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SCHULE/306: Formen von Gewalt im Schulalltag (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2010

Formen von Gewalt im Schulalltag

Von Stefanie Schmalz und Susanne Vogl


Der Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung führte kürzlich erneut eine Erhebung zu Gewalt an Schulen durch. Rund 6500 Schüler der 5. bis 13. Klasse an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen wurden zur von ihnen ausgeübten und erlebten Gewalt befragt.


Am Lehrstuhl für Soziologie und empirische Sozialforschung der KU wurde im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts unter Leitung von Prof. Dr. Siegfried Lamnek, Dipl.-Soz. Stefanie Schmalz und Dipl.-Soz. Susanne Vogl in Kooperation mit Prof. Dr. Marek Fuchs am Institut für Soziologie an der TU Darmstadt im Frühjahr 2010 eine Schülerbefragung zum Thema Gewalt an Schulen durchgeführt. Nach früheren Erhebungswellen in den Jahren 1994, 1999 und 2004 handelt es sich dabei um den vierten Messzeitpunkt. In diesem Jahr wurden - mit Genehmigung des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus - rund 6.500 Schüler an 180 allgemein bildenden und beruflichen Schulen in Bayern in den Klassenstufen 5 bis 13 schriftlich befragt. Dieser Studie liegt ein erweiterter Gewaltbegriff zugrunde, d.h. neben physischer Gewalt wurden auch Fragen zu psychischer und verbaler Gewalt sowie Vandalismus gestellt. Die abgefragten 19 Gewaltitems (also Definitionen) beziehen sich jeweils auf das Erleben bzw. Ausüben von Gewalt innerhalb des laufenden Schuljahres.

Über die reine Häufigkeitsbeschreibung zu Gewalt in der Schule hinaus, interessieren natürlich besonders mögliche Gewalt begünstigende Hintergrundfaktoren. Berücksichtigt wurden daher auch der sozio-ökonomische und familiäre Kontext der Schüler, ihre Nachbarschaft und das Wohnumfeld, ihr Freizeitverhalten, die Zugehörigkeit zu Peer-groups, das subjektiv wahrgenommene Klassen- und Schulklima, sowie Desintegration und Anomie. In diesem Aufsatz präsentieren wir erste, vorläufige Ergebnisse dieser Studie, die zum Teil auf Forschungsarbeiten der beteiligten Studenten am soziologischen Forschungspraktikum des BA "Politik und Gesellschaft" bzw. BA "Soziologie" basieren. Der Datensatz ist noch ungewichtet und damit nicht repräsentativ. Im folgenden soll kursorisch auf mögliche Zusammenhänge zwischen Migrationshintergrund, Gewalt in der Familie, Männlichkeitsvorstellungen und Schulklima eingegangen werden. Ein Vergleich zu früheren Erhebungswellen in Form einer Längsschnittanalyse wird voraussichtlich im nächsten Jahr vorliegen. Die hier vorgestellten Ergebnisse bilden somit keinen Entwicklung ab, sondern beziehen sich auf das laufende Schuljahr 2009/2010.

Zur Häufigkeit von Gewalt an Schulen: Im ersten Halbjahr des Schuljahres 2009/2010 haben bereits etwa drei Viertel der von uns befragten Schüler (76,4 %; 4.915) eine Form von Gewalt in der Schule - verbal, psychisch, physisch gegen Mitschüler oder Vandalismus - ausgeübt. Dabei gibt es deutliche Geschlechtsunterschiede: Während 85,8 % (2.685) der männlichen Schüler bereits Gewalt angewendet haben, waren es bei den weiblichen nur 67,3 % (2.150). Entsprechend den vier oben erwähnten Dimensionen eines weiten Gewaltbegriffs (physische Gewalt gegen Personen, verbale Gewalt, psychische Gewalt und Vandalismus) wurden zur Analyse der Gewalthäufigkeit aus den 19 Einzelfragen 4 additive Indizes gebildet und auf den Wertebereich von 0 bis 10 standardisiert, um die Häufigkeit der Gewaltarten miteinander vergleichen zu können. Je niedriger der erreichte Wert, desto seltener kommt eine Gewaltform vor.

