Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


SCHACH-SPHINX/05730: Tyrannei der Kleiderordnung (SB)


Aktivschach, so nennt sich die neueste Korruption der alten, ehrwürdigen und teuer überlieferten Schachregeln in bezug auf die Bedenkzeit. Um die Geduld der werten Zuschauer nicht allzu sehr auf die Probe zu stellen und verkaufsgünstigere Bedingungen zu schaffen für den Einstieg in die Flimmerwelt des Fernsehens wird im Aktivschach - ein fast schon unverschämter Vorwurf gegen die Gedankenlangmut im 'Normalschach' - die Bedenkzeit auf 30 Minuten heruntergebrochen. Nun gut, sagen all jene, die ohnehin nur mit krauser Stirn an die Tolpatschigkeit sogenannter Blitzturniere denken können, wenigstens ein Kompromiß und Mittelding zwischen Blitz- und Langpartie. So ganz ungeschoren und billig kam das Schachspiel dabei jedoch nicht weg. Bei der ersten Weltmeisterschaft im Aktivschach nämlich, ausgetragen 1989 im mexikanischen Mazatlan, hatte der amerikanische Geschäftsmann, der die Verkaufsrechte an US-Fernsehsender abtreten wollte, alle Teilnehmer unter einen Modezwang gestellt. In der Abkehr von der Schillerschen Freude- und Freiheitshymne - 'deine Zauber binden wieder, was die Mode streng getrennt' - war das Tragen von ordinären T-Shirts, knopflosen und verlebt aussehenden Hemden, Shorts, Jeans, ja selbst ökobeflissenen Sandalen tunlichst untersagt worden. Der russische Vorzeigekommunist Anatoli Karpow scherte sich wenig darum. Er lief ohnehin wie der geborene Schwiegersohn herum. Karpow gewann das Turnier, wohl auch, weil die auf Individualität getrimmten Spieler westeuropäischer Zwanglosigkeit gar nicht erst erschienen waren. Der Tyrannei der Kleiderordnung wollten sie sich, freiheitsliebenderweise, auf keinen Fall beugen. Da bedurfte es in Wiesbaden 1929 keines strengen Erlasses, daß die beiden Meister Efim Bogoljubow und Alexander Aljechin zum Weltmeisterschaftskampf wie geleckt und aus dem Ei gepellt zu den Brettern eilten. Aljechin, der um eine Spur eleganter gekleidet war, verteidigte seinen Titel. Jede Zeit hat ihre Sitten, unzeitgemäß dagegen hatte sich Bogoljubow verhalten, der den Preis dafür zahlen mußte, daß sein eigener weißer König recht schäbig im Rochadeeck verwahrloste. Welcher große Wurf gelang nunmehr Aljechin, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05730: Tyrannei der Kleiderordnung (SB)

Bogoljubow - Aljechin
Wiesbaden 1929

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die erzürnte weiße Dame rächte die Dreistigkeit mit fatalen Konsequenzen für den schwarzen König. Auf 1...Le6-c4? folgte kolossal 2.Dd3-d8!! Daß die weiße Dame nicht zu nehmen war, leuchtet rasch ein; aber was gegen die Drohung Dd8-f6! unternehmen? Da half kurzfristig nur das Springeropfer 2...Sb8-d7, aber nach 3.Dd8xd7 Lc4xe2 4.Tf1-e1 Dc5-h5 5.Td1-d2 Dh5-b5 6.Dd7-d4 kam die weiße Dame dennoch zum Zuge und Sköld gab die verlorene Partie sogleich auf.


Erstveröffentlichung am 12. Februar 2003

29. Januar 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang