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KOMMENTAR/083: Wer nicht paßt, wird passend gemacht - Hormontherapie für Caster Semenya? (SB)



Nicht nur Eisschnelläuferin Claudia Pechstein ist im vergangenen Jahr zum Zankapfel übergeordneter sport- und gesellschaftspolitischer Interessen geworden. Auch 800-Meter-Weltmeisterin Caster Semenya bekam die legalistische Zurichtung des Athletenkörpers zum Zwecke seiner optimalen Verwertung auf höchst unangenehme Weise zu spüren. Während Pechstein ihre "ganze Karriere" und ihr "ganzes Leben" aufgrund einer Blutanomalie zerstört sieht, wie die 38jährige kürzlich nach wiederholtem Scheitern vor Gericht erklärte, sollte für Caster Semenya eine vermeintliche Anomalie ihres Geschlechtes zum schmerzlichen Wendepunkt ihres bisherigen Lebens werden. Die inzwischen 19jährige Südafrikanerin war während der Leichtathletik-WM in Berlin zum Spielball der Interessen von Sportfunktionären, Trainern, Wissenschaftlern, Medizinern und Politikern unterschiedlichster Provenienz geworden [1]. Bis heute befindet sich ihr Fall in der Schwebe.

"Ich bin von einer unberechtigten und in die Privatsphäre eingreifenden Prüfung betroffen, die in die intimsten und privatesten Details meines Lebens geht", erklärte Caster Semenya. "Sie haben meine Tochter in eine Zirkusnummer verwandelt", klagte indessen die erschütterte Mutter, die sich um das Wohl ihres Kindes sorgt. Nicht nur Betrugsvorwürfe wegen Dopings, sondern auch der "falschen" Geschlechtszugehörigkeit haben Sportlerinnen bereits zu Suizidversuchen getrieben. Erinnert sei an die indische Leichtathletin Santhi Soundarajan, die bei den Asien-Spielen 2006 in Doha ihre Silbermedaille über 800 Meter zurückgeben mußte, weil sie bei einem Geschlechtstest, den sie ein Jahr zuvor in Südkorea noch unbehelligt überstanden hatte, durchgefallen war. Den Medien als "Mann", der sich eine Medaille erschlichen habe, zum Fraß vorgeworfen und von den Sportfunktionären schmählich im Stich gelassen, unternahm die zwischengeschlechtlich geborene Inderin im September 2007 einen Selbsttötungsversuch. Trotz aller Erniedrigungen blieb ihr bis heute eine Rehabilitation verwehrt.

Auch bei Caster Semenya waren aufgrund ihrer als "männlich" gedeuteten Erscheinung ("ausgeprägtes Kinn", "tiefe Stimme", "stark ausgeprägte Muskeln" etc.) rund um das WM-Rennen von Berlin Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit kolportiert worden. Dabei spielten sowohl der südafrikanische Leichtathletik-Verband (ASA) als auch der internationale Leichtathletik-Verband eine beschämende Rolle. Ohne das Wissen der Athletin hatte die ASA bereits zu Hause am Kap einen Geschlechtstest vornehmen lassen. Semenya war vorgetäuscht worden, es handele sich bei der Untersuchung um einen Dopingtest, die Sportlerinnen bekanntlich gehorsamst über sich ergehen lassen müssen. Während der WM, nur wenige Stunden vor ihrem 800-m-Finallauf, gab dann auch die IAAF bekannt, einen Geschlechtstests angeordnet zu haben, was analog zum inzwischen generalisierten Dopingverdacht bei Athleten (DLV-Präsident Clemens Prokop: "Der Argwohn läuft mit.") Gerüchten Vorschub leistete, Semenya sei eine Gender-Betrügerin. Zudem untersagte der Weltverband der Läuferin, vom Innenraum des Stadions aus an den Fernsehkameras vorbeizugehen, um Interviews zu geben. Auch die obligatorische Siegerpressekonferenz fiel aus - was die Gerüchteküche zusätzlich anheizte.

