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INTERNATIONAL/179: Übergriffe auf Kunst- und Kulturschaffende - Mindestens 237 Fälle im letzten Jahr (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Februar 2015

Kultur: Übergriffe auf Kunst- und Kulturschaffende - Mindestens 237 Fälle im letzten Jahr

von Josh Butler und Karina Böckmann


New York, Berlin, 20. Februar (IPS) - Weltweit sind Kunst- und Kulturschaffende von Zensur, Gewalt und Verfolgung bedroht. Wie aus einem neuen Bericht von 'Freemuse', einem internationalen Musikerverband mit Sitz in Dänemark, hervorgeht, kam es im letzten Jahr in 56 Ländern zu mindestens 237 Übergriffen inklusive drei Morden und 80 Verhaftungen.

Die Untersuchung beinhaltet Anschläge und Repressionsversuche, denen Kunst- und Kulturschaffende der Bereiche Tanz, Film, Musik, Theater, Bildende Kunst und Literatur im letzten Jahr ausgesetzt waren. Dabei wurden die Übergriffe sowohl auf die Künstler selbst als auch auf Darbietungen, Events, Kunstwerke und Musikläden berücksichtigt.

Die meisten Vergehen wurden in China mit 39 Fällen (in der Regel Verhaftungen) gezählt, gefolgt von Russland, der Türkei und dem Iran mit 22, 16 respektive 15 Verstößen. Als die für Künstler tödlichsten Staaten erwiesen sich im letzten Jahr der Iran, Thailand und Pakistan mit jeweils einem Mord.

Neben tödlichen Gewaltverbrechen wurden Künstler im letzten Jahr Zielscheiben von Verhaftungen (9), Entführungen (2), körperlicher Misshandlung (14), Drohungen (13) und strafrechtlicher Verfolgung (30). Dem Bericht zufolge saßen 33 Kunst- und Kulturschaffende hinter Gittern, die zum Teil lange vor 2014 inhaftiert worden waren.

Bei den meisten, im letzten Jahr zusammengetragenen Verstößen handelt es sich um eindeutige Fälle von Zensur (90). Fälle von staatlicher Vorzensur oder Selbstzensur wurden nicht berücksichtigt, was dem Musikerverband zufolge nahelegt, dass Millionen Kunst- und Kulturschaffende direkt und indirekt unter den Folgen von Zensur zu leiden haben.

"Weil sie den Frust und die Hoffnungen von Volksgruppen ausdrücken, werden Künstler angegriffen oder sogar zum Schweigen gebracht", kritisierte Ole Reitov, Geschäftsführer von Freemuse. Er forderte die Regierungen in allen Weltregionen dazu auf, dafür zu sorgen, dass Kunst- und Kulturschaffende ohne Angst vor Unterdrückung frei ihrer Arbeit nachgehen können.


Verstöße auch im Westen

Der Musikerverband wies ferner darauf hin, dass auch in westlichen Ländern gegen die Rechte der Kunst- und Kulturschaffenden verstoßen wird. So kam es in den USA und in Großbritannien im vergangenen Jahr zu jeweils acht Übergriffen. In Deutschland registrierte der Bericht einen Fall von Zensur.

Gegenüber 2013 hat die Zahl repressiver Maßnahmen zugenommen. So hatte Freemuse vor zwei Jahren noch 199 Fälle registriert, darunter zehn Morde, acht Entführungen, 28 Gerichtsverfahren und 73 Fälle von Zensur.

In einem weiteren, ebenfalls im Februar veröffentlichten Bericht widmete sich Freemuse explizit den Übergriffen auf Musikschaffende. Zu den insgesamt 90 aufgeführten Fällen gehörten Festnahmen (17), tätliche Angriffe (9) und Verfolgung (14). Russland führte die Liste der für Musiker gefährlichsten Länder der Welt mit 15 Fällen an, gefolgt von China mit 13 und der Türkei mit neun Fällen.

China reagiere vor allem auf Musik und Texte, die die chinesische Unterdrückung Tibets thematisierten, mit repressiven Maßnahmen. Wer die kulturelle Überlegenheit der Volksrepublik anzweifle, verschwinde hinter Gittern, so Reitov. Im letzten Jahr seien aus diesem Grund ein Dutzend tibetischer Musiker weggesperrt worden. In Russland und der Türkei habe jedwede Kritik an der Erosion demokratischer Werte und Menschenrechtsverletzungen Haftstrafen eingebracht.

"Musiker mit Gewalt, Haft und Einschüchterung zum Schweigen zu bringen, verstößt nicht nur gegen das Individualrecht auf freie Meinungsäußerung, sondern es bringt lokale und globale Gemeinschaften um das Vergnügen und kritische Sichtweisen, wie sie in der Musik zum Ausdruck kommen", so Reitov.


Religion als Vorwand

Derselbe Bericht bringt als Beispiel für Verbrechen, die von nichtstaatlichen Akteuren begangen werden, den Fall der paschtunischen Sängerin Gulnaz an. Die Künstlerin, die in ihrem Haus in der nordwestpakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa von Bewaffneten erschossen wurde, gehört zu vielen Musikern, Tänzern und insbesondere weiblichen Musikschaffenden, gegen die islamistische Fundamentalisten wie die Taliban mit der Begründung vorgehen, ihre Darbietungen seien grundsätzlich islamfeindlich.

Gerade von solchen Verbrechen gehe eine für Kunst und Kultur verheerende abschreckende Wirkung aus, so Freemuse. "Wenn vier maskierte Männer mit Kalaschnikows in dein Haus eindringen und dir sagen, du sollst mit dieser 'Unflätigkeit' aufhören, dann hast du mindestens einen guten Grund, nicht mehr zu musizieren", heißt es auf der Webseite von Freemuse. "Und wenn eine Hochzeitsgesellschaft, die in einem entlegenen Dorf zur Feier des Tages Musik aufspielen lässt, bedroht wird, kann man sicher sein, dass es sich andere Familien des gleichen Bezirks zweimal überlegen werden, für eine Hochzeit eine Band zu engagieren." (Ende/IPS/kb/2015)


Links:

http://artsfreedom.org/?p=8615
http://artsfreedom.org/?p=8591
http://www.ipsnews.net/2015/02/china-most-dangerous-country-for-artists-in-2014/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 20. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2015

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