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DILJA/002: Die repressive Breitenwirkung Guantánamos - Wikileaks-Chef Assange bedroht (SB)


Weltweite politische Verfolgung und Repression im Zeichen Guantánamos

Chef des Enthüllungsportals Wikileaks auf der Suche nach Asyl


Im Jahre 2001 haben die USA "die Welt verändert", indem sie mit ihrem "Global war on terrorism" einen zeitlich wie geographisch unbegrenzten Kriegszustand erklärten, der das vorherige, wenn auch keineswegs halt- und belastbare System internationaler Herrschaftssicherung, wie es nach der Neuordnung der Welt im Jahre 1945 zwischen den damaligen Siegermächten vereinbart worden und in den Organen der Vereinten Nationen Gestalt angenommen hatte, endgültig aushöhlt. Die Ereignisse des damaligen 11. September zum Anlaß bzw. Vorwand nehmend, nahmen die USA und ihre kriegswilligen Helfer nicht nur das vermeintliche Recht zur Kriegführung für sich in Anspruch, wovon namentlich Afghanistan bis heute und auf weiterhin unabsehbare Zeit ein erschütterndes Zeugnis ablegt. Etabliert wurde gleich zu Beginn dieses Besatzungskrieges auch das System "Guantánamo", mit dem die westliche Kriegsallianz unter Führung Washingtons für sich das Recht in Anspruch nimmt, Menschen in anderen Regionen der Welt zu feindlichen Kombattanten zu erklären mit der Folge, sie der ihnen nach internationalen Vereinbarungen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zustehenden bzw. versprochenen Rechte zu entledigen.

Über die Unrechtmäßigkeit der jahrelangen Inhaftierung hunderter Menschen, die in aller Regel unter grausamsten Bedingungen wie Tiere in Käfigen gehalten und gedemütigt werden, ist in all den seitdem zurückliegenden Jahren so viel berichtet und gestritten worden, ohne daß sich an der fundamentalen Anmaßung des US-geführten Systems, mit von ihnen als feindlich eingestuften Menschen in der inzwischen sattsam bekannten Weise umzugehen, im Kern das Geringste geändert hat. Der Ansehensverlust, den die damalige US-Regierung in Teilen der eigenen wie auch der Weltöffentlichkeit hinnehmen mußte, weil die Realität des Guantánamo-Systems sich nicht mit dem gleichermaßen erhobenen Anspruch, als Hüter von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten weltweit in Erscheinung zu treten, in Übereinstimmung bringen läßt, führte zwar dazu, daß der jetzige US-Präsident Barack Obama seine Wahl unter anderem auch mit dem Versprechen, "Guantánamo" zu schließen, gewann, doch geschehen ist dies selbstverständlich nicht.

Vor einem Jahr, im November 2009, räumte Obama gegenüber dem US-Fernsehsender NBC erstmals ein, daß das US-Gefangenenlager auf Kuba nicht wie geplant bis Januar 2010 geräumt werden könne. Der internationale Rückhalt, den dieser Präsident und mit ihm die USA unter ihren westlichen Verbündeten genießen, wurde dadurch selbstverständlich nicht beeinträchtigt, wiewohl die namentlich im alten Europa vorgehaltene Kritik an Guantánamo zu keinem Zeitpunkt und nicht einen Fingerbreit deren Waffenbrüderschaft in Frage zu stellen vermochte, sondern ausschließlich dem Zweck geschuldet war, die tatsächliche Komplizenschaft in so schmutzigen Fragen nicht allzu offensichtlich werden zu lassen.

In diesen Tagen wurde eine weitere Scharade desselben Täuschungsmanövers aufgeführt. Im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stellten sich die USA - erstmalig - einer Befragung. Am 5. November nutzten die Gesandten anderer Staaten diese Gelegenheit, um ihre nur zu begründeten Vorwürfe vorzubringen. Die Leiterin der US-Delegation mußte sich eine Stunde lang Vorhaltungen machen lassen, die sich in erster Linie gegen Gefangenenmißhandlungen im Irak sowie in Afghanistan richteten. Kubas Botschafter Rodolfo Reyes Rodríguez forderte die USA auf, ihre Kriegsverbrechen und Tötungen von Zivilisten zu beenden, der UN-Vertreter Venezuelas, Germán Mundaraín Hernández, verlangte von Washington, alle für Folter Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Die US-Verbündeten nahmen sich im UN-Menschenrechtsrat von der Kritik keineswegs aus, so forderte die deutsche Delegation neben weiteren die USA auf, die Todesstrafe abzuschaffen und bis dahin alle Hinrichtungen auszusetzen. Auch die noch immer nicht erfolgte Schließung Guantánamos wurde neben vielen weiteren Kritikpunkten thematisiert.

