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SCHULE/339: Schüler testen - aber richtig (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2012
Ruhr-Universität Bochum

Schüler testen - aber richtig

Wieso eine professionelle Diagnostik Voraussetzung für eine gute individuelle Förderung ist



Marie stockt beim Lesen, Finn schmollt bei der Gruppenarbeit, Simon bekommt hektische Flecken während des Mathe-Tests - jeden Tag prasseln unzählige Eindrücke auf Lehrer ein. Dabei den Überblick zu behalten, ist bei Klassen mit 30 Schülern eine Herausforderung: Wo liegen beim einzelnen Schüler Schwächen, was kann er besonders gut? Wie kann ich ihn individuell fördern? Um die Leistungen und Fähigkeiten der Schüler verlässlich einzuschätzen, reichen vage Eindrücke meist nicht aus. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gute pädagogische Individualdiagnostik (s. Abb. 1). Wie die funktioniert, zeigt Prof. Dr. Joachim Wirth vom Lehrstuhl für Lehr- und Lernforschung in einem selbst entwickelten Studienbrief.

In der Individualdiagnostik - also der Einschätzung des einzelnen Schülers oder der einzelnen Schülerin - kommen Testinstrumente zum Einsatz, mit deren Hilfe Lehrer sowohl die Fachleistungen in den Blick nehmen, als auch, wie motiviert oder sozial eingestellt ein Schüler oder eine Schülerin ist - also Merkmale abfragen, die für die schulische Leistung relevant sind. Diese Tests haben einen großen Vorteil: Sie sind objektiv und helfen, Informationen systematisch zu sammeln.

Ein klassisches Beispiel für ein individualdiagnostisches Testinstrument ist der Intelligenztest, der ein großes Spektrum an Aufgabentypen abgedeckt: Die Schüler müssen auf ihr Allgemeinwissen zurückgreifen ("In welcher Himmelsrichtung geht die Sonne unter?"), allgemeines Verständnis beweisen ("Warum haben Autos Sicherheitsgurte?"), aber auch Bilder ordnen und auf einem Blatt Papier den Weg aus einem Labyrinth hinaus nachzeichnen. Doch wie messe ich zum Beispiel Leistungsängstlichkeit? Hier bieten sich spezielle Fragebögen an, die den Schüler beispielsweise danach fragen, wie er sich auf eine bevorstehende Prüfung vorbereitet - das Thema Leistungsangst wird dabei nie direkt thematisiert (s. Abb. 2). Will ich wissen, wie motiviert meine Schüler sind, konfrontiere ich sie in einem Fragebogen mit Aussagen ("In der Schule geht es mir darum, dass das Gelernte für mich Sinn ergibt"), die sie anhand einer Antwort-Skala ("stimmt gar nicht" bis "stimmt genau") für sich einschätzen müssen.

Am Ende eines individualdiagnostischen Tests steht keine Note, sondern eine Zahl: "Max hat eine Lesegeschwindigkeit von 835" oder "Hannahs Testängstlichkeit liegt bei 3,5". Und hier fangen die Schwierigkeiten schon an: "Diese Zahl an sich ist ja nichtssagend - ich muss wissen, was sie bedeutet und wie sie zustande gekommen ist", sagt Prof. Dr. Joachim Wirth. Ziel seines Studienbriefes Individualdiagnostik ist es, Lehrkräften näher zu bringen, wie Ergebnisse aus solchen Tests - wie z. B. die Lesegeschwindigkeit von 835 - interpretiert werden können. Ist die 835 jetzt gut oder schlecht, wie schneiden gleichaltrige Kinder im Durchschnitt ab? Was die 835 bedeutet, kann ich nur herausfinden, wenn ich sie mit einer sogenannten Bezugsnorm vergleiche. Davon abgesehen macht sie nur Sinn, wenn im Test bestimmte Qualitätskriterien berücksichtigt wurden.

Um die Qualität eines Tests zu bestimmen, nimmt die Forschung drei sogenannte Testgütekriterien zur Hilfe. Sind die Punkte Validität, Objektivität und Reliabilität erfüllt, spricht man von einem guten Test. Die Frage nach der Validität (Gültigkeit) nimmt beispielsweise in den Blick, inwiefern ein Test wirklich das misst, was er zu messen vorgibt. Hat Leon also wenige Punkte in einem Test, der mathematische Kenntnisse abfragt, weil er tatsächlich Defizite in Mathe hat oder weil es bei seiner Lesekompetenz hapert - und er deswegen die Aufgabenstellung nicht verstanden hat? Sind alle Testgütekriterien erfüllt, können standardisierte Testverfahren eine sinnvolle Ergänzung zu den Beobachtungen werden, die Lehrer ohnehin jeden Tag machen.

Welches Testinstrument eignet sich für mein Fach, was macht eine gute Testung aus, wie interpretiere ich die Testergebnisse, und wie kann ich selbstständig einen Test entwickeln - all diese Fragen werden im Studienbrief Individualdiagnostik, der im Rahmen des Projekts UDiKom (s. Info 1) entwickelt wurde, auf Basis der relevanten Literatur aus der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplin beantwortet. Rund 35 Monografien und wissenschaftliche Aufsätze hat Joachim Wirth für seine Arbeit herangezogen. Die Herausforderung: "Das, was dort beschrieben wird, in Worten wiederzugeben, die nicht abschrecken", sagt Joachim Wirth. "Für mich klingen manche Formulierungen ganz normal, für eine Lehrkraft aber vielleicht nach akademischem Elfenbeinturm." Um das zu überprüfen, haben Lehrer aus verschiedenen Bundesländern die Studienbriefe vorab zu lesen bekommen. Auf Meilensteintagungen gaben die Bundesländer dann Rückmeldungen, an welchen Stellen Probleme auftauchten. Daraus folgten mehrere Überarbeitungen.


info 1

PROJEKT UDIKOM

Der Studienbrief Individualdiagnostik ist einer von vier Studienbriefen, die zwischen Januar 2009 und Juli 2011 im Rahmen des Projekts "UDiKom" (Unterricht - Diagnose - Kompetenz) an den Universitäten Dortmund, Duisburg-Essen, Bochum und Koblenz-Landau entstanden sind. Nach dem vermeintlich schlechten Abschneiden Deutschlands in der PISA-Studie im Jahr 2000 legte die Kultusministerkonferenz sieben Handlungsfelder fest, die federführend unter den einzelnen Bundesländern aufgeteilt wurden. Nordrhein-Westfalen kümmerte sich fortan um das Handlungsfeld "Umgang mit Heterogenität", im Zuge dessen das Projekt "UDiKom" entstand. In diesem Bereich sah die Kultusministerkonferenz noch Defizite bei den Lehrkräften. Das überrascht nicht: Bislang war die Diagnostik nicht im Lehrerausbildungsgesetz verankert.

Während sich Joachim Wirth in seinem Studienbrief um die Diagnostik auf Ebene des einzelnen Schülers beschäftigt hat, sind an den übrigen Universitäten Papiere entstanden, die die pädagogische Diagnostik auf Ebene der Klasse bzw. der Schule (Studienbrief Vergleichsarbeiten) und auf Ebene des Bildungssystems (Studienbrief Bildungsmonitoring) beschreiben. An der Universität Koblenz-Landau hat man die Unterrichtsdiagnostik in den Fokus genommen.


Neben vielen Praxis- und Anwendungsbeispielen finden auch die testtheoretischen Grundlagen ihren Platz im Studienbrief und geben allgemein verständliche Antworten auf Fragen wie: Was genau ist ein Test, was sind Bezugsnormen, welche Eigenschaften hat ein Testergebnis? An dieser Theorie kommt niemand vorbei - auch wenn er gerne würde: "Nach den Probeläufen kam die erwartete Resonanz, dass die Theorie langweilig und lästig sei. Wer diesen Job aber einmal professionell machen will, muss da durch", sagt Joachim Wirth. "Und ganz ehrlich: Das ist keine Hexerei."

