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SCHACH-SPHINX/05979: Schwerfälligkeit der Materie (SB)


Michail Tal hatte nie viel Aufhebens um seine Garderobe gemacht, und auch sein Haupthaar war oftmals ungekämmt. Modebewußtsein kannte er im Gegensatz zu vielen anderen seiner zumal jüngeren Mitstreiter nicht. Seine nie gewichtig hervorgekehrten Bewegungen und Mienen, sein freundliches Wort zu jedermann, der sanfte Glanz seiner Augen, all dies trug dazu bei, Tal zu einer respektierten Persönlichkeit zu machen. Da verzieh man ihm gern, daß sein Anzug allzu speckig war und seine Zigarettenasche zu Boden fiel, wenn er gerade angeregt in ein Gespräch vertieft war. Tal hatte mit 24 Jahren den Weltmeistertitel errungen, was jedoch nebensächlich, nur eine Etappe war. Was ihn über das Grab hinaus unvergeßlich macht, sind seine gewaltigen Partien und Züge, die er mit unvergleichlichem Kombinationsgenie hervorzauberte. In der Schachwelt hat es wohl keinen anderen Schachmeister gegeben, der wie er die Schwerfälligkeit der Materie überwand, Kunstwerke schuf, die man bewundern, im Grunde jedoch nicht nachvollziehen konnte. Seine Partien abenteuerlich zu nennen, wäre ein Kind der Untertreibung. Phantasie, das sind bunte Farben und possenhafte Gestalten. In den Märchen hat sie ihren angestammten Platz, nicht auf dem Schachbrett. Tals Talent stand auf einem anderen Boden. Goethe hat zwar behauptet, "wer zu viel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verirrungen ausgesetzt", doch der deutsche Denker war auch kein besonders guter Schachspieler. Er hätte sonst seinen Spruch ins Gegenteil umgeschrieben, hätte die Verwickeltheit weniger gefürchtet und erkannt, daß der morsche Sinn des Gradlinigen kein Talent hervorbringt, geschweige denn ein Genie. Um die Ecken den Blick wandern zu lassen, in die Tiefe hinab zu wühlen, die Berechnung als einen begrenzten Pfad zu verlassen, dieser Schritt ins unbekannte Land, wo Phantasie verarmt, Verstand sich nur als Schatten krümmt, wo also der Geist noch jungfräulich ist, nur dort, wo die Kerkerwand des Kleinmütigen keine Gewalt mehr über den Menschen hat, weil jeder Gedanke zum Flügelschlag wird, ach die Poesie selbst träumt sich nur kindlich in dieses Geistesreich hinein, wird Unsterblichkeit geboren. Also, Wanderer, Tal bezwang die Schranken im heutigen Rätsel der Sphinx, als ihm nach nunmehr 1.Sc3-d5! c6xd5 2.Dd3xd5+ Sd6-f7 3.Dd5xa8 Le8-c6 aus dem unbekannten Reich ein genialer Gedanke zuflog!



SCHACH-SPHINX/05979: Schwerfälligkeit der Materie (SB)

Tal - Wisozki
Leningrad 1954

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Tschigorin verzieh sich 1.Ld6-b4?? Te2xh2+ 2.Kh1-g1 Td2-g2# nie; einer der schlimmsten Patzer auf solchem Meisterniveau.


Erstveröffentlichung am 15. Oktober 2003

05. Oktober 2016


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