Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


SCHACH-SPHINX/05403: Reflex und schwebende Balance (SB)


Der Reflex ist immer gegenwärtig, bedrohte Figuren sofort abzudecken oder sie wegzuziehen. Automatisch reagiert insbesondere der Laie in solchen Fällen, denn er hat es noch nicht hinreichend gelernt, die schwebende Balance zwischen Strategie und Taktik anzustreben. Aber auch unter erfahrenen Spielern kommt es häufig vor, daß drohende Materialverluste nur reflexartig beantwortet werden. Das feine Verständnis von Raum, Zeit und Masse, denn diese physikalische Axiomatik bildet auch den Grundstock für die Meisterung des Schachspiels, fliegt einem jedoch nicht wie ein Vogel auf die Schulter. Langjährige Erfahrung, ein Wissen, das hinter die Fassaden schaut, und eine emanzipatorische Arbeit am reinen Reflexdenken sind nötig, um die erste Schritte in Richtung besonnenes Schach zu gehen. Im heutigen Rätsel der Sphinx war es der ungarische Meister Ribli, der mit den weißen Steinen unter Beweis stellte, daß Schach eben nicht nur Schach ist, sondern ein hintereinander geschaltetes System von vielen Durchgängen und Ernüchterungen bis zur Meisterschaft. Wohin die letzte Tür führt, nun, auf diese Frage hat bisher kein lebender Schachmeister eine Antwort finden können, und man muß weder Atheist und Theist sein, um sich denken zu können, daß vor der letzten Weisheit immer erst die naheliegenderen kommen. Aber zurück zur Partie. Meister Ribli hatte auf der Schacholympiade in Luzern 1982 gegen seinen jugoslawischen Kontrahenten Gligoric einen Mehrbauern erbeutet, mußte nun jedoch versuchen, diesen in einem schwierigen Turmendspiel zu verwerten. Gligoric hatte mit seinem letzten Zug 1...Td6-b6 gezogen, was den weißen b-Bauern unter Beschuß nahm. Ein Laie hätte nun gewiß 2.Th3-h2 gezogen und den angegriffenen Bauern gedeckt. Nicht so Ribli. Aus Erfahrung wußte er natürlich, daß mit der bloßen Verteidigung des Mehrbauern kein Sieg zu erringen war. Nun, Wanderer, was macht den Unterschied zwischen Meister und Laien aus?



SCHACH-SPHINX/05403: Reflex und schwebende Balance (SB)

Ribli - Gligoric
Luzern 1982

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der ewige Zweite, Großmeister Paul Keres, war um eine gute Angriffsführung nie verlegen, und so bereitete er mit 1...d4-d3! 2.Td1xd3 Dd8xd3!! ein grandioses Damenopfer für den Gegenwert von Turm und Läufer vor, und plötzlich erwachten die schwarzen Figuren aus ihrer Lethargie. Sein holländischer Kontrahent Max Euwe suchte die schwarze Initiative zwar meisterhaft einzudämmen, aber in dieser Partie erwies sich der ewig Zeitplazierte als unbesiegbar: 3.De2xd3 Lf6-d4+ präzise und unbestechlich gespielt, denn nun verbot sich 4.Kg1- h1 wegen 4...Te8xe6 und der Drohung 5...Ta8-e8. Euwe gab mit 4.Tf1-f2 Material zurück, aber der schwarze Druck auf die weiße Stellung konnte damit nur ungenügend gelindert werden: 4...Te8xe6 5.Kg1-f1 Ta8-e8! Die Drohng 6...Ld4xf2 7.Kf1xf2 Te6-e2 war offensichtlich und stark. So scheiterte 6.Tf2-d2 an 6...Lb7-e4! 7.Dd3-b3 Le4-f5! Euwe inszenierte daher einen übereilten Bauernsturm mit 6.f4-f5, aber nach 6...Te6-e5 7.f5-f6 - 7.Tf2-d2 Lb7-e4 8.Dd3-b3 Te5-f5 9.Sg2-f4 g7-g5 - 7...g7xf6 - natürlich nicht 7...Ld4xf2? 8.Kf1xf2 Te5-e2 9.Dd3xe2 Te8xe2 10.Kf2xe2 Lb7xg2 11.f6-f7! - 8.Tf2-d2 - 8.Tf2xf6 Lb7xg2+ 9.Kf1xg2 Te8-e2+ - 8...Lb7-c8! - die entscheidende Wendung - 9.Sg2-f4 Te5-e3 10.Dd3-b1 Te3-f3+ 11.Kf1-g2 Tf3xf4 12.g3xf4 Te8-g8+ 13.Kg2-f3 Lc8-g4+ mußte Weiß aus gutem Grunde aufgeben: 14.Kf3-g2 Lg4-f5+ oder 14.Kf3-e4 Tg8-e8+ 15.Ke4-d3 Lg4-f5# und 15.Ke4-d5 Lg4-f3 und Matt im nächsten Zug.


Erstveröffentlichung am 27. März 2002

04. März 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang