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BERICHT/048: Die Enkel der Frankfurter Schule - Konfrontationseinbrüche ... (SB)



Von Hegel über Marx und Lenin bis zu Badiou - Ein Seminar mit dem Philosophen Prof. Dr. Friedrich Voßkühler auf dem Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) in Berlin

Als sich der Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) die Frage stellte, warum es der kapitalistischen Gesellschaft heute an wirklicher Opposition mangele, stellte er im Grunde eine noch tiefer gehende Frage. Er fragte letztlich, ob die kapitalistische Gesellschaft eventuell doch alternativlos sei. Friedrich Voßkühler gab in seinem Vortrag darauf die Antwort: "Sie ist ganz und gar nicht ohne Alternative. Vielmehr ist es so, dass sie vielen als alternativlos erscheint, weil die Alternative zum Kapitalismus alternativlos ist."

Schon die eingangs gestellte Frage deutet aus seiner Sicht auf eine Kapitulation hin - die Kapitulation vor der Macht des Kapitals, die sich offensichtlich so weit in die Menschen eingeprägt habe, dass sie als die von dieser Macht Unterworfenen sich ihr selber unterwerfen. Man könnte es auch in der Terminologie Hegels sagen: Es hat in der Tat den Anschein, als hätten sich die "Knechte" von ihrem "Herrn" - heute das Kapital - so abhängig gemacht, dass sie als "Subjekte" ihrer "Unterwerfung", also auch ihrer Selbstunterwerfung, das Gefühl haben, auf ihren "Herrn" nicht mehr verzichten zu können und auch nicht zu dürfen. Durch ihre und in ihrer Abhängigkeit sind sie zu den Subjekten geworden, die sie sind. Kämpften sie gegen ihre Unterwerfung an, würden sie sich als Subjekte selbst gefährden.

"Es ist genau diese Furcht", so Voßkühler, "die den Rat erteilt, die Vorstellung einer grundstürzenden Revolution in die Rumpelkammer der Geschichte zu verbannen." Diese Furcht sei es auch, die dazu rät, sich auf den Reformismus zu beschränken und jeden Bruch mit dem Kapital zu vermeiden. Damit verkünde sie zwei Tode: den des Menschen und den des Subjekts - beide vor dem Hintergrund eines dritten Todes, des Todes der Idee des Kommunismus, wie Alain Badiou und Fabien Tarby in "Die Philosophie und das Ereignis" schreiben.

Voßkühler formuliert in Anlehnung an den ersten Satz im Manifest der Kommunistischen Partei: "Ein Gespenst geht in der kapitalistischen globalisierten Welt um. Alle Mächte, nicht nur die des alten Europa, sondern der gesamten kapitalistischen Welt haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet." Aber das "Gespenst" gehe nicht von dannen. Die Alternative poche auf ihr Recht, poche auf ihren "kategorischen Imperativ", der gebiete - wie Marx es formuliert hat - "alle Verhältnisse umzuwerfen", in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes und verächtliches Wesen ist.

Im Seminarraum ist es still. Die Teilnehmer lauschen seiner eindringlichen Stimme - manche gebannt, manche zunehmend unwirsch, weil sie vielleicht nie so nah bei Marx waren oder sich getroffen fühlen von dem Vorwurf der Kapitulation. Voßkühler versucht, sie mit dem noch lebenden Philosophen und Mathematiker Badiou und dem von ihm verwendeten Terminus "Ereignis" als zentralem Terminus seiner Philosophie, aus der Lähmung zu reißen und ihre Vorstellungskraft zu beleben. Das Ereignis ist bei Badiou der Augenblick, in dem sich eine Möglichkeit auftut, die alles verändert. Er sagt: "Man muss die Ausnahme denken. Man muss in der Lage sein, das auszusprechen, was nicht gewöhnlich ist. Man muss die Verwandlung des Lebens denken." Voßkühler will aufrütteln mit Badious "Wenn ihr möchtet, dass euer Leben einen Sinn hat, dann müsst ihr das Ereignis annehmen, Abstand zur Macht wahren und unerschütterlich in eurer Entscheidung sein." Daher dürfe die Philosophie nicht das Denken dessen sein, was ist, sondern sie müsse das Denken dessen sein, was nicht ist: das Denken nicht der Verträge, sondern der Vertragsbrüche. Auch wenn er auf den Titel des Kongresses an keiner Stelle direkt Bezug nimmt, ist er dessen Thema näher als viele andere Referenten. Er erinnert an die Französische Revolution als Beispiel für ein solches Ereignis und an die Oktoberrevolution. Die entscheidende Lehre der Kommune ist für ihn, dass die "Knechte", die Arbeiterklasse, wie Marx sagt, die fertige Staatsmaschinerie nicht in Besitz nehmen und diese für ihre Zwecke in Bewegung setzen, sondern dass sie - um sich selbst zu befreien - diese zerschlagen und sie durch eine bis dato nicht bekannte Staatsform ersetzen; eine Staatsform, bei der die arbeitende Bevölkerung sich selbst dazu ermächtigt, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen.

Voßkühler sieht darin keinen Abschied von der Macht an sich. "Denn die Knechte brauchen Macht, um die Macht des bürgerlichen Staates und des Kapitals zu brechen? Letzteres ist nicht möglich, wenn nicht - auf der Basis der Expropriation der Expropriateure und daraus entstehend des Gemeineigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln - die vorhandene Staatsmaschinerie zerschlagen und durch eine neue Staatsform ersetzt wird?.Die Subjektiverung der Knechte ereignet sich im politischen Kampf." Um den Prozess der Subjektivierung zu verstehen, müsse dieser Begriff also depsychologisiert werden.

Er beendet seinen Vortrag mit einem Appell. "Weil sich sowohl in der Pariser Kommune als auch im Roten Oktober in einem entscheidenden Moment die geschichtliche Möglichkeit der klassenlosen Gesellschaft und damit das Ziel der Geschichte des Menschen, seine Kraftentfaltung als Selbstzweck ereignete, müssen wir dem die Treue bewahren und unsere politische Praxis danach ausrichten. Es gibt keine andere Alternative. Die Devise dazu hat Herbert Marcuse in seinen Grabstein meißeln lassen. Sie lautet ganz richtig: Weitermachen!"

18. März 2018


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