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REZENSION/014: Thomas Luther - Einführung in die Elementartaktik (SB)


Thomas Luther


Einführung in die Elementartaktik

Fundamentales Schachwissen mit GM Thomas Luther



Ist es für einen Anfänger der Schachkunst wirklich sinnvoll und folgerichtig, kurz nach dem Erlernen der Grundregeln und Gangarten der Figuren sich sogleich kopfüber in die Schlacht zu werfen, eine Partie nach der anderen zu spielen und so das empfindsame Gemüt rau und unvorbereitet der bleiernen Erfahrung einer langen Reihe von Niederlagen auszusetzen? Schließlich reichen die ersten unbeholfenen Gehversuche am Brett mitnichten aus, so etwas wie einen strategischen Plan zu fassen und diesen während der Partie weiterzuentwickeln.

Bereits der Lehrmeister Siegbert Tarrasch hatte händeringend davon abgeraten, sich ohne den Beistand einer didaktischen Methode an eine ernsthafte Partie heranzuwagen. Daraus könnte seines Erachtens leicht ein allzu enger und widerständiger Hemmschuh erwachsen. Es wäre schade, aufgrund der Überforderung allen Mut zu verlieren, ohne vom geheimnisvollen Zauber des Schachspiels je gekostet zu haben.

Denn sicher ist, dass nichts so schwer zu enträtseln ist wie ein Brett mit allen Steinen auf den Anfangsfeldern. Üblicherweise beginnt man an dieser Stelle wie in einer Art Trockenübung damit, die verschiedenen Eröffnungen auf ihre weitreichenden strategischen Kerninhalte hin zu erforschen. Doch jede Eröffnung ist so verzweigt und unüberschaubar wie ein minoisches Labyrinth. Man braucht mitunter Jahre, um die notwendigen Feinheiten und Manöver zu begreifen. Bis dahin spielt man sizilianisch oder die Spanische Partie frei nach dem Gedächtnis, also in der steten Qual, marionettenhaft den Buchvarianten zu folgen, so weit man sich an sie erinnert.

Der renommierte deutsche Großmeister Thomas Luther schlägt in seinem Buch "Einführung in die Elementartaktik" einen anderen Weg ein, der dazu geeignet ist, die spielerische Unbefangenheit und den Funken zur Neugierde nicht durch staubiges Buchwissen oder eine am Lernziel vorbeigreifende Didaktik allmählich zu ersticken. Das Buch ist keine reine Anfängerfibel, gewisse Basiskenntnisse werden durchaus vorausgesetzt. In erster Linie spricht es Anfänger oder Hobbyspieler ohne große Spielerfahrung an, die sich in Richtung Klubstärke verbessern wollen.

"Nach Meinung aller Experten ist Taktik zu Beginn der wichtigste Bereich, der auch zur schnellstmöglichen Verbesserung führt" (S. 7), betont Luther im Vorwort, und wer wollte daran zweifeln. Das Reizvolle am Schachspiel besteht ja gerade darin, dass es in seinem Portfolio alle Leidenschaften in sich versammelt und anspricht. Wer spürt nicht das Jagdfieber, wenn er um den gegnerischen König ein Mattnetz entwirft, und wer erfreut sich nicht an der fiebrigen Aufmerksamkeit, die lauernd unbewachte Figuren anpeilt, um sie schließlich zu erbeuten? All dies sind Instinkte der ältesten Natur, die in uns ruhen und nach Herausforderungen streben. Die Figuren auf dem Brett sind die Arme und Beine, mithin die Werkzeuge unseres Denkens. Vor allem jedoch erprobt das Schach unsere Findigkeit im Erkennen von Gefahren und das Ausspähen von entscheidenden Zugkombinationen. Diese Freude hervorzukitzeln und methodisch zu verstärken, ist der immanente Auftrag dieses Lehrbuches an der Schwelle zwischen Überforderung und Ansporn.

Strategie bedeutet, dass sich jeder einzelne Zug in einen Plan fügt. Einen verständnisinnigen Plan zu entwerfen setzt unterdessen eine Weitsicht voraus, die ein Einsteiger nie und nimmer aufbieten kann. Dieser Anspruch geht weit über seinen Verstehenshorizont hinaus. Das Strategische kommt, je gewitzter man in seinem Spiel wird, irgendwann beinah von selbst, schon deshalb, weil die Gegner mit der Zeit stärker werden und damit die Anforderungen steigen. Daher geht Luther einen wohldurchdachten Schritt zurück und konzentriert sich im Vorwege auf das Vermitteln von taktischen Motiven, die für jede Partie von unentbehrlichem Wert sind. Taktik heißt, wie kann ich Material gewinnen oder den Verlust eines Steins verhindern.

