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SCHACH-SPHINX/04839: Österreichs steifer Kragen (SB)


Wilhelm Steinitz war ein Weltmeister, der nicht nur der beste Spieler überhaupt sein wollte, sondern auch der hellste Kopf im Konzipieren einer Partie. Das Lehrgebäude, das er zu diesem Zwecke schuf, sollte den besagten Anspruch untermauern. Sein Problem war nur, daß entweder die Zeit noch nicht reif war für seine Maximen oder seine Maxime nicht reif genug für die Zeit. Der Konflikt war nicht zu vermeiden. Steinitz, der zeit seines Lebens einen schuldigen Respekt von jedermann und der Welt im allgemeinen einforderte, traf auf Ignoranz. Seine Theoreme waren zu besitzergreifend. Sie unterbanden den kreativen Drang jedes einzelnen nach individueller Vervollkommnung. Kein Wunder also, daß die Welt Nein zu seinen Lehrsätzen sagte und sich in keinster Weise gängeln lassen wollte, woraufhin Steinitz in typisch sturrer österreichischer Charakterfestigkeit einen Feldzug begann. Wer nicht nach meinen Maximen spielt, so dachte wohl Steinitz, der verliert, eben weil er meine Maxime nicht anwendet. Der Irrtum war beklemmend, Steinitz bemerkte ihn jedoch nicht. Er hatte zu lange daran gearbeitet, ewige Gesetze aufzustellen, hatte für sich den Glauben zu lange geheiligt, endlich das Wesen des Spiels begriffen zu haben, als daß er mit Mäßigung an seine eigene Forschung hätte gehen können. Er übertrieb mit einem Wort, wurde sich selbst gegenüber gefällig und je mehr er sich in den Wahn hineinsteigerte, desto mühsamer, unbeweglicher wurde auch sein Spiel. Schließlich wurde ihm der Thron von Emanuel Lasker gewonnen, weil Lasker einen immensen psychologischen Vorteil auf seiner Seite hatte. Er war clever genug, nicht prinzipienstarr, sondern auf seinen Gegner und dessen Schwächen hin zu spielen. Schon in Steinitz' Frühwerken war der Keim zu einem anderen Verständnis latent, aber doch nachweisbar angelegt. Man schaue sich nur die Stellung im heutigen Rätsel der Sphinx an, um zu ahnen, zu welcher Höhe und Meisterschaft es Steinitz hätte bringen können mit etwas weniger Kragensteifheit. Sein Kontrahent Anderssen, gefürchtetes Schlachtroß aller Angriffsspieler, war mit den weißen Steinen völlig überspielt worden. Steinitz beendete die Agonie mit einigen präzisen Zügen, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/04839: Österreichs steifer Kragen (SB)

Anderssen - Steinitz
London 1866

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Capablanca behielt die Ruhe. 1...Te8-e3 konnte ihn zu keiner Unüberlegtheit hinreißen. Mit dem Strenglogischen 2.Ld5xf7+ Tf8xf7 3.b7-b8D+ Kg8-h7 4.Ta6xh6+ entzauberte er das schwarze Gegenspiel und siegte bequem.


Erstveröffentlichung am 04. April 2001

17. August 2013





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