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BERICHT/043: Das Ende der Blutsverwandtschaft? (ROSA)


ROSA:33 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Oktober 2006

Das Ende der Blutsverwandtschaft?

Von Willemijn de Jong


"Blutsverwandtschaft" ist eine hoch bewertete Kategorie im Alltag und in der Öffentlichkeit westlicher Gesellschaften. Dies verdeckt, dass Verwandtschaft nach neueren ethnologischen Erkenntnissen etwas Prozesshaftes und Ambivalentes ist. Auch gibt es Anzeichen dafür, dass Blutsverwandtschaft kulturell an Bedeutung verliert und Genverwandtschaft an Wichtigkeit gewinnt. Dies bringt neue Probleme und Unsicherheiten für Individuum, Familie und Gesellschaft mit sich.


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Blutsverwandtschaft gilt bei uns landläufig als Verwandtschaft per se. Als erstes assoziieren wir sie mit der Beziehung zu Eltern und Geschwistern. "Blut" sowie "Natur" und "Biologie" sind zentrale Referenzgrössen, wenn von Verwandten die Rede ist. So etwa äussern sich beginnende Ethnologiestudierende in der Schweiz. Da über die hiesige Situation jedoch kaum gesicherte Angaben zu Ideen und Wertvorstellungen von Verwandtschaft bestehen, lohnt sich ein Blick auf die Situation in anderen westlichen Gesellschaften, wo in den letzten gut fünfzig Jahren eingehende Studien durchgeführt wurden. Ziel war es, kritische Vergleiche anzustellen und die Verwandtschaftsforschung als ethnozentristisches Projekt zu hinterfragen. Anzumerken ist, dass Verwandtschaftsforschung, anders als Familienforschung im soziologischen Sinn, immer schon ein zentrales Feld der Sozial- und Kulturanthropologie war.


Blutsverwandtschaft nach euro-amerikanischem Verständnis

Über die USA der 1960er-Jahre berichtet die Forschung, dass die kulturellen Vorstellungen von Verwandtschaft in ausgeprägter Weise durch biogenetische Substanzen, insbesondere Blut, bestimmt sind. Neben dieser Ordnung der Natur spielt die Ordnung des Gesetzes oder der Kultur eine Rolle. Damit sind institutionalisierte Regeln und Gewohnheiten wie z. B. Heirat und Ehe, gemeint. Ein folgenreiches Kernsymbol stellt der Fortpflanzungsakt dar. Denn der heterosexuelle Geschlechtsverkehr begründet die dauerhafte Solidarität zwischen Blutsverwandten.

"Blutsverwandte" im Sinne von Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen sind im amerikanischen Kontext ideell sowohl durch "Natur" als auch durch "Gesetz" geprägt. Sie sind die am höchsten bewertete Klasse von Verwandten und werden sozial als die engsten Beziehungen betrachtet. Das hat öffentliche Folgen: Bande des Blutes und gegenseitige Rechte und Pflichten bleiben bestehen, auch wenn Kinder etwa entrechtet werden. "Natürliche Verwandte", wie illegitime Kinder und der biologische Vater oder die biologische Mutter ohne rechtliche Legitimation, werden weniger hoch bewertet. "Verwandte durch Gesetz", die wie Schwiegerverwandte auf rein rechtlicher Basis beruhen, werden als am wenigsten wichtig und bindend beurteilt.

Auch in England finden sich solche Vorstellungen. Heute geht man davon aus, dass es im euro-amerikanischen Raum prinzipiell ähnliche Ideen über die intimsten sozialen Beziehungen gibt. Durch englische Studien wurde klarer ersichtlich, dass Blut als in eine Richtung - und zwar nach unten fliessend - aufgefasst wird. Jedes Kind, das neu entsteht, ist ein "Gemisch aus Blut": zur Hälfte bestehend aus dem Blut der Eltern, zu Vierteln aus dem Blut der Grosseltern und zu Achteln aus dem Blut der Urgrosseltern. Was in der einzelnen Person davon sichtbar wird, sind bestimmte Teile, die man von den Vorfahren bekommen hat, wie Augenfarbe, Begabungen etc. Diese einzelnen Teile bilden nach gängigem Verständnis eine einmalige Konfiguration, so dass jedes Mal ein Individuum mit einer unverwechselbaren eigenen Identität entsteht. Die zentrale Idee vom Fluss des Lebens als ein nach unten fliessender Fluss des Blutes ist mit ein Grund, weshalb es für uns so wichtig ist, zu wissen, wer die "wirklichen Eltern" sind.


Alternative Verwandtschaftsvorstellungen

In nichtwestlichen Gesellschaften existieren andere Ideen über Körpersubstanzen, Natur und Kultur einerseits sowie Verwandtschaft andererseits. Diese sind auch anders 'gendered'. Beispielsweise gibt es Gesellschaften, in denen vor allem das Blut und die Milch der Mutter für die Identität eines Kindes wichtig sind. Es existiert auch die Vorstellung, dass aufgrund der Weitergabe ähnlicher Substanzen, nämlich Blut und Milch resp. Blut und Samen, Mutter und Tochter einerseits und Vater und Sohn andererseits enger miteinander verwandt sind. Weiter gibt es Gesellschaften, in denen weder Körpersubstanzen noch der Fortpflanzungsakt von Bedeutung sind, da z. B. davon ausgegangen wird, dass ein Geistwesen der Verwandtschaftsgruppe mütterlicherseits und nicht jenes väterlicherseits entscheidend für die Zeugung eines Kindes ist. Ein solches Kind ist nicht wie bei uns ein neues Individuum, sondern es kommt alt zur Welt, als Inkarnation der Vorfahren. Eine neue Person entsteht erst allmählich durch das Eingehen neuer Beziehungen. Der Fluss des Lebens nicht unbedingt der des Blutes - ist in diesem Fall zyklisch.

Verwandtschaft wird also keineswegs universal durch "Blut" oder durch "Natur", geschweige denn durch "Biologie" im Sinne des institutionalisierten Wissens der belebten Natur und deren Gesetzmässigkeiten konzeptualisiert. Universal ist nach heutiger Forschung allenfalls ein Konzept des Miteinander-Teilens, seien es körperliche Substanzen und/oder Nahrung, Wohnraum, Land, Unterstützung etc. Verwandtschaft als analytische Kategorie wird eher als Tun denn als Sein, eher als Prozess denn als Struktur konzipiert, und wird wie Gender vorwiegend als kulturelles und soziales Konstrukt gedacht. Vor allem durch die Arbeiten von Foucault und Bourdieu wurde klar, dass Institutionen, Ideen und Praktiken der Verwandtschaft Transformationen unterworfen sind. Neu zeigten feministische Anthropologinnen, wie sich durch die Betrachtungsweise von Verwandtschaft als etwas Natürlichem Macht entfalten kann - mit oft negativen Folgen für Frauen.


Ambivalenzen der Blutsverwandtschaft

Was in der anglophonen Forschung im Dunkeln bleibt, tritt in der frankophonen klarer ans Licht: Hinsichtlich Ehe, Sexualität und Körper ist Blutsverwandtschaft nicht nur positiv mit Nähe und Solidarität verbunden, sondern sie ist überaus ambivalent. Foucault weist in seinem Buch "Der Wille zum Wissen" darauf hin, dass im Frankreich des 18. Jahrhunderts das Allianzdispositiv, nämlich das System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und der Güter, zunehmend von einem Sexualitätsdispositiv überlagert wurde. Unverkennbar ist hier der Einfluss von Lévi-Strauss' Theorie über Verwandtschaft. Die rechtmässige Ehe und die Fruchtbarkeit in bürgerlichen Familien werden hochgeschätzt und Gefühlsbeziehungen sowie körperliche Nähe werden praktisch und - diskursiv intensiviert. Gleichzeitig wird zunehmend thematisiert, wie sexuelle Beziehungen zwischen Blutsverwandten, "Blutschande" oder Inzest, zu vermeiden sind.

Die damalige Bedeutung des Blutes schreibt Foucault vor allem dem Allianzdispositiv und dem Regime des Adels zu, da sich dieser an weit zurückreichenden Stammbäumen orientiert. Blut sei eine "Realität mit Symbolfunktion" gewesen: Es signalisierte den Wert des Status durch Abstammung in einer hierarchischen Ständegesellschaft, und es spielte eine wichtige instrumentelle Rolle - Mann musste Blut vergiessen können. Blut entfaltete somit erhebliche Machtwirkungen.

Über die bürgerlichen Familien sagt Foucault, dass sie eine "umgekehrte und dunkle Ahnentafel" führten, deren "beschämende Adelstitel die Krankheiten oder Belastungen der Verwandtschaft waren: die progressive Paralyse des Grossvaters, die Nervenschwäche der Mutter, die Schwindsucht des Schwesterchens, die hysterischen oder liebestollen Tanten, die Vettern mit dem schlechten Lebenswandel". Blut, so können wir mit Foucault folgern, war im Westen des 20. Jahrhunderts weiterhin eine wichtige Metapher für enge soziale Beziehungen, aber nicht mehr so umfassend wie früher für die Aristokratie.


Vom Blut zu den Genen?

Die kulturelle Dominanz der Blutsverwandtschaft, der Ehe und des Fortpflanzungsaktes im westlichen Denken ist mittlerweile durch die Praxis von Wahlverwandtschaften in Frage gestellt worden. Diese gibt es bei Patchworkfamilien, die durch Scheidungen und Konkubinat entstehen, bei familiären Lebensgemeinschaften, die Lesben und Schwule mit ihrem Umfeld bilden, und bei Familienformen, die durch Neue Reproduktionstechnologien (NRT) und Adoption zustande kommen.

Die Idee des Fortpflanzungsaktes ist in den USA aber noch so dominant, dass sie weiterhin als politische Legitimationsstrategie dient. Beispielsweise haben sich in letzter Zeit Gerichte verschiedener US-Bundesstaaten, ausser in Kalifornien, gegen Ehen gleichgeschlechtlicher Paare ausgesprochen mit der Begründung der fehlenden Fortpflanzungsmöglichkeit. Nun lässt sich dieses Argument auch bei "unfruchtbaren" Ehepaaren vorbringen. Doch solche "Körperabweichungen" lassen sich heute durch NRT, mit Spenden von Samen- oder Eizellen oder mit Leihmutterschaft zum Teil normalisieren. Ein derartiges Gegenargument wurde indessen nicht ins politische Feld geführt. Die NRT gefährden nämlich ebenfalls herkömmliche Werte von Familie und Verwandtschaft.

In scharfsinniger Weise hat die englische Anthropologin Marilyn Strathern darauf hingewiesen, dass durch die Möglichkeit der NRT zum einen die Familie unter Legitimationsdruck gerät, da nun der "natürliche" Fortpflanzungsakt theoretisch, und in immer mehr Fällen auch praktisch, ausgelagert und künstlich durchgeführt werden kann. Die Familie ist durch dieses mögliche Outsourcing sozusagen bloss noch sozial bestimmt: durch eine eheliche Partnerschaft mit einem dringlichen Kinderwunsch sowie durch das Aufziehen von Kindern. Zum anderen wird die Verwandtschaft aufgrund unserer kulturellen Prämisse der biogenetischen Substanz unausweichlich erweitert: durch mögliche "genetische Väter", "genetische Mütter", "Leihmütter" oder durch "genetische Kinder", gezeugt durch Spenden von Keimzellen. Neu versucht das Gesetz meist die Kategorien Familie und Verwandtschaft in diesem Kontext zu trennen. Aber wie die Betroffenen und ihre Umgebung mit diesen teils beängstigenden Verwandten konkret umgehen, ist ein weites Feld, worüber noch wenig bekannt ist. Auch in der Schweiz, wo Eizellenspenden und Leihmutterschaft noch verboten sind, hat ein Kind mit 18 Jahren das Recht, seinen genetischen Vater (den Samenspender) kennen zu lernen. Genetik und NRT kreieren einen neuen intim-öffentlichen Raum, der offensichtlich eine fruchtbare Zukunft für eine Kategorie wie "Genverwandtschaft" bietet, neben oder anstelle von Blutsverwandtschaft. In unserem Denken verschiebt sich die Bedeutung von Natur im Zusammenhang mit Verwandtschaft - vom Blut zu den Genen. Ihre Basis in kulturellen Vorstellungen biogenetischer Substanz bleibt jedoch bestehen, trotz der Praxis vielfältiger Wahlverwandtschaften.

Autorin:
Willemijn de Jong lehrt und forscht als
Titularprofessorin für Ethnologie an der Universität Zürich.
w.de.jong@access.unizh.ch


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Quelle:
ROSA:33 - Zeitschrift für Geschlechterforschung,
Ausgabe Oktober 2006, S. 4-6
Herausgeber: Historisches Seminar
Karl-Schmid-Strasse 4, CH-8006 Zürich
E-Mail: rosa.gender@gmail.com

Das Rosa-Jahresabonnement kostet 15 SFr / 11 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2007