Zunächst lässt sich feststellen, dass verbale Gewalt mit einem Durchschnittswert von 1,9 die mit Abstand am häufigsten auftretende Gewaltform ist (siehe Abb. 1). Deutlich dahinter bleibt die physische Gewalt mit einem Wert von 0,5 im Mittel. Psychische Gewalt und Vandalismus kommen mit einem Durchschnittswert von 0,4 gleich selten vor. Dichotomisiert man die gebildeten Indizes (keine Gewaltausübung versus mindestens eine Frage mit "selten" beantwortet), so lässt sich feststellen, dass nur 18,5 % (1.185) der Schüler schon einmal eine vandalistische Tat im Raum Schule selten begangen haben. Ein wenig häufiger kommt psychische Gewalt vor, so sagte hier über ein Viertel der Schüler (27,8 %; 1.781) zumindest selten psychische Gewalt gegen Mitschüler angewendet zu haben. Erstaunlicherweise war nach eigener Angabe schon über ein Drittel der Schüler (35,5 %; 2.275) physisch gewalttätig gegenüber einem Mitschüler. Während bisher aber immer die deutliche Mehrheit der Schülerschaft zur Gruppe der nicht- gewalttätigen Schülern gezählt hat, wandelt sich dieses Bild bei der Betrachtung der verbalen Gewalt: 73,0 % (4.677) der Schüler gaben an, im laufenden Schuljahr schon einmal verbal aggressiv gegenüber einem Mitschüler aufgetreten zu sein. Nur unter ein Drittel (27,0 %; 1.730) der Schüler übte nach eigenen Angaben keine verbale Gewalt aus.

Betrachtet man die Durchschnittswerte der Gewaltindizes nach Schulart differenziert, so treten deutliche Unterschiede zutage, welche sich auch in einem Großteil der Forschungsliteratur finden lassen: Die auftretende Gewalt nimmt mit steigendem Bildungsaspirationsniveau ab. So tritt physische Gewalt an Gymnasien mit Abstand am seltensten auf (0,2), gefolgt von Realschulen (0,4), Berufsschulen (0,6) und Hauptschulen (0,9). In derselben Reihenfolge mit ähnlichen Abständen liegen die Durchschnittswerte der Indizes für psychische Gewalt und Vandalismus. Auch bei verbaler Gewalt wird dieselbe Reihenfolge eingehalten: Sie tritt am häufigsten an Hauptschulen auf (2,4), gefolgt von Berufsschulen (2,2). Dahinter rangieren Realschulen (1,7) und Gymnasien (1,4). Alle Unterschiede sind höchst signifikant.

Zweifelsohne fungiert der Aspekt "Migranten und Gewalt" als einer der umstrittensten Teilbereiche des Themas "Gewalt an Schulen". Ergebnisse bisheriger Studien sind heterogen, häufig zeigt sich jedoch eine stärkere Gewaltbelastung der Schüler mit Migrationshintergrund. In unserer Studie wurde "Migrationshintergrund" durch die Staatsangehörigkeit der befragten Schüler, ihr Geburtsland und die Herkunftsländer der Eltern erfasst. Gut drei Viertel der befragten Schüler (77,5 %; 4.886) hatten keinen Migrationshintergrund. Beim Vergleich der Häufigkeitsverteilung in der physischen Gewaltanwendung in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund zeigte sich, dass Schüler mit Migrationshintergrund im zum Erhebungszeitpunkt noch laufenden Schuljahr häufiger physische Gewalt als ihre deutschen Mitschüler ausübten. Vor allem in der Kategorie "sehr oft" fallen die beiden Gruppen auseinander. Damit sind jedoch eigentliche Gründe für die etwas häufigere Gewaltanwendung von Schülern mit Migrationshintergrund nicht geklärt. Wie aus den deprivationstheoretischen und kulturellen Ansätzen hervorgeht, sollen dafür nicht nur demographische, sondern auch sozioökonomische und kulturelle Merkmale untersucht werden.

Lerntheorien gehen von einer sozialen Vererbung der Gewalt aus. Freilich kann nicht blindlings gefolgert werden, dass alle Eltern, die ihre Kinder schlagen, selbst einmal geschlagene Kinder waren. Jedoch ist der Zusammenhang zwischen eigenen innerfamiliären Gewalterfahrungen und der Ausübung von Gewalt durch zahlreiche Studien bestätigt worden. In unserer Stichprobe wurden die meisten befragten Schüler (61,3 Prozent; 3.845) noch nie von ihren Eltern körperlich gezüchtigt. 3 von 10 wurden selten misshandelt, weniger als einer von 10 häufig. Es zeigte sich weiterhin eine mittelstarke Korrelation zwischen innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder und der Ausübung von Gewalt dieser misshandelten Kinder in der Schule. Je häufiger ein Schüler physische Gewalt durch seine Eltern erfährt, desto häufiger wird er auch in der Schule physisch gewalttätig (siehe Abb. 2) Dabei ist es höchstwahrscheinlich, dass das gehäufte Aggressionspotential der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht nur in der Schule zum Ausdruck kommt. Untersucht man nur die männlichen Schüler auf physische Gewaltanwendung, zeigt sich, dass mehr als die Hälfte (55,3 %; 3.117) bereits physische Gewalt angewendet haben. Es existiert zudem ein signifikanter Zusammenhang zwischen physischer Gewalt und der Ausprägung des hegemonialen Männlichkeitsbildes: Insgesamt mehr als ein Drittel (1.264) der männlichen Jugendlichen mit einem stark bis sehr stark ausgeprägten Männlichkeitsbild hat bereits physische Gewalt angewendet.

Neben bereits erwähnten Faktoren auf der Individualebene, lässt sich auf der Mesoebene ein Einfluss des Schulklimas auf die Häufigkeit von Gewaltanwendung vermuten. Ein geringer Zusammenhalt und ein als schlecht wahrgenommenes soziales Klima an einer Schule können zu Unzufriedenheit, Frustration und dadurch zu Gewalt der betroffenen Schüler führen. 45,3 % (2.938) aller befragten Schüler bewerteten das soziale Klima an ihrer Schule als sehr gut, weitere 46,8 % (3.031) als gut. Lediglich weniger als jeder zehnte Schüler (6,9 %; 446) nimmt das soziale Klima an seiner Schule als schlecht und nur rund 1 % (58) als sehr schlecht wahr. Setzt man dies in Zusammenhang mit verbaler Gewalt, so lässt sich feststellen, dass deutlich mehr Schüler, die das soziale Klima an ihrer Schule als sehr schlecht wahrnahmen, verbal aggressiv gegenüber ihren Mitschülern wurden als Schüler, die sehr zufrieden mit dem Schulklima waren.

Will man sich mit den Ursachen aggressiven Verhaltens von Schülern auseinandersetzen, so bietet das soziale Umfeld der Schule allein keinen ausreichenden Erklärungsansatz. Gewalt von Schülern begünstigende Faktoren sind vielfältig und es kann nicht von einem begünstigenden Faktor per se ausgegangen werden. In diesem Beitrag konnten wir auszugsweise einen bivariaten Zusammenhang zwischen Geschlecht, Bildungsaspirationsniveau, Migrationshintergrund, Gewalt in der Familie, internalisierten hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen, sowie dem Schulklima und der Gewalt an Schulen belegen. Dabei handelt es sich jedoch nur um erste Anhaltspunkte, die durch weitere, multivariate Analysen genauer untersucht werden müssen, um Rückschlüsse über das Zusammenspiel verschiedener Faktoren ziehen zu können.


Stefanie Schmalz und Susanne Vogl sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Soziologie und Empirische Sozialforschung. Das hier beschriebene Projekt und der Bericht entstanden unter Mitarbeit der Studierenden Natalia Afanasyeva, Claudia Jänichen, Markus Krebs und Birgit Oppenheimer.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2010, Seite 22-23
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2010