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REZENSION/022: Karsten Müller - Magnus Carlsen. Die Schach-DNA eines Genies (SB)


Karsten Müller


Magnus Carlsen

Die Schach-DNA eines Genies


Buchcover: Magnus Carlsen. Die Schach-DNA eines Genies - © by Joachim Beyer Verlag

Buch­co­ver: © by Joa­chim Beyer Ver­lag

Ge­ne­tik und Schach in einem mo­ti­va­to­ri­schen Über­schwang mit­ein­an­der zu kom­bi­nie­ren ist keine ein­fa­che Sache. Ner­ven­bah­nen, Syn­ap­sen und die Wahr­neh­mungs- und Ver­ar­bei­tungs­pro­zes­se im Ge­hirn schei­nen auf den ers­ten Blick kein ge­eig­ne­tes Mit­tel

zu sein, um tie­fer in die Ent­schei­dun­gen des Schach­spie­lers am Brett vor­zu­sto­ßen. Beide Dis­zi­pli­nen be­an­spru­chen den Wil­len als höchs­te In­stanz. Ein Genie ist der DNA je­doch noch nie ent­sprun­gen. Im Schach heißt es, Ta­lent ist eine Seite der Me­dail­le, Ar­beit und Fleiß die an­de­re.

Kars­ten Mül­ler hat die­ses sen­si­ble Feld der Er­for­schung des Schach­ge­dan­kens in sei­nem Buch "Ma-

gnus Carl­sen - Die Schach-DNA eines Ge­nies" quasi zum wis­sen­schaft­li­chen Stoff er­ho­ben. Der 16. Welt­meis­ter der Schach­his­to­rie ist zwei­fels­oh­ne eine schil­lern­de Figur, sein stra­te­gi­sches Spiel geht weit über den Ver­stand eines Klub­spie­lers hin­aus. Um dem schwie­ri­gen Thema ge­recht zu wer­den, hat der Ham­bur­ger Gro­ß­meis­ter durch die Bril­le des so­ge­nann­ten "Mo­dells der vier Spie­ler­ty­pen" ge­schaut, um Carl­sens Uni­ver­sa­li­tät für eine ge­spann­te Le­ser­schaft ge­schickt her­aus­zu­ar­bei­ten. Dabei spielt es keine Rolle, ob man mit dem Sche­ma­ta der Spie­ler­ty­pen kon­form geht, ob man an deren Wert zwei­felt oder die spe­zi­el­le Sicht dar­auf rund­um ab­lehnt. Am lan­gen Ende ist Mül­lers Werk auf jeden Fall ein in­struk­ti­ves Lehr­buch der Stra­te­gie.

Das Buch be­ginnt mit einer bün­di­gen Zu­sam­men­fas­sung der Ty­po­lo­gie von Ak­tiv­spie­ler, Prag­ma­ti­ker, Theo­re­ti­ker und Re­flek­tor und wid­met sich an Bei­spie­len ori­en­tiert ihren Stär­ken und Schwä­chen. Gleich­zei­tig be­tont er, dass keine Regel ohne Aus­nah­me aus­kommt und in­di­vi­du­el­les Stre­ben kei­nem Ras­ter folgt. Die­ses Vor­ge­hen ist ty­pisch für den Autor. Der Leser wird erst ein­mal auf den In­halt der ein­zel­nen Ka­pi­tel vor­be­rei­tet.

Die ver­schie­de­nen The­men­kom­ple­xe wer­den aus­schlie­ß­lich an­hand von Par­ti­en von Ma­gnus Carl­sen vor­ge­stellt. Stra­te­gie­mo­men­te im Spiel gegen Schwä­chen, die Nut­zung of­fe­ner Li­ni­en, Raum- und Ma­te­ri­al­vor­teil, An­wen­dung des Läu­fer­paa­res, der

rich­ti­ge Ab­tausch, Do­mi­nanz- und Re­strik­ti­ons­me­tho­den, ak­ti­ve Pro­phy­la­xe, das Carl­sen-End­spiel, un­ter­schied­li­che Fi­gu­ren­for­ma­tio­nen, Ver­tei­di­gung und Tur­mend­spie­le - zum Stu­die­ren für einen Nach­mit­tag reicht es al­le­mal aus.

