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SCHACH-SPHINX/05791: Verlegerwillkür (SB)


Berhard Kagan war kein sonderlich begabter Schachspieler. Die Weltspitze war für den Berliner Meister ein unerreichbarer Gipfel, und doch galt seine ganze Leidenschaft dem Königlichen Spiel. Um sich wenigstens bei der Muse zu bedanken, die in seinem Kopf herumspukte, wurde er Verleger von Schachbüchern. Ohne seinen Beitrag wären viele auch heutzutage nicht uninteressante Schachbücher wohl nie erschienen, denn die Inflation der 20er Jahre machte eine Menge literarischer Projekte regelrecht zunichte. Aber auch er wurde gelegentlich zum Totengräber eines aufstrebenden Literaten. So klopfte eines Tages ein junger Mann an seine Verlagstür mit einem Schachmanuskript unter dem Arm. Wochenlang hatte er daran gearbeitet und hoffte nun, in Kagan den Verleger für sein Werk gefunden zu haben. Nachdem dieser eine Weile darin herumgeblättert und einige Passagen mit kritischem Auge überflogen hatte, warf er dem Autor des Werkes einen langen und abschätzenden Blick zu. "Wieviel wollen Sie dafür haben?" fragte Kagan. Ein wenig schüchtern, die Kaltblütigkeit des Verhandelns war ihm fremd, antwortete der junge Mann: "Ich dachte an fünf Millionen." Es war ja schließlich Inflationszeit. Kagan hob eine Augenbraue und erwiderte darauf: "Ich gebe Ihnen zehn Millionen, und wir lassen das Manuskript ungedruckt." So hat die Welt nie erfahren, was dieser junge Mensch an Schachweisheiten zusammengeschrieben hatte, ein Los, das viele Manuskripte und literarischen Werke bis heute teilen. Die Partie zwischen Grünfeld und Réti hätte Kagan sicherlich mit Kußhand gedruckt, enthielt sie doch ein klassisches Beispiel dafür, was einem König alles widerfahren kann, wenn er die Rochade unterläßt. Also, Wanderer, sollte dein Weg dich einmal zu einem Verleger führen, müßte dein Werk mindestens die Güte dieser Partie besitzen. Ein Wink im heutigen Rätsel der Sphinx: Der eingeschränkte Läufer auf h7 spielt bei der Gewinnkombination eine wichtige Rolle.



SCHACH-SPHINX/05791: Verlegerwillkür (SB)

Grünfeld - Réti
Pistyan 1922

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Nicht oft bekommt man im Leben die Gelegenheit, einen Weltmeister zu schlagen. Meister Napier nutzte sie jedoch nicht. Bedauerlich, denn statt des Verlustzuges 1...e5xf4? hätte er mit dem Qualitätsopfer 1...Sc3-e4! 2.Lc4xf7 Lc8-g4! 3.Lf7xe8 Ta8xe8 4.Lc5-a3 e5xf4 eine Gewinnstellung herbeiführen können.


Erstveröffentlichung am 14. April 2003

30. März 2016


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