunenvölkern, waren sie zunächst in Pakistan freundlich aufgenommen worden. Einigen gelang es sogar, in einflussreiche Positionen aufzurücken. Doch mit den Jahren wurde den Minderheiten in dem südasiatischen Land jede Entfaltungsmöglichkeit erschwert. Inzwischen versuchen immer mehr der gebildeten und finanziell besser gestellten Hazara, sich nach Europa oder Australien zu retten. In den letzten zehn Jahren gingen mehr als 25.000 Hazara ins Ausland.


Immer mehr Armut durch Verlust der Broterwerber

Unter Tod und Flucht der vielen Männer leiden vor allem die Hazara-Frauen. "In der kleinen Straße, in der wir mit vier anderen Familien leben, gibt es nur noch einen einzigen Mann, nämlich meinen", berichtet Dawood Changezi, Leiterin einer Nichtregierungsorganisation. "Alle anderen sind entweder emigriert oder wurden umgebracht."

Wie Taj Faiz von der Shohada-Wohlfahrtsorganisation erläutert, werden von den 500 Haushalten, die von ihrer Vereinigung unterstützt werden, die meisten von Frauen geführt. "Wir sorgen dafür, dass die Kinder nach dem Tod ihrer Väter nicht auf Bildung verzichten müssen", fügt Abdullah Mohammadi, der Präsident der im letzten Jahr gegründeten Nimso-Stiftung, hinzu.

Der Polizist Nadir Hussain, der bei dem Anschlag vom 10. Januar getötet wurde, war ebenfalls der Brotverdiener seiner Familie gewesen. "Sein Vater ist krank. Ich weiß nicht, was nun aus der Familie werden wird", sagt Shukria Jamali. "Auch mein Vater lebt nicht mehr und meine Brüder sind jünger als ich."

Doch auch in den Familien, in denen es noch Männer gibt, sieht die Lage nicht besser aus. Viele männliche Haushaltsvorstände bleiben zu Hause. "Die reicheren Geschäftsleute sahen sich gezwungen, ihre Unternehmen zu verkaufen, nachdem man ihnen mit Entführung drohte", sagt Changezi.

Altaf Safdari, der den Hazara-Fernsehkanal Mechid betreibt, berichtet von einer Ghettoisierung der Menschen im Umfeld der Alamdar-Straße und dem Stadtviertel Hazara Town. "Seit Monaten trauen sich Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren und Regierungsvertreter aus Angst, getötet zu werden, nicht mehr vor die Tür", sagt er. "Die Staatsbediensteten haben immerhin das Glück, dass sie beurlaubt wurden und ihr Gehalt auch weiterhin beziehen."


Zahl der Bettlerinnen nimmt zu

Rukhsana Ahmed leitet den Frauenflügel der regierenden PPP. Ihr Mann wurde 2009 getötet. Immer wenn sie sein Grab besucht, beobachtet sie, wie in Tschadors gehüllte Frauen am Straßenrand betteln. "Das ist ein neues Phänomen", sagt sie. "Denn noch nie zuvor haben die Hazara die Hand nach Almosen ausgestreckt."

Normalerweise helfen sich die Hazara untereinander, indem sie armen Familien ohne großes Aufheben Lebensmittelpakete zukommen lassen. Doch inzwischen ist die Armut innerhalb der Gemeinschaft so sehr gestiegen, dass die gegenseitige Unterstützung nicht mehr möglich ist.

"Da gibt es die Witwe eines Gemüsehändlers, die jetzt mit einem kleinen Gemüsestand vor der Haustür versucht, ihre fünf Töchter durchzubringen. Da sind die beiden Frauen eines Mannes, die bereits seit einem Jahr vergeblich auf eine staatliche Entschädigung warten, weil der Verstorbene ohne Gesicht geborgen wurde", erzählt Ahmed. "Es gibt Dutzende von Haushalten, in denen der Brotverdiener fehlt, um acht bis zehn Mäuler zu stopfen. Und da haben wir die vielen jungen Menschen, die ihr Studium auf halbem Wege abbrechen mussten."

Seitdem ein Schulbus mit Hazara angegriffen wurde, weigern sich viele Nicht-Hazara, sich neben Angehörige der Minderheit zu setzen. Auch gibt es Busunternehmen, die der ethnischen Minderheit die Mitfahrt untersagen. Und einige junge Mädchen tragen den Tschador und riesige Sonnenbrillen in der Hoffnung, nicht als Hazara identifiziert zu werden.

"Wir wollen, dass die Armee Quetta kontrolliert und die Milizen gezielt militärisch angeht. Und wir wollen, dass der Chefminister geht", meinte Abdul Khaliq, Vorsitzender der Demokratischen Hazara-Partei (HDP), im Anschluss an die jüngsten Bombenanschläge. Doch dann bedurfte es ganze drei Tage des Protestes, bevor sich Pakistans Ministerpräsident Raja Pervez Ashraf dazu durchrang, wenigstens die Provinzregierung auszuwechseln.

Changezi führt über die Übergriffe auf die Hazara seit fast 15 Jahren Buch. So sind seit dem ersten Attentat 1998 mehr als 800 Mitglieder seiner Ethnie bei Anschlägen getötet worden. "Bisher kam es zu keiner einzigen Anklage. Regierung und Armee kennen die Verstecke der militanten Kämpfer. Warum ist es so schwierig, sie zu fassen?", fragt Khaliq. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.hazara.net/
http://www.ipsnews.de/news/news.php?key1=2012-09-1109:37:17&key2=1
http://www.ipsnews.net/2013/01/a-hundred-killed-a-community-cornered/

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IPS-Tagesdienst vom 14. Januar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2013