Wäre Wilhelm Steinitz weniger dogmatisch gewesen, so hätte er seine Lehrsätze über die Mittelspielstrategie viel umfassender formulieren können, als er es tat. Aber weil er an die Starrheit der Systeme glaubte, an unumstößliche Gesetze, blieb sein Werk, so vielversprechend begonnen, auf halbem Wege stecken und unvollendet. Eine seiner großartigsten Ideen, denen er Leben einhauchte, war, daß die Zentrumsfelder nicht zwangsläufig mit Bauern besetzt werden müssen, daß eine Figur, planvoll eingebunden in eine Strategie, oftmals wesentlich stärker in die gegnerische Stellung eingreifen kann, als dies ein Bauer zu tun vermag, der im Grunde lediglich blockiert und erst mit seinem weiteren Vorrücken Dynamik ins Spiel bringen kann. Seine halbgegorene Idee wurde später von Aaron Nimzowitsch revolutioniert und dann von der Hypermoderne Schachschule auch auf die frühe Eröffnungsphase angewendet. Steinitz schlug ein wichtiges Kapitel auf im Begreifen der modernen Schachstrategie, er war gewissermaßen der erste, der erkannte, daß es ein solches Buch überhaupt gab. Doch wie soviele, die ein neues Terrain betreten, verlor er sich mit ungesundem Eifer in den Wiederholungen seiner Thesen, bis diese zu Prinzipien erstarrten. Dennoch war er zu seiner Zeit ein Prophet. Leider verstanden ihn seine Zeitgenossen nicht. Im heutigen Rätsel der Sphinx verhalf ihm seine Theorie zu einem glänzenden Weißsieg. Strategisch wohlgemerkt durchschnitt er der schwarzen Stellung den Lebensnerv, Wanderer.
Steinitz - Selman
Baltimore 1885
Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der Pfeil aus der Ferne kam mit 1...Lb8xh2+! angeschwirrt, verwundete
den weißen König 2.Kg1xh2 Sf6-g4+ 3.Kh2-h3 und trieb ihn ins
Niemandsland, wo die Scharfrichterin dann den letzten Hieb anbrachte:
3...Dd8-g5 4.Db5xd7 Dg5-h5+ 5.Kh3-g3 Dh5-h2+ 6.Kg3xg4 h7-h5+ 7.Kg4-g5
f7-f6+ 8.Kg5-g6 Dh2xg2+ 9.Kg6xh5 Dg2-g5#
Erstveröffentlichung am 24. September 2005
23. September 2018
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