Stra­te­gie ist, ge­lin­de ge­sagt, der Ent­wurf eines lang­fris­ti­gen Ziels, der in einen gro­ßen Plan mün­det. Die etap­pen­haf­te Um­set­zung des Plans be­dient sich wie­der­um der Tak­tik, die aus schlag­fer­ti­gen Zügen be­stehen kann oder die nächs­te Stufe der Vor­teils­nah­me ein­lei­tet. An­ders läßt sich das Schach­spiel nicht den­ken. Es ba­siert immer auf einem stra­te­gi­schen Plan und kor­re­spon­diert mit der Ur­teils­fin­dung des Spie­lers. In dem Span­nungs­feld von Ja und Nein agiert jeder Meis­ter sei­nes Fachs.

Die Wir­kung der Fi­gu­ren kann durch hem­men­de Bau­ern ein­ge­schränkt oder durch dy­na­mi­sche Ele­men­te ge­stei­gert wer­den. Bei­spiels­wei­se zie­hen Läu­fer ihre Kraft aus dem Be­we­gungs­raum, sie brau­chen Platz, wäh­rend Sprin­ger Ecken und Kan­ten lie­ben und in ver­schach­tel­ten Stel­lun­gen zu einer ge­fähr­li­chen Figur wer­den kön­nen. Ein Vor­teil wel­cher Art auch immer be­ruht auf der in einem Läu­fer, Sprin­ger oder Turm bzw. in der Kom­bi­na­ti­on meh­re­rer Fi­gu­ren schlum­mern­den En­er­gie, die es frei­zu­set­zen gilt. Was die Ka­pi­tel tat­säch­lich zu­stan­de­brin­gen, ist, die Stra­te­gie als eine Per­spek­ti­ve zu be­grei­fen. Das heißt, man spielt und rech­net rück­wärts auf die kon­kre­te Stel­lung zu­rück, wie­wohl auf dem Brett der Ein­druck

ent­steht, der Spie­ler würde nur sei­nen nächs­ten kon­kre­ten Zug aus­füh­ren.

Bis zu die­sem Punkt ist es leicht, den di­dak­ti­schen Struk­tu­ren im Buch zu fol­gen. Der aus der Wis­sen­schaft ent­lehn­te Be­griff der DNA, der selbst in die­sen Krei­sen mit The­sen und Ge­gen­the­sen kon­fron­tiert ist, so dass alles an­de­re als ein ein­deu­ti­ges Bild vor­liegt und noch der ak­tu­el­le Stand an For­schung mehr Fra­gen auf­wirft als Ant­wor­ten ge­ne­riert, ist sei­nem Wesen nach un­faß­bar wie ein Ge­spenst und lo­gisch kaum zu durch­drin­gen.

Der frei­en As­so­zia­ti­on der Ge­dan­ken sind damit gleich­wohl Tür und Tor ge­öff­net, was einer An­wen­dung in der Schach­no­men­kla­tur ent­ge­gen­kommt. Frei­lich hat es der Autor ver­säumt, sei­nen ei­ge­nen Zu­gang in die Ma­te­rie in aller Deut­lich­keit klar­zu­le­gen. So läßt es sich über einen Makel bei aller an-

sons­ten gut ge­lun­ge­nen Ar­beit nicht hin­weg­trös­ten. Zu eng ist hier die Nähe zwi­schen dem Kon­zept der Spie­ler­ty­pen und der DNA-ver­wand­ten For­schungs­me­tho­den und zu fern seine Zu­ord­nungs­wahr­schein­lich­keit.

Kri­tik ist das Schau­kel­pferd des Re­zen­sen­ten, und so darf ein wei­te­rer Punkt nicht un­er­wähnt blei­ben. Der Buch­ti­tel fällt zu pom­pös aus, was wohl eher an den Am­bi­tio­nen des Ver­lags­mar­ke­tings lag und we­ni­ger der per­sön­li­chen Frei­heit des Au­tors ge­schul­det war. Ein letz­tes Wort noch: Die­ses Buch schrieb je­mand aus einem tief­emp­fun­de­nen An­lie­gen her­aus. Wer hören will, muß lesen, und wer liest, lernt bes­ser. Diese Wahr­heit be­stä­tigt sich hier auf jeder ein­zel­nen Seite, auch dank der Test­fra­gen und ihrer Lö­sun­gen.

30. Ok­to­ber 2023


Karsten Müller
Magnus Carlsen
Die Schach-DNA eines Genies
Joachim Beyer Verlag 2023
156 Seiten
ISBN 978-3-95920-181-0


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023

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