Nun darf diese geballt anmutende Kritik an der Menschenunrechtspolitik der USA keineswegs überbewertet werden, ist doch ein solches Gremium wie dafür geschaffen, das vermeintlich gute Gewissen einer Weltordnung zu präsentieren, deren maßgebliche Akteure sehr wohl in der Lage sind, diese Vorwürfe, und seien sie auch noch so gut belegt und dokumentiert, an sich abperlen zu lassen und die ganze Sache einfach auszusitzen bzw. unter dem Titel, daß die eigenen Verbündeten schließlich etwas für ihr Image tun müssen, abzuheften. Bereits im April dieses Jahres, als die mögliche Aufnahme von Guantánamo-Gefangenen hier in Deutschland kontrovers und zum Teil recht heftig diskutiert wurde, hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zur Begründung dieses Vorschlags angeführt, daß der deutsche Bundestag die Schließung des Lagers schon immer gefordert habe, weil es "unvereinbar mit rechtsstaatlichen Maßstäben" sei.

Letzteres ist zweifellos zutreffend, bedeutet jedoch nicht im mindesten, daß die deutsche Bundesregierung wie auch die übrigen EU-Staaten mit einer Rollenverteilung zwischen sich und den USA vom Muster "guter Cop, böser Cop" nicht einverstanden wären, was konkret in Hinsicht auf das System Guantánamo bedeutet, daß die Kern-EU-Staaten in diesem Punkt gern dem US-amerikanischen Verbündeten die Rolle des Bösewichts überlassen und ansonsten selbstverständlich von der Existenz des extralegalen Systems unbegrenzter Inhaftierungen und gezielter Hinrichtungen wie im sogenannten Drohnenkrieg der USA in Pakistan bereits praktiziert zu profitieren wünschen. Guantánamo entfaltet seine repressive Wirkung weit über den Kreis der unmittelbar Gefangenen und ihres jeweiligen Umfeldes hinaus, weil letztendlich für jeden Menschen, ganz gleich, in welchem Winkel der Erde er lebt, die Androhung manifest geworden ist, bei tatsächlicher oder auch nur vermuteter Auflehnung gegen die Vorherrschaft der USA mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen.

Wer dies für eine überzogene oder doch irgendwie substanzlose Schlußfolgerung hält, könnte am Beispiel des Chefs des Enthüllungsportals Wikileaks die Probe aufs Exempel machen. Dieses Portal wurde im Jahre 2006 gegründet, um, wie es seinerzeit in einem Brief ihres Gründers Julian Assange an potentielle Sponsoren geheißen hatte, Material aus den "despotischen Regimes in China, Rußland und Zentralasien" zu veröffentlichen. In der Tat hat Wikileaks sich inzwischen einen Namen gemacht als ein zuverlässiges Portal für sogenannte "Whistleblowers", wie in den USA u.a. Angehörige der eigenen Sicherheits- oder Geheimdienste bzw. des Militärs genannt werden, die internes Quellenmaterial herausgeben und zwecks Veröffentlichung weitergeben, weil sie sich aus Gewissens- und/oder politischen Gründen verpflichtet fühlen, die US-amerikanische oder auch die Weltöffentlichkeit über das Vorgehen und tatsächliche Handeln US-amerikanischer Dienste und ihrer Streitkräfte aufzuklären.

In diesem Sinne ist Wikileaks tätig geworden und hat, wenn auch das veröffentlichte Material nicht unbedingt eine Kriegsrealität bloßlegte, die zuvor gänzlich unbekannt gewesen wäre, dem eigenen Aufklärungsanspruch Genüge getan. Am 5. April sorgte Wikileaks durch die Veröffentlichung eines Videofilms mit dem Titel "Collateral Murder", der den Angriff eines US-Apache-Hubschraubers in einem Viertel Bagdads am 12. Juli 2007 zeigte, durch den zwölf Menschen, unter ihnen zwei Mitarbeiter der Agentur Reuters, getötet worden waren, für Aufsehen. Es sollten noch etliche weitere, darunter allein 400.000 Ende Oktober veröffentlichte Geheimdokumente aus einer US-Datenbank über den Irakkrieg, folgen. Und ein Ende der Enthüllungen ist nicht abzusehen; der Wikileaks-Chef hat anläßlich der jüngsten Veröffentlichungen seines Portals über den Irakkrieg bereits angekündigt, weitere 15.000 Dokumente, die wegen der besonders heiklen Informationen zunächst noch zurückgehalten worden seien, demnächst zu veröffentlichen.

