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KOMMENTAR/073: Steffi Nerius stellt Hackordnung zwischen Olympioniken und Paralympics klar (SB)



Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius hat die Hackordnung zugunsten der olympischen Athleten klargestellt. Denn wenn Deutschlands "Sportlerin des Jahres" vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Prämienausschüttungen durch die Stiftung Deutsche Sporthilfe an olympische und paralympische Medaillengewinner meint, "ich finde nicht, dass man die Leistung von Olympiasiegern mit denen der Paralympics-Gewinner vergleichen kann" (sid), diesen Vergleich dann aber doch zieht, indem sie erklärt, "für mich besitzt die olympische Medaille schon noch einen höheren Stellenwert - eben, weil mit Blick auf die Teilnehmerzahl dort eine viel höhere Leistungsdichte herrscht, die Konkurrenz größer und das Niveau stärker ist" (Rheinische Post), dann bringt das einen zentralen Widerspruch der Leistungsgesellschaft auf den Punkt, die formelle Gleichheit nach Artikel 3 des Deutschen Grundgesetzes ("Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.") verheißt, aber - wie hier - aus sportlichen Unterschieden gesellschaftliche Rangordnungen und Prämienschlüssel ableitet. Daß der um Gleichbehandlung kämpfende Behindertensport dabei auf seinen Platz verwiesen wird, liegt im Konkurrenzprinzip selbst begründet, das den Vergleich zum Zwecke der Unterscheidung und die Unterscheidung zum Zwecke des Vergleichs sucht. Da die Algebra des Vergleichs nur einen Sieger kennt, dem Besseren die Schlechteren und dem Erfolgreichen die Verlierer opfert, kann es eigentlich nicht im Interesse aller sein, sich über den Leisten vergleichender Konkurrenz schlagen zu lassen. Wenn im Ergebnis des Leistungsvergleichs eine Minderheit zu Lasten der Mehrheit triumphiert, sollte sich die Mehrheit der Verlierer schleunigst solidarisieren. Aber nicht, um vom Bettler zum König aufzusteigen, sondern um den Bewohnern und Bewachern der Paläste das Zepter sozialer Distinktion aus den Händen zu schlagen.

Daß ausgerechnet Steffi Nerius, die seit ihrem Karrierende als hauptamtliche Trainerin der Behindertensportabteilung bei Bayer Leverkusen arbeitet und bei den gegenwärtigen Paralympics in Kanada als "Botschafterin" des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) auftritt, der Meinung ist, eine Goldmedaille bei Olympiaden sei höher zu bewerten als bei Paralympischen Spielen, weist sie als konsequente Vertreterin ihrer Interessen aus, sich im System gesellschaftlicher Statuszuweisung von Behinderten nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Daß im Kreuzvergleich zwischen sogenannten nicht-behinderten und behinderten Sportlern Äpfel mit Birnen verglichen werden, mag angehen, doch wird das nicht ohnehin im Leistungssport vor dem Hintergrund gemacht, daß alle Athleten unterschiedliche soziale, biologische und materielle Voraussetzungen haben - ihre Leistungen also gar nicht zu vergleichen sind?

Man behilft sich hier gern mit dem Begriff "Chancengleichheit" - nämlich die Gleichheit der Teilnehmer, sich der Chance, sprich dem Unterschiede und Rangordnungen schaffenden Wettbewerbsgenerator, zu überantworten. Anders ausgedrückt: Die ohnehin unterschiedlich bemittelten Athleten werden im Wettkampf noch einmal durch den Fleischwolf des leistungssportlichen Vergleichs gedreht, Algebra und Meßinstrumente sortieren sie ins Gold-, Silber- und Bronzetöpfchen, alles andere ist Resteküche. Die Hierarchisierung der Leistungen schafft dann Freude auf seiten der Gewinner, Verdruß bei den Verlierern. Da sind sich Nicht-Behinderte und Behinderte tatsächlich unterschiedslos, weil vom gleichen Wahn getrieben, das leistungssportliche Konkurrenz- und Selektionssystem könnte etwas anderes hervorbringen, als daß sich einer zu Lasten des anderen in den Vergleich setzt und man selbst dabei zu jenen gehörte, die obenauf sitzen. Für die sich selbst als behindert klassifizierenden Sportler kommt tragischerweise hinzu, daß sie im Streben nach sportlichem Erfolg, welcher ihnen gesellschaftliche Anerkennung und Respekt einbringen soll, eben jene Bedingungen festschreiben, die sie im Vergleich zu den "Normalen" als weniger leistungsstark, weil aus vielerlei Gründen gehandikapt, diskriminiert. Daß sich die Behinderten-Sportler auch untereinander hierarchisieren, zeigt nur, wie sehr sie die Werte, Normen und Ideale des Leistungsdarwinismus bereits verinnerlicht haben.