Der Studienbrief hat die Form eines 37-seitigen Papers, das in verschiedenen Lern-Settings benutzt werden kann: im klassischen Uni-Seminar, auf Lehrerfortbildungen oder im Selbststudium. An der RUB wird der Studienbrief bereits in der Lehramtsausbildung eingesetzt (s. Abb. 3). Auf der Website www.udikom.de steht er für jeden als PDF zum kostenlosen Download bereit - "als Angebot, nicht als Verpflichtung", sagt Joachim Wirth. Ergänzt wird er durch ein Video und eine PowerPoint-Präsentation. Eine Datenbank und ein Ampelsystem erleichtern den Sprung in die Praxis (s. Info 2).


info 2

SPRUNG IN DIE PRAXIS

Der Studienbrief Individualdiagnostik leitet Lehrer nicht nur theoretisch dazu an, eigene Tests zu entwickeln, er erleichtert auch den Sprung in die Praxis: Auf der Website der UDiKom, www.udikom.de, wurde eigens dafür eine Testdatenbank installiert. Mithilfe einer Suchmaske können Lehrer hier gezielt nach speziellen Tests wie "Lesetest" oder "Einschulungstest" suchen. Ein Ampelsystem zeigt an, ob ein Testinstrument empfehlenswert (grün), mäßig empfehlenswert (gelb) oder nicht empfehlenswert (rot) ist. Wer selbst einen Test entwickelt hat, bekommt zudem die Möglichkeit, diesen in die Testdatenbank einzustellen und ihn damit anderen zur Verfügung zu stellen. Indem vorab einige Angaben zum Test gemacht werden müssen, greift auch hier das Ampelsystem, und die Person bekommt Hinweise darauf, an welchen Stellen das Testinstrument noch verbessert werden muss.


Nach der Relevanz der pädagogischen Diagnostik gefragt, muss Joachim Wirth nicht lange überlegen: "Ich halte sie für sehr wichtig", sagt er. "Je besser ausgebildet der urteilende Lehrer oder die urteilende Lehrerin ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Urteil die Realität abdeckt." Wenn die Lehrkraft also durch ein standardisiertes Testinstrument genau weiß, wo Stärken und Schwächen liegen, kann sie den Schüler optimal fördern (s. Abb. 4). Das bedeutet in der Praxis: Wenn sie Max' Lesegeschwindigkeit von 835 als "zu langsam für sein Alter" bewertet, kann sie zum Beispiel Max' Eltern empfehlen, gemeinsam mit ihrem Sohn Texte wiederholt zu lesen. Oder sie kann Max motivieren, nachmittags bei der Lese-AG mitzumachen. Ein positiver Nebeneffekt: Mit der Hilfe von individualdiagnostischen Testinstrumenten gelangt der Lehrer zudem zu objektiven Urteilen, die er jederzeit gegenüber anderen - zum Beispiel Eltern - rechtfertigen kann.    mv


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Setzt ein Lehrer Testinstrumente richtig ein, profitieren die Schüler: Anhand der Ergebnisse kann die Lehrkraft erkennen, an welchen Stellen noch Förderungsbedarf besteht.

Abb. 2: Wie schätzt sich der Schüler selbst ein? Eine Antwort-Skala kommt zum Einsatz, wenn es um leistungsrelevante Merkmale wie z.B. Prüfungsangst geht.

Abb. 3: Joachim Wirth erklärt angehenden Lehrerinnen und Lehrern anhand seines entwickelten Studienbriefes, worauf es bei der Testdurchführung ankommt.

Abb. 4: Auf Augenhöhe: Eine individuelle Förderung im Klassenzimmer ist nur möglich, wenn der Lehrer die Stärken und Schwächen seiner Schüler genau kennt.

Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-fruehjahr-2012/pdf/beitrag08.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2012, S. 46-49
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
und Markenbildung der Ruhr-Universität Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2012