Am Wahrheitsgehalt dieser Ankündigung scheint in Washington ebensowenig gezweifelt zu werden wie an der Authentizität der ins Netz gestellten Dokumente. "Wir glauben, daß sie weitere Papiere haben", bestätigte Pentagonsprecher Dave Lapan am 26. Oktober, ohne nähere Angaben über die betroffenen Staaten zu machen. Kristinn Hrafnsson, Sprecher von Wikileaks, hatte seinerseits angekündigt, daß bald Dokumente über Rußland und China veröffentlicht werden würden, durch die russische Leser viel Neues über ihr Land erfahren würden. Dies ist jedoch nicht im geringsten geeignet, den Zorn des Pentagon zu besänftigen. Ungeachtet dessen, daß über den tatsächlichen Neuigkeitswert des umfangreichen Datenmaterials gestritten werden könnte, ist es aus Sicht des US-Verteidigungsministeriums allem Anschein nach vollkommen inakzeptabel, nicht Herr der das eigene Militär betreffenden Informations- bzw. Desinformationspolitik zu sein.

Dies allein könnte für Julian Assange und die übrigen Mitarbeiter Wikileaks sehr unangenehme Folgen haben. Sie werden, Assange voran, offen bedroht. Die nun bevorstehenden Enthüllungen, so kündigte der gebürtige Australier, der zumeist in London lebt, am 4. November in Genf an, wo er sich auf Einladung einer Nichtregierungsorganisation aufhielt, würden mehrere Länder, darunter auch die USA, betreffen. Assange warf den USA vor, das Recht der Meinungsfreiheit und damit ihre eigene Tradition zu verletzen. Auf Einladung des Genfer Presseclubs, der dem Wikileaks-Chef zwei Leibwächter stellte, während die Schweizer Polizei für internationale Sicherheit die Sicherung des Tagungsgebäudes übernahm, war Assange in die Schweiz gekommen und erwägt nun, hier um politisches Asyl nachzusuchen. Dies ist beileibe kein, wenn auch schlechter Witz, denn tatsächlich haben Assange und seine Mitarbeiter allen Grund, sich durch das Pentagon bedroht zu sehen. Derzeit bringt das Internetportal 70 Prozent seiner finanziellen Aufwendungen für die Sicherheit seiner Mitarbeiter auf.

An Drohungen mangelt es nicht. So veröffentlichte der rechte US-Fernsehsender Fox den Kommentar eines ehemaligen hochrangigen Mitarbeiters des State Departments, Christian Whiton, der forderte, Julian Assange als "feindlichen Kämpfer" einzustufen, wodurch es den US-Behörden ermöglicht werden würde, ihn in Guantánamo zu internieren. In der "Washington Post" wurde unterdessen gefordert, "Krieg gegen die Webpräsenz" von Wikileaks zu führen [1], wie auch generell Präsident Obama in den USA in der (rechten) Kritik steht, viel zu lax mit dem Enthüllungsportal umzugehen. Whiton zufolge könnten Assange und seine Mitarbeiter der Spionage angeklagt werden. Gedroht wird allerdings, wenn auch nur in mittelbarer Form, mit der Exekution; schließlich würde der Vorschlag, Assange und andere zu "feindlichen Kämpfern" zu erklären, auch die Option eröffnen, gegen sie in einem Land nicht ihrer, aber der Wahl der USA, "außergerichtliche Aktionen" durchzuführen.

Wieweit die repressive Wirkung des Systems Guantánamo und der gar nicht so heimlichen Drohnen-Kriegführung bereits verbreitet ist, läßt sich daran ablesen, daß wohl jeder Leser verstehen wird, was in diesem Zusammenhang mit "außergerichtlichen Aktionen" gemeint ist. Wäre es der Bundesrepublik Deutschland ernst mit ihrer Kritik an der US-Politik ständiger Menschenrechtsverletzungen und Kriegführung, hätten sie sich längst stark machen können für die Schutzbelange dieser Enthüllungsjournalisten, die - fast schon vogelfrei - Asyl suchen in kleinen Staaten wie eben der Schweiz, Island oder Kuba.

Anmerkung

[1] Assange nach Guantánamo? US-Kampagne gegen WikiLeaks-Gründer. Internetplattform kündigt Enthüllungen über Rußland und China an. Von Rainer Rupp und Regina Müller, junge Welt, 28.10.2010, S. 6

8. November 2010