Schattenblick → INFOPOOL → REPRESSION → FAKTEN


INTERNATIONAL/432: Kolumbien - Ein Auge verloren, doch Cristian kämpft weiter (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien
Ein Auge verloren, doch Cristian kämpft weiter

Von Sandra Gutiérrez



Foto: © Gabriel Galindo/Contagio Radio

Cristian Rodriguez mit dem Transparent, das er an dem Tag in Bogotá getragen hat, an dem er sein Auge durch ein Projektil des ESMAD verloren hat.
Foto: © Gabriel Galindo/Contagio Radio

(Bogotá, 24. Februar 2020, contagio radio) - Cristian Rodríguez ist eine von zwölf Personen, die durch den überzogenen Einsatz von Polizist*innen der Spezialeinheit ESMAD eine schwere Augenverletzung erlitten haben. Die Polizeieinsätze fanden im Rahmen von Aktionen während des landesweiten Streiks Ende des vergangenen Jahres in Kolumbien statt.

Am 16. Dezember 2019 stand Cristian Rodríguez am Eingang der Universidad Nacional in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá an der Carrera 30. Zusammen mit anderen versuchte er, in die Bildungseinrichtung zu gelangen, um dem Tränengas zu entkommen, das von der Mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD [1] (Escuadrón Móvil Antidisturbios) abgefeuert wurde. In weniger als einer Sekunde verlor er sein Augenlicht [2] auf dem linken Auge.


34 Todesopfer dieser Polizeigewalt

Dieses Ereignis ist Teil der Bilanz dieser Polizeieinheit, die in den 20 Jahren ihres Bestehens mindestens 34 Menschen getötet hat - und die allein in den ersten zehn Tagen des Streiks (vom 21. bis zum 30. November 2019) 300 zumeist junge Demonstrant*innen verletzt hat.

Cristian wurde am 16. Dezember verwundet, als er an einer Demonstration teilnahm, die zur Nationalen Universität Kolumbiens führte. Laut dem medizinischen Gutachten ist der Augapfel geplatzt, was zu einem Totalverlust seines linken Auges geführt hat.

Aber warum in die Augen? Laut der Menschenrechtsverteidigerin und Angehörigen der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, Camila Forero, gäbe es keinen Raum für Verletzungen oder gar die Tötung von Menschen, würde der ESMAD im Einklang mit den Menschenrechten agieren.

Für sie sind diese Aktionen jedoch Ausdruck der übermäßigen Gewalt dieser Einheit und ihres falschen Umgangs mit Waffen, die theoretisch nicht tödlich sind, und der fehlenden Achtung der Menschenrechte, um das Leben zu schützen.


Warum in die Augen?

Im Fall der Augenverletzungen betont die Menschenrechtsverteidigerin, dass diese in erster Linie eine Folge der Missachtung des Einsatzprotokolls für die Projektile sind, die in die Luft oder auf den Boden abgeschossen werden sollten, um die Menge auseinander zu treiben, aber niemals frontal auf die Menschen gerichtet werden sollten.

Zweitens stellt Forero fest, dass dies auch mit der Ausbildung dieser Einheiten zusammenhängt: "Der ESMAD ist ein klares Beispiel dafür, wie diesen Menschen eine Doktrin des Feindes im Innern auferlegt wird - und wie das dann umgesetzt wird, so dass Leben und Augen vernichtet werden."

Was den unsachgemäßen Einsatz von Waffen betrifft, forderte die Generalstaatsanwaltschaft die Polizei am 14. Januar 2020 auf, den Einsatz von Gewehren des Kalibers 12 unverzüglich auszusetzen, die der ESMAD zur Auflösung von Unruhen und Straßenblockaden verwendet. Genau diese eigentlich nicht-tödliche Waffe war es, die Dilan Cruz am 23. November getötet hat.


Forderung nach Auflösung des ESMAD

Die NGO Temblores hat in ihrem Bericht "Raus auf die Straße. Offizielles Schweigen: Ein ohrenbetäubender Schrei nach Gerechtigkeit nach 20 Jahren ESMAD" [3] dokumentiert, dass seit der Gründung des ESMAD insgesamt 34 Menschen ermordet wurden - mutmaßlich von Uniformierten.

Die Zahl der Verletzten ist laut Forero schwerer zu ermitteln, da die überwiegende Mehrheit von ihnen die Verletzungen gar nicht erst anzeigt. Trotzdem betonte sie, dass durch den ESMAD allein in den ersten zehn Tagen des landesweiten Streiks 2019 300 Personen verletzt worden sind.

"Dass der ESMAD auftaucht, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, ist an sich schon gewalttätig. Denn es handelt sich um eine unkontrollierbare Kampfeinheit; und da muss man dessen Existenz in Frage stellen und darüber sprechen, diese Einheit aufzulösen", so Forero.


Für ein anderes Kolumbien

Cristian Rodríguez findet es "nicht fair, dass ein Bürger unter solchen Umständen ein Organ verliert". Deshalb betont er, wie dringend notwendig es ist, die Arbeit dieser Institution "neu zu überdenken". Genauso betont er, dass er bereits Anzeige gegen den Staat eingereicht habe, er wisse aber auch, wie mühsam und gefährlich diese Art von Anzeigen für mehr Gerechtigkeit sein könnten.

Laut dem Bericht von Temblores bleiben Ermittlungen gegen Angehörige dieser Einheit meist ohne Ergebnisse. Von 1999 bis 2019 wurden lediglich zwei Strafgerichtsprozesse gegen Polizisten des ESMAD geführt, die nur in einem Fall mit einem Urteil endeten.

Cristian will sich trotzdem weiterhin für den Aufbau und die Verteidigung eines anderen Kolumbiens einsetzen. Obwohl sein Leben für immer verändert wurde, ist diese Tat doch ein weiterer Grund für ihn, auf ein anderes Land hinzuarbeiten.


Anmerkungen:
[1] https://es.wikipedia.org/wiki/Escuadr%C3%B3n_M%C3%B3vil_Antidisturbios
[2] https://youtu.be/h9ImUxE8hNA
[3] https://www.academia.edu/41239342/Silencio_Oficial_un_aturdido_grito_de_justicia_por_los_20_a%C3%B1os_del_Esmad


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/ein-auge-verloren-doch-cristian-kaempft-weiter/


Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

*

Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang