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SCHULE/260: Hospitation vor dem Bildschirm (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2008

Hospitation vor dem Bildschirm

Virtuelle Einblicke in beispielhaft guten Englischunterricht ermöglicht ein neues Online-Portal, das von der Englischdidaktik an der KU entwickelt wurde. Es bietet Lehrern vielfältige Möglichkeiten für eine zertifizierte Fortbildung - unabhängig von Zeit und Ort.

Von Heiner Böttger


Für den Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrkräften stellte und stellt sich das Problem, das praktisches Modelllernen vor allem innovativer, offener methodischer Verfahren durch Hospitationen und Unterrichtsmitschauen nur unter hohem organisatorischen Aufwand in Praktika, Unterrichtsbesuchen oder digitalen Unterrichtsdokumentationen möglich ist. Theoretisches "Trockenschwimmen" ist die Regel, gegenseitige Unterrichtsbesuche organisatorisch so gut wie unmöglich, wenn nicht institutionalisiert. Lehrkräfte können quasi nicht oder kaum voneinander lernen, wie exzellenter Unterricht aussieht.

Reflektive Ausbildungsanteile in Praktika und Hospitationen sind ebenfalls noch unterentwickelt oder werden als nicht ausreichend empfunden. WebCoaching soll als qualitatives Element und Angebot helfen, die grundständige Lehrerbildung genau damit anzureichern.

Grundlage des WebCoaching-Projektes, das für die Forschungspreis 2008 des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes BLLV nominiert ist, bildet eine auf der Basis abgeschlossener Untersuchungen zum Lernen Erwachsener geplante und durch die Stiftung Lernen mit nun über 200.000 Euro unterstützte und technisch umgesetzte virtuelle Plattform für (angehende) Englisch-Grundschullehrkräfte. Unter der Webadresse www.okay-english-webcoach.de werden beispielhafte, nach methodischen Kategorien geordnete, kurze Filmsequenzen aus gelungenen Primar-Englischunterrichtsausschnitten gezeigt, aus denen ausgewählt werden kann. Für diese europaweit einzigartigen virtuellen Einblicke und Kurzhospitationen wurden und werden mutige, engagierte und hoch kompetente Lehrkräfte gewonnen, die sich bei ihrer wertvollen Arbeit im Englischunterricht an Grundschulen haben filmen lassen. Gezielte Beobachtungsaufgaben unterstützen bei der den Filmen nachfolgenden didaktischen Analyse und Reflexion sowie der Evaluation der Unterrichtsbeispiele. Materialseiten und Tipps schließen jeden virtuellen Besuch bei den Kollegen und ihren Schülern ab. Kurze Videosequenzen lassen den Nutzer an ausgewählten Unterrichtsstunden teilhaben. Verbunden sind damit unter anderem Beobachtungsaufträge und Studienbriefe zur theoretischen Fundierung.

Der Gewinn für (Fremdsprachen-)Lehrkräfte liegt hauptsächlich in der Möglichkeit, über zeitlich unabhängige, kurze virtuelle Best practice-Hospitationen das eigene methodische Handlungsspektrum professionell zu erweitern. Der Blick ins Klassenzimmer und in die Unterrichtskontexte von Kolleginnen und Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet und Österreich bietet Gelegenheit, in Ruhe und konzentriert von einer Außenposition neue methodische Verfahren aufnehmen und imitieren zu können bzw. schon Bekanntes positiv als geeignete Verfahren bestätigt zu bekommen. Dadurch entsteht didaktische Handlungssicherheit. Geplant und gedacht ist der Ausbau des Angebots für alle Schularten und weitere Sprachen, auch für Deutsch und Deutsch als Zweitsprache.

Zusätzlich wird neben der Vorlage zur Imitation auch eine hoch professionelle Metaebene erreicht. Die Videosequenzen werden durch begleitende Fragestellungen, Beobachtungsaufgaben und Kommentierung sowie Studienbriefen zur theoretischen Fundierung nicht einfach nur konsumiert, sondern beispielsweise partiell fokussiert und reflektiv hinterfragt. Dies erfüllt aktuelle Forderungen nach einer reflektiven Lehrerbildung (vgl. dazu Standards für die Lehrerbildung. Empfehlungen des BIG-Kreises in der Stiftung Lernen. München: Domino Verlag 2007.) Über Evaluations- und Kontaktaufnahmemöglichkeiten entsteht verstärkend ein intensiver kollegialer Austausch sowohl über die gezeigten Verfahren, als auch über generelle berufliche Themen. Gerade durch die permanente Evaluation des Angebots, die weitere begleitende Forschungsansätze bietet und sich permanent optimiert, sowie den stetigen Input neuer Beispiele innovativer und bewährter methodischer Verfahren aus Praktika und Unterricht bleibt das Angebot aktuell und eine starke Motivation für die Lerner, durch eigene Beiträge vom Aus-, Fort- und Weitergebildeten selbst zum Aus-, Fort- und Weiterbildner zu werden. Dies stärkt nachhaltig das berufliche Selbstverständnis und Selbstwertgefühl von Fremdsprachenlehrkräften.

Das Herzstück der virtuellen Bildungsplattform und Forschungsressource bildet die Coaching Zone - der "Trainingsplatz" mit einer Auswahl der 16 wichtigsten methodischen Verfahren im Englischunterricht an Grundschulen. Nach der Auswahl eines ersten Schwerpunkts gelangen die erwachsenen Lerner auf die Auswahlseite der Unterrichtsmitschnitte. Diese sind zwischen drei und acht Minuten lang. Pro methodischem Verfahren werden in der vorläufigen Endfassung 10-15 Videos (also ca. 200 insgesamt) zur Verfügung stehen, die ständig evaluiert, ergänzt oder auch ausgetauscht werden. Ist ein Mitschnitt ausgewählt, begleiten je bis zu drei Beobachtungsaufträge die Lehrkraft durch das Unterrichtsbeispiel. Wurde das Video ganz angesehen, wird eine didaktische Kurzanalyse eingeblendet, die auf die gestellten Fragen/Aufträge eingeht. Im Anschluss daran kann das Gesehene direkt evaluiert werden. Ein Meinungsaustausch mit Kollegen und Kolleginnen ist hier schon möglich. Einen didaktischen Input bietet der "Studienbrief", der Theorieteil zum jeweiligen methodischen Verfahren. Hier wird erklärt, welchen Wert die eingesetzte Methodik für das frühe Fremdsprachenlernen besitzt. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur reflektiven Lehrerbildung. Der Studienbrief kann gelesen werden, steht aber auch als Audiodatei zum Vorlesen-lassen zur Verfügung. Der subjektive Lerngewinn aus Hospitation und Reflektion wird im Feedback-Formular evaluiert. Das Formular ist eine zentrale Datenbasis im Forschungsprojekt, da die Bewertungen abgesendet werden und so empirisch auswertbar sind.

Die in der Coaching Zone verbrachte Zeit wird gemessen und dokumentiert. Von der KU oder der Stiftung Lernen sowie dem Kultusministerium NRW wird ein Zertifikat für die (Aus-, Fort- oder Weiter-)Bildungszeit vergeben, wenn eine bestimmte Workload erreicht wurde. Hier handelt es sich um ein intelligentes Zertifizierungssystem, das zum ersten Mal im Bundesgebiet endlich auch die im Internet verbrachte Zeit als Aus-, Fort- oder Weiterbildungszeit anrechnet. Ein hohes Maß an kollegialem Vertrauensvorschuss, das Angebot nicht zu missbrauchen und die angerechnete Zeit intensiv zu nützen, stärkt in bemerkenswerter Weise die Eigenständigkeit der Lehrkräfte. Schließlich kann auch in Präsenzveranstaltungen z.B. geistig einfach abgeschaltet, korrigiert oder gemailt werden. Es laufen Gespräche mit weiteren Kultusministerien (Schleswig-Holstein und Bayern), um die Zertifizierung als eine die amtlichen Fortbildungsmaßnahmen ergänzende Maßnahme zu akkreditieren. Gleiches gilt für die universitäre, modularisierte Lehrerbildung, in deren Rahmen sich die erbrachten Workloads anrechnen lassen. Die derzeitigen Regeln für den Zertifikatserwerb wurden in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium Nordrhein-Westfalen vorläufig festgelegt. Die absolvierten Teillehrgänge und der Stand der Anrechnung sind auf der persönlichen Seite immer einzusehen.