Entsprechend tauchen wenig oder gar nicht erfolgreiche Paralympics - ganz zu schweigen von Menschen, die aufgrund ihrer Handikaps vollständig vom Leistungssporttreiben ausgeschlossen sind - in den Medien gar nicht auf. Vorzeige-Behinderte wie die mehrfache Goldmedaillengewinnerin Verena Bentele, die sich laut taz (16.3.10) selbst als "Stehauf-Weiblein" bezeichnet, weil es der blinden Langläuferin und Biathletin u.a. gelang, trotz eines schweren Sportunfalls mit Langzeitschaden in die Erfolgsspur zurückzukehren, reproduzieren dabei exakt die Wahrnehmungsmuster der olympischen Leistungssportindustrie, die "Stehauf-Frauen" wie Maria Riesch hochleben lassen, alle gescheiterten, den gleichen Werten nachhechelnden "Power-Frauen" aber mit Mißachtung strafen. Die taz hob Bentele sogar als "streitbare Athletin" aufs Schild, ohne verdeutlichen zu können, worin denn ihre Streitbarkeit besteht. Hochs und Tiefs durchzumachen, viel Blut, Schweiß und Tränen zu vergießen oder sich an den Verbandsstrukturen zu reiben gehört doch wohl zum Alltagsgeschäft aller Hochleistungssportler. Wäre die "Königin der Nische", wie die taz Verena Bentele glorifiziert, tatsächlich streitbar, wäre sie sicherlich nicht vom Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) zu einer ihrer Botschafterinnen erkoren worden.

Neben Bentele stellen viele paralympische Athleten und Funktionäre den Prämienschlüssel der Deutschen Sporthilfe in Frage. "Nicht-behinderte Athleten erhalten für eine Goldmedaille 15.000 Euro. Das ist deutlich mehr, als behinderte Sportler für Gold, Silber und Bronze zusammen bekommen", kritisierte Friedhelm-Julius Beucher (SPD), Präsident des Behindertensportverbandes, die Ungleichbehandlung der deutschen Paralympics-Teilnehmer im Vergleich mit Olympiateilnehmern. Für Gold bekommen behinderte Athleten 4.500, für Silber 3.000 und für Bronze 1.500 Euro. Auch profitieren die behinderten Athleten nicht im gleichen Maße von den vom Bund mit zwölf Millionen Euro geförderten Instituten für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig und für die Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin. DBS-Präsident Beucher will sich nach den Spielen von Vancouver mit Sporthilfe-Chef Werner E. Klatten treffen und für eine Annäherung der Prämien kämpfen.

Eine gewisse Streitbarkeit wäre Verena Bentele, die sich vom gegenwärtigen Prämienmodell "extrem benachteiligt" sieht, allenfalls dann zu attestieren, wenn sie zum Beispiel forderte, daß behinderte Athleten für eine Goldmedaille 20.000 Euro und damit mehr als die in jeder Hinsicht privilegierten Eliteathleten olympischer Provenienz bekämen. Denn dann würde sie wirklich Bekanntschaft mit den Leistungssportfetischisten machen, die ihr nach Strich und Faden, und zwar auch mit Hilfe des Äpfel-Birnen-Vergleichs, vorrechnen würden, warum ihre Leistungen und Erfolge weniger wert sind (siehe Nerius). Das könnte wiederum den Anlaß geben, das vorherrschende Leistungssportsystem grundsätzlich zu hinterfragen und einen Streit zu entfachen, der mit systemimmanenter Prämienkritik nicht mehr zu beschwichtigen wäre - im übrigen auch nicht dadurch, daß die Sporthilfe, wie zu vermuten steht, tatsächlich den Prämienschlüssel nach den Spielen in Vancouver modifizieren wird.

22. März 2010