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FORSCHUNG/092: "Kerndatensatz Forschung" - Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (idw)


Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI) - 21.01.2016

Zum "Kerndatensatz Forschung" - Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)


Die Idee des "Kerndatensatz Forschung" des Wissenschaftsrats reagiert auf die Problemlage des Mangels an national vergleichbaren Daten zu Forschungsaktivitäten. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) äußert jedoch erhebliche Bedenken: Wie hoch ist der Aufwand im Vergleich zur Effizienz? Kann ausgeschlossen werden, dass die Daten für den Vergleich de facto nicht vergleichbarer Forschungsaktivitäten benutzt werden? Auch im Hinblick auf die Entwertung nicht im Kerndatensatz enthaltener Forschungsaktivitäten zeigt sich die DGS wegen der Wahrscheinlichkeit einer Steuerungswirkung auf das Wissenschaftssystem besorgt. Sie fordert daher eine breitere Diskussion des Kerndatensatzes.


Hintergrund:

Im Januar 2013 hat der Wissenschaftsrat erste Empfehlungen zu einem Kerndatensatz Forschung verabschiedet. Der Kerndatensatz soll einen "Standard für die informationstechnische Erfassung von Forschungsaktivitäten" liefern und die Berichterstattung für Forschungseinrichtungen vereinfachen. Vor allem soll er "belastbare" Daten bereitstellen, um Vergleiche zwischen Fächern und innerhalb von Fächern ziehen zu können. Die im Kerndatensatz definierten Eckdaten von Forschungsaktivitäten sollen künftig von allen Hochschulen und außeruniversitären Forschungsorganisationen einheitlich erhoben und auf Anfragen aus Politik, Forschung und Medien zur Verfügung gestellt werden.

Der von einer Projektgruppe des Wissenschaftsrats, Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (IFQ) sowie Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnologie erarbeitete Kerndatensatz umfasst die fünf Bereiche Beschäftigte, Nachwuchs, Drittmittel/Finanzen, Patente, Publikationen. Die sogenannte "Schale", die als "weniger verbindlich" deklariert wird, umfasst Preise und Forschungsinfrastrukturen.

Für zwei Monate - Juni und Juli 2015 - war es möglich, die Betaversion des Kerndatensatzes online zu kommentieren. Im September 2015 wurden die Änderungsvorschläge von einem vom Wissenschaftsrat eingerichteten Beirat durchgesehen. Laut Webseite des IFQ wurden 149 Änderungsvorschläge vom Beirat übernommen und zusammen mit einem Bericht an den Wissenschaftsrat übergeben. Auf der in dieser Woche stattfindenden Sitzung des Wissenschaftsrats soll die Version 1.0 des Kerndatensatzes verabschiedet und mit entsprechenden Empfehlungen veröffentlicht werden.

Als einzige Fachgesellschaft hat sich bislang der Historikerverband geäußert. Kritisiert wird insbesondere, dass die mit dem Kerndatensatz vorgenommene Standardisierung die Fachkulturen untergräbt ("Zahlen statt Köpfe"), dass statt der vom WR proklamierten Datensparsamkeit riesige Datenpools entstehen und der hohe Aufwand im jetzigen Betrieb nicht zu leisten ist. Schließlich war die Einbindung der Fächer in den Prozess unzureichend.


Stellungnahme

Zunächst ist festzuhalten, dass die Idee des Kerndatensatzes auf eine faktisch bestehende Problemlage und berechtigte Interessen - nicht zuletzt all jener, die die Wissenschaft finanzieren - reagiert: Tatsächlich gibt es zu basalen Aspekten von Forschungsaktivitäten, etwa zur Höhe von Drittmitteleinwerbungen oder der Anzahl der Doktorand/innen, keine national vergleichbaren Daten.

Außer Frage steht auch, dass es für alle Beteiligten mehr als misslich und sehr ressourcenintensiv ist, für die diversen und unterschiedlichen Anfragen und Berichtserfordernisse innerhalb und außerhalb des Wissenschaftssystems immer wieder neu und anders formatierte Angaben zusammenstellen zu müssen. Eine Vereinfachung der Berichtspflichten wäre in der Tat zu begrüßen. Dem stehen jedoch aus Sicht der DGS erhebliche Bedenken bezogen auf die Einführung des geplanten Kerndatensatzes gegenüber:

1. Kurz- und mittelfristig hoher Aufwand - unklare Effizienzgewinne. Soll es sich tatsächlich um - wie immer wieder betont wird - "belastbare" Daten handeln, bedeutet die Implementation des neuen Berichtswesens und die unverzichtbare Überprüfung der Daten durch die Wissenschaftler/innen kurz- und mittelfristig einen extrem hohen Mehraufwand. (Die Soziologie kann dies gut beurteilen, da sie zwischen 2005 und 2008 eine Pilotstudie zum Forschungsrating durchgeführt hat, in der die Forschungsaktivitäten und die Forschungsqualität aller soziologischen Institute in Deutschland erhoben und bewertet wurden). Wann, wenn überhaupt, mit Effizienzgewinnen zu rechnen ist, ist unklar.

2. Keine Diskussion der Nutzung der Daten. Der Wissenschaftsrat betont, dass es vordringlich sei, vergleichbare und insbesondere "belastbare" Daten zur Forschungsaktivität zu erheben. Die Nutzung der Daten wird nicht diskutiert. Mit dem Hinweis, dass mit der Datensammlung ausdrücklich "keine Bewertungen" verbunden seien, die jeweiligen Nutzer/innen aber mit den Daten verantwortungsvoll umgehen müssen, stiehlt sich der Wissenschaftsrat aus der Verantwortung. Zudem: wenn die Daten nur zur Beschreibung von Forschungsstrukturen verwendet werden sollen, ist nicht nachvollziehbar, warum Publikationen und Patente so differenziert erfasst werden sollen.

3. Bewertung ohne Expertise? Es wäre naiv anzunehmen, dass die Daten nicht zur Bewertung von Forschungsaktivität und -leistung herangezogen werden: Dies betrifft sowohl Vergleiche zwischen Fächern, insbesondere innerhalb von Hochschulen (der Fächervergleich ist eines der erklärten Ziele des Kerndatensatzes), als auch standortübergreifende Vergleiche innerhalb eines Fachs. Gerade bei Publikationen ist der Vergleich zwischen Fächern, teilweise auch innerhalb einzelner Fächer kaum möglich - ein Grund warum man sich in ersten Beratungsrunden gegen die Aufnahme von Publikationen ausgesprochen hatte. Es ist nicht davon auszugehen, dass Politiker/innen, Hochschulleitungen oder Journalist/innen jeweils Fachexpert/innen zu Rate ziehen, um die Zahlen zu interpretieren - umso mehr, wenn die Daten vom Wissenschaftsrat und der Hochschulrektorenkonferenz als "belastbar" deklariert werden.

4. Entwertung der nicht im Kerndatensatz enthaltenen Forschungsaktivitäten. Für äußerst problematisch hält der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, dass alle diejenigen Daten, die nicht zum ("belastbaren") Kerndatensatz gehören, faktisch entwertet werden. Im Falle der Soziologie sind dies insbesondere die folgenden Aspekte (vgl. hierzu den in einem aufwändigen, dreijährigen Verfahren erarbeiteten Bericht der Pilotstudie Forschungsrating Soziologie des Wissenschaftsrat):

  • Transferleistungen, die in den Sozialwissenschaften relevant sind, sind im Kerndatensatz nicht enthalten: Hierzu zählt zum einen Wissensvermittlung und -verbreitung, zum anderen der Transfer in andere gesellschaftliche Bereiche wie die Beratung von außerwissenschaftlichen Gremien. Im Gegensatz dazu sollen aber im Kerndatensatz Patente, die in den Sozialwissenschaften keine Rolle spielen, sehr differenziert erhoben werden. Hier herrscht also ein Ungleichgewicht bezogen auf die Erfassung von Transferleistungen.
  • Leistungsvoraussetzungen (wie Gutachtertätigkeit, Herausgabe von Zeitschriften, Organisation wiss. Veranstaltungen etc.) werden ebenfalls nicht berücksichtigt.

5. Unintendierte, das Wissenschaftssystem im Kern schädigende Steuerungswirkungen. Die zuletzt genannten Punkte sind nicht nur misslich, weil sie die Soziologie im Fächervergleich benachteiligen, sondern auch, weil davon auszugehen ist, dass die faktische Entwertung bestimmter Forschungsaktivitäten und Leistungsvoraussetzungen absehbare, nicht intendierte Steuerungswirkungen für die wissenschaftliche Sozialisation und das Verhalten junger Wissenschaftler/innen hat: Leistungen, die nicht honoriert werden, werden unter Wettbewerbsbedingungen auch nicht mehr erbracht. Dies untergräbt letztlich die Existenzbedingungen der Wissenschaft.

6. Mangelnde Transparenz des Prozesses und unzureichende Einbindung der Fachgesellschaften. Angesichts dieser absehbaren Risiken und Nebenfolgen ist zu bemängeln, dass die Fachgesellschaften nur unzureichend in den Prozess einbezogen wurden. Zur Kommentierung der Betaversion blieben nur knapp zwei Monate während der Sommerzeit. Die DGS hatte sich mit großem Engagement und Aufwand an der Pilotstudie Forschungsrating beteiligt, auf die Ergebnisse der Pilotstudie der Soziologie wurde jedoch kein (erkennbarer) Bezug genommen.


Schlussfolgerungen

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Diskussion um den Kerndatensatz breiter geführt werden muss. Der Prozess muss wesentlich transparenter gestaltet werden. Insbesondere sind die Fachgesellschaften stärker zu befragen und ist deren Expertise hinsichtlich der Elemente des Kerndatensatzes systematischer einzuholen. Breiter diskutiert werden muss insbesondere auch die Nutzung des Kerndatensatzes.


Weitere Informationen unter:
http://www.soziologie.de/de/nc/aktuell/meldungen-archiv/einzelansicht/archive/2016/01/20/article/stellungnahme-der-deutschen-gesellschaft-fuer-soziologie-dgs-zum-kerndatensatz-forschung-des-wissenschaftsrats-1.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution595

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Helena Rose, 21.01.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2016

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