Erwachsene Lerner wollen sich aus-, fort- und weiterbilden, wenn und wann sie können und dazu bereit sind, nicht wenn und wann sie müssen und sollen. Das Bildungsverhalten Erwachsener ist azyklisch, oft spontan und flexibel, da es beispielsweise abhängt von sozialen Kontexten (z.B. Familie) sowie lernpsychologischen Aspekten (z.B. Motivation). Zusätzlich sind autonome Lernanteile ein starkes Desiderat erwachsener Lerner. Aus-, Fort- und Weiterbildungselemente sollten demnach vor allem auch in virtuellen Selbstlernarrangements stattfinden, die Präsenzzeiten enthalten können. An das Konzept angeknüpfte Forschungsprojekte sollen empirisch zeigen, dass bisherige Aus-, Fort- und Weiterbildungskonzepte mit ausschließlichen Präsenzzeiten für Englischlehrkräfte zunächst an Grundschulen und solche, die es werden wollen, adäquat um intelligente, interaktive virtuelle Angebote erwachsenengerecht erweitert werden können und müssen. Dies kann nur geschehen unter Berücksichtigung der individuellen persönlichen Umstände.

Positive, wenngleich kritische und konstruktive Rezeption und Akzeptanz bilden die Grundvoraussetzungen für nachhaltige Lerneffekte in solchen Konzepten. Folgeuntersuchungen soll weiterhin pars pro toto belegen, dass Erwachsene eine generell positive Einstellung zur berufsfeldbezogenen Bildung haben, wenn geeignete Angebote gemacht werden, Erwachsene ihren individuellen Bildungsprozess kreativ mitgestalten und evaluieren wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen, Erwachsene im hohen Maße flexible Bildungszeiten benötigen, virtuelle Angebote Präsenzangebote gleichwertig ergänzen und bereichern können, sowie sich durch virtuelle, reflektive Unterrichtsmitschauen die Handlungssicherheit und langfristig somit auch die Qualität des Englischunterrichts an Grundschulen verbessert.

Auf der Grundlage des schon durch didaktische Forschung entwickelten Konzepts des WebCoaching wird aktuell zwei grundsätzlichen Fragestellungen nachgegangen: Wird durch das vorgestellte didaktische eLearning-Angebot die Professionalisierung von Englisch-Grundschullehrkräften befördert? Wie beurteilen die teilnehmenden Lehrkräfte selbst Ihren persönlichen Lernzuwachs durch das Angebot? Die Ergebnisse der Untersuchung sollen münden in eine weitere Ausdifferenzierung des aktuellen Angebots. Sie sollen in der Folge als Basismodell weiterer virtueller didaktischer Selbstlernangebote zunächst für Sprachenlehrkräfte (auch im Fach Deutsch) aller Schularten dienen. Das Konzept ist darüber hinaus im Übertrag für alle Schulfächer denkbar.

Aus den Einzelevaluationen soll sich insgesamt ein Bild eines effizienten berufsfeldbezogenen, individuellen und teilnehmer-/lernerorientierten Konzepts zur Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrkräften auf virtueller und/oder Blended learning-Basis mit Präsenzveranstaltungen schärfen - auch als Basis für die Entwicklung entsprechender attraktiver Studiengänge, vor allem an der KU Eichstätt-Ingolstadt.


Prof. Dr. Heiner Böttger ist an der KU Inhaber der Professur für Didaktik der Englischen Sprache und Literatur. Zu seinen Forschungsgebieten gehören u.a. Legasthenie und Lese-Rechtsschreibschwäche bei Englischlernenden sowie bilingualer Sachfachunterricht.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2008, Seite 19-21
Herausgeber: Der Vorsitzende der Hochschulleitung
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
85071 Eichstätt,
Tel.: 08421 / 93-1594 oder 1248, Fax: 08421 / 93-1788
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2009