Die Methode, derer sich Luther bedient, ist im Prinzip altbekannt. So wurden in der Russischen Schachschule lange Zeit sogenannte kleine Spiele mit reduziertem Material auf dem Brett bevorzugt eingesetzt, um dem Anfänger die speziellen Eigenschaften der Figuren als auch deren Wirkgrenzen beispielhaft aufzuzeigen. In der westlichen Welt behandelte man diese Vorgehensweise dagegen recht stiefmütterlich. Mag sein, dass die Ansicht vorherrschte, der Novize habe zuerst die Regeln und dann die Theorie zu lernen, was sich vom Verlagswesen her auch besser vermarkten ließ. Selbst heute noch finden sich Lehrstücke dieser Art äußerst selten in der westlichen Fachliteratur.

Was bedauerlich ist, denn die kleinen Spiele sind ungemein hilfreich dabei, ein Gefühl für die taktische Wirksamkeit einer jeden Figur zu vermitteln. Insbesondere gilt dies für den Springer, mit dem sich Novizen schon aufgrund seiner ungewöhnlichen Gangart schwertun. Auf einem vollen Brett sind die Figuren zudem durch eigene oder gegnerische Steine stark eingeschränkt, wodurch ihr volles Potential für einen Anfänger nur bedingt nachvollziehbar ist. Je mehr Figuren vom Brett verschwinden, desto größer wird der Raum für Operationen. So stellen Turmendspiele selbst für Fortgeschrittene eine echte Hürde dar, vielleicht, weil sie zu Beginn ihres Weges nur mit dem vollen Brett konfrontiert waren und nicht früh gelernt haben, eine Figur als Vektor in der räumlichen Dimension zu begreifen.

Das Buch ist streng gegliedert wie ein Kurs, wo Lernschritt auf Lernschritt aufbaut und die Wissensvermittlung eng mit dem jeweiligen Lernziel korreliert. So lernt der Leser im ersten Kapitel die ganze Bandbreite der Notation kennen, was unverzichtbar ist, um sich im Turnierbetrieb zurechtzufinden, aber auch, um die eigenen Partien aufschreiben bzw. in Theoriewerken nachschlagen zu können. Im anschließenden Kapitel wird das Erlernte sogleich überprüfbar gemacht. Anhand von Stellungsbildern soll der Lernende die Felder aller Offiziere und Bauern auf dem Brett benennen und seine Ergebnisse auf eigens dafür vorgesehene Linien niederschreiben. Zur Vertiefung der Kenntnisse folgen Stellungsdiagramme einer Meisterpartie mit dem jeweils weißen und schwarzen Zug, die er bis zum 13. Zug zu notieren hat. Im Lösungsteil lässt sich die Richtigkeit der Zuschreibungen überprüfen. Was sonst fremd und abstrakt in Lehrbüchern wirkt, nämlich dass man mit dem Lernstoff weitgehend allein bleibt, wird durch diese interaktive Hilfestellung begehbar und leicht verständlich gemacht.

In den nächsten Kapiteln beginnen die kleinen Spielen mit Übungsaufgaben zur Wirkungsweise der Bauern und Offiziere. Ziel ist, den Umgang mit einer speziellen Brettsituation wie zum Beispiel mit einer Bauernmajorität auf einem Flügel von der Pike an zu lernen. Solche Konstellationen können in jeder Partie vorkommen. Hat man ihr Schema einmal gelernt und begriffen, ist der geheimnisvolle Schleier für alle Zeiten zerrissen und man ist in der Lage, auch Züge im Voraus zu berechnen, weil sie sich einem logisch erschließen.

So kurios und konstruiert die kleinen Spiele auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, wenn beispielsweise drei schwarze Bauern gegen einen weißen Springer vorrücken oder drei schwarze Springer samt König gegen eine vollständige weiße Bauernreihe mit König antreten, so wird dabei doch etwas sehr Fundamentales gelehrt, nämlich die Kontextualisierung der Züge innerhalb eines begrenzten Lösungsweges oder taktischen Ziels, was zugleich das Vorstellungsvermögen enorm erhöht und es späterhin leichter macht, die im Gewirr einer Partiestellung versteckte Kombination zu finden. Die Anfänge sind wichtiger als die bloße Adaptation von Wissen. So wie Lesen und Verstehen von Texten zusammengehören, bilden auch Taktik und die individuelle Gangart der Figuren und Bauern eine Einheit. Eines kann ohne das andere nicht bestehen.

Keineswegs erheben die kleinen Spiele den Anspruch, reale Brettsituationen wiederzugeben. Darum geht es auch nicht. Vielmehr wird durch sie eine Orientierung geboten, um Kräfteverhältnisse von Bauern und Leichtfiguren gegeneinander abschätzen zu können und darüber gewissermaßen die Geometrie der Züge ins Verhältnis zu setzen zum Raum der Felder, der beschritten werden muss, um ein erklärtes Ziel zu erreichen. Dem Denken im Schach auf die Sprünge zu helfen, sind die kleinen Spiele ein nützliches, aber leider im Westen arg vernachlässigtes Mittel. Dass Luther diese Ideen aufgegriffen und zu einem Lernkonzept verdichtet hat, verdient allerhöchsten Respekt. So wird der Lernende behutsam und systematisch, quasi innerhalb seiner eigenen Vorstellungsreichweite, an taktische Motive aus der Meisterpraxis herangeführt, ohne von diesen Geistesblitzen andernfalls einfach nur erschlagen zu werden. Ein in der Tat überzeugender Weg der Schulung und didaktischen Ermutigung.

