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SCHACH-SPHINX/05608: Ein gemütlich-behäbiger Charakter (SB)


Fleiß, Hartnäckigkeit, unendlicher Biß - so stellt man sich für gewöhnlich einen Schachmeister vor. Nicht wenige behaupten sogar, Schachspieler seien ausgesprochene Machtmenschen, was jedoch nie bewiesen werden konnte. Eher überwiegt der Eindruck, daß das Streben nach Macht sich für sie im Mattsetzen erschöpft. Doch das so gern in der Presse hofierte Bild eines Schachspielers wäre allzu einseitig, wenn ihm nicht ein dankbarer Kontrast zur Seite gestellt würde. Mit einem Wort, es gibt auch Meister, die stellen das genaue Gegenbild zu unserem Vorurteil dar. Boris Spasski nämlich gilt als extrem faul beim Lernen der Varianten, und auch seine Hartnäckigkeit hält sich in erträglichen Grenzen. Viel lieber, als ein strenges Gesicht zu ziehen, lacht er, und wo andere beißen, um nach oben zu kommen, versucht er es mit warmer Menschlichkeit. Und was heißt außerdem schon "oben"? Wenn Garry Kasparow fällt, dann fällt er tief, weil er sich so sehr über die anderen erhoben hat. Überheblichkeit ist eine vielverbreitete Krankheit des Gemüts bei Erfolgsmenschen. Nicht, daß Spasski keinen Erfolg gehabt hätte. Schließlich erwarb er sich bereits im Alter von 18 Jahren den Großmeistertitel. Der Weg zur Schachkrone war aber länger. 1965 bezwang er zwar Keres, Geller und Tal in den Kandidatenwettkämpfen, doch konnte ihn Tigran Petrosjan zunächst noch knapp mit 11,5:12,5 das Zepter vorenthalten. Das war 1969. Drei Jahre später allerdings und nachdem sich Spasski künstlich in Rage gebracht hatte, forderte er Petrosjan erneut zum Waffengang auf, und diesmal siegte die gemütlich-behäbige Art Spasskis über das filigrane Positionsgehirn des Armeniers. Mit 12,5:10,5 wurde Spasski Schachregent und blieb es bis 1972, als ihm Bobby Fischer, dieser Ehrgeizling der besonderen Art, nach hartem, kräfteverzehrendem Ringen vom Thron stieß. Nach dieser Zeit fiel Spasski in seine alte Haut zurück, das heißt, er verlegte sich aufs Gemütliche. Daß er dennoch von seiner Gefährlichkeit nichts eingebüßt hat, zumindest nicht viel, das wußte auch Jan Timman, als er über Spasski schrieb: "Du weißt nie, hat er gerade eine Figur geopfert oder eingestellt." Das heutige Rätsel der Sphinx stammt aus dem Weltmeisterschaftskampf von 1969. In der fünften Partie hatte sich Spasski mit den weißen Steinen einen unverwüstlichen Freibauern geschaffen. Petrosjan hatte zuletzt 1...Sa5- b7 gezogen mit der Drohung Sb7-d6. Indes, Spasski war in seinem Naturell behäbig genug, um sich nicht vor Gespenstern fürchten zu müssen. Was also entgegnete er, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05608: Ein gemütlich-behäbiger Charakter (SB)

Spasski - Petrosjan
Wettkampf 1969

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Schirow setzte seine Maske auf, als er 1...Sd5-f4! spielte. Wußte er doch, daß der weiße König nach 2.La5xd8 Ta8xd8 3.Dc2-c3 De7-e6 4.f2-f3 Td8-d3! 5.Dc3xc5 Sf4xg2+ 6.Ke1-d1 Sg2xe3+ 7.Kd1-c1 b7-b6 8.Dc5-c7 Td3- d6 9.Dc7-b8+ Lb5-e8 10.Sg3-e4 Td6-c6 11.Se4-c3 Sf4-d5 arg in die Bredouille kommen würde, was sich dann, sieben Züge später, bitter bewahrheiten sollte: 12.Ta1-a2 Tc6-c8 13.Db8-g3 Sd5xc3 14.d2xc3 De6xb3 15.Ta2-c2 Le8-a4 16.Dg3-f2 Db3xa3+ 17.Kc1-b1 La4xc2+ 18.Df2xc2 Tc8xc3 und Weiß gab auf.


Erstveröffentlichung am 14. Oktober 2002

25. September 2015


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