Im weiteren Verlauf geht es um die Mustererkennung, ein Matt bzw. einen Materialgewinn in einem Zug aufzufinden. Der Wechsel von einfachen Mattbildern zu kniffligen Denkansätzen spornt den Ehrgeiz an und hilft dabei, eine Stellung besser zu verstehen. Material zu gewinnen ist die Königsdisziplin im Schach. Dazu ist es erforderlich, eine Schwächung im gegnerischen Lager, einen ungedeckten Stein oder die Verlaufsführung eines Matts in einer komplexen Stellung ausfindig zu machen. Sodann die Gewinnfolge oder ein Matt in zwei Zügen in Meisterpartien aufzudecken, erhöht den Schweregrad der Aufgaben und schärft das Auge für das Zusammenwirken von Figuren.

Nach diesen gängigen Mustern erweitert sich das taktische Spektrum auf die Elementarformen von Doppelangriff, Spieß und Springergabel bis zu den anspruchsvolleren Motiven von Fesselung, Überlastung und Abzugsangriff, die Luther lehrreich und akkurat erläutert und mit einem bunten Strauß von Aufgaben bereichert. Wer das Buch studiert, kann hinterher tatsächlich von sich behaupten, er halte etwas in Händen, um eine reale Partie zu bestreiten, ohne von ihr überfahren zu werden. Angemerkt sei an dieser Stelle noch der Ratschlag eines der bekanntesten Trainer der Welt Mark Dvoretzky: "95% aller Fehler sind einfache Fehler. Wenn wir diese ausmerzen haben wir schon viel erreicht." (S. 14)

Beim Leser kommt keine Kluft oder Scheu auf, auch, weil Luther ihn duzt und auf förmliche Etiketten verzichtet. Was das Buch über den unbestrittenen Lernwert hinaus auszeichnet, findet sich im 6. Kapitel. Dort widmet sich Luther eindringlich dem Verhaltenskodex des Spielers während einer Partie. Wer eine Figur "wie ein Adler über der Beute" (S. 99) kreisen lässt, statt seinen Zug ohne jede Verzögerung auszuführen, oder mit den Händen herumwedelt, um die imaginierten Züge mit einer Bewegung zu unterstützen, verletzt zwar keine Turnierregel, dennoch zeugt dies von schlechten Hinterhofmanieren. Das gilt auch für den Fall, dass man mit dem Stift herumspielt, ein Liedchen summt, auf dem Stuhl herumrutscht oder mit dem Oberkörper weit über dem Brett hängt und so seinen Kontrahenten beim Nachdenken stört. Wer es an Höflichkeit und Respekt vor dem anderen vermissen lässt, handelt unsportlich und hat offenbar von der Schachkunst keine hohe Meinung.

Um unnötige Streitfälle zu vermeiden, sollte man sich auch in privaten Partien an einige Regeln halten, die im Turnierbetrieb vorgeschrieben sind. Als oberstes Gebot gilt: "Berührt - geführt." Ein Stein, die berührt wurde, muss auch gezogen werden, sofern der Zug nicht regelwidrig ist. Und wichtig ist: Ein Zug gilt erst dann als ausgeführt, sobald man die Finger von der Figur löst. Danach darf kein Zug mehr zurückgenommen werden. Wer einen Stein auf dem Brett zurechtrücken will, muss, um keinen Unmut zu erregen, zuvor "J'aboude" sagen, um so seine Absicht zu erklären. Auch gilt, die Uhr mit der Zughand zu drücken. Alles andere wäre schlechter Stil. Und wer ein Remis anbieten möchte, muss selbst am Zuge sein und sollte nicht, wenn das Remis abgelehnt wurde, sein Remisangebot Zug um Zug wiederholen. Bei einer Rochade zieht man zuerst den König und erst danach den entsprechenden Turm. Luther bespricht dieses sensible Thema ohne einen Rohrstock in der Hand und dennoch mit nötigem Nachdruck.

Schach ist eben mehr als das Verschieben von Klötzchen. Es erfordert Geduld, Fairness und den innigen Wunsch, sein Spiel ernsthaft weiterzuentwickeln. Luther gebührt auf jeden Fall Dank, mit seinem Buch eine Methode des Lernens fernab des Herkömmlichen auf den Markt gebracht zu haben.

7. März 2022


Thomas Luther
Einführung in die Elementartaktik
Fundamentales Schachwissen mit GM Thomas Luther
Joachim Beyer Verlag 2022
318 Seiten, 24,80 EUR
ISBN 978-3-95920-145-2
 
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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