Im September 2009 berichteten dann australische und britische Medien, bei dem von der IAAF in Auftrag gegebenen Geschlechtstest sei herausgekommen, daß Semenya ein Zwitter (Hermaphrodit) sein könnte und weder eine Gebärmutter noch Eierstöcke, dafür aber interne Hoden haben solle. Dem eindimensionalen Erklärungsmuster der Anti-Doping-Analytik folgend, die zur juristischen Verdachts- und Schuldschöpfung biochemische Signifikanzen und Wirkmechanismen als Hauptursache für (erlaubte/unerlaubte) körperliche Leistungssteigerungen annimmt, wurde auch im Fall Semenya unterstellt, daß das in ihren inneren Hoden produzierte Testosteron leistungssteigernd wirke. Aufgrund dessen hätte sie sich damit einen Leistungsvorteil gegenüber Athletinnen mit "normalem" Testosteronspiegel verschafft. Was allerdings als "normal" zu bezeichnen wäre, wo doch selbst die geschlechtlichen Übergänge zwischen Mann und Frau angesichts unterschiedlich zusammenspielender Varianten von Chromosomensätzen, Hormonspiegeln sowie inneren und äußeren Geschlechtsmerkmalen fließend sind, dürfte ähnlich wie beim Doping, wo die Festlegungen "natürlicher" Grenz- und Schwellenwerte ebenfalls der Willkür unterliegen, eine Frage herrschaftlicher Interessen und ihnen zuarbeitender wissenschaftlicher Deutungsmonopole sein, die schlußendlich über Gerichte zementiert werden.

Um die Weltöffentlichkeit vom "Geschlechtsstatus" der juristisch als Frau geborenen und von den Eltern als Tochter erzogenen Athletin zu überzeugen, wurde Semenya nach der WM noch einmal mit allen Attributen einer "attraktiven" Lady ausgestattet. Angeblich auf Druck von ASA-Funktionären hin ließ sich die muskulöse Sportlerin stark geschminkt im Minirock und in Stilettos in einer südafrikanischen Illustrierten ablichten. Die Bilder gingen rund um die Welt. Man(n) hüte sich jedoch vor schnellen Urteilen. Was hierzulande als weiterer peinlicher Mißgriff der Verantwortlichen im Fall Semenya goutiert wurde, ist tatsächlich im sexualisierten Sport für viele Frauen, die Haut zeigen müssen, um als Athletin in den Medien überhaupt wahrgenommen zu werden, fast schon Normalität. Im auf die Herstellung und Prämierung von Leistungsunterschieden spezialisierten Sportkommerz werden natürlich nicht nur Geschlechterrollen und -hierarchien geprägt, sondern auch medial inszeniert. Semenyas Zurschaustellung wich nicht von dem ab, was viele Frauen auf dem Aufmerksamkeitsmarkt "freiwillig" über sich ergehen lassen.

Weil der offiziellen Verlautbarungspolitik der Sportverbände zufolge ihr Geschlecht noch nicht eindeutig geklärt sei (zehn Monate nach Untersuchungsbeginn!), darf Semenya seit ihrem WM-Sieg im August 2009 weder an Wettkämpfen des südafrikanischen Leichtathletik-Verbandes noch des Leichtathletik-Weltverbandes teilnehmen. Die IAAF, die Semenyas WM-Titel erst drei Monate nach ihrem Triumph bestätigt hatte, kündigte für Ende Juni eine Klärung ihres Falls an. Die Südafrikanerin selbst hatte ihr Comeback für den 24. Juni im spanischen Saragossa angekündigt, doch das internationale Meeting wurde unterdessen wegen Finanznot abgesagt.

"Nicht offiziellen Informationen" zufolge befindet sich die Athletin derzeit "offenbar in einer Therapie, deren Ziel es ist, ihre männlichen Hormone zu reduzieren", berichtete der Sport-Informations-Dienst kürzlich. "Wenn die Therapie erfolgreich ist, steht ihrem Comeback wohl nichts mehr im Weg."

Meldungen dieser Art nähren den Verdacht, daß die junge Südafrikanerin, deren Geschlechtsmerkmale offenbar nicht mit dem medizinischen Raster der für das traditionelle Sportwettkampfsystem konstitutiven Zwei-Geschlechter-Teilung in Einklang stehen, passend gemacht wird. Um das Geschlechtermodell zu retten, wird ihre hormonelle Besonderheit als "Störung" wegtherapiert. Natürlich mit Einverständnis der Athletin, die allerdings kaum die Wahl hat, will sie ihren Sport nicht an den Nagel hängen. Ende April waren Berichte aufgetaucht, wonach Caster Semenya selbst eine langfristige Fortsetzung ihrer Laufbahn in Frage stelle. "Laufen bedeutet mir nichts, ganz ehrlich, gar nichts", sagte die Studentin in ihrer südafrikanischen Heimat - offensichtlich von inneren Zweifeln und äußeren Zuflüsterungen geplagt.

Daß nicht ins Geschlechtsschema des organisierten Sports passende Athleten auch mit mehr oder weniger sanftem Druck bearbeitet werden, ihre Laufbahn vorzeitig zu beenden, läßt das Statement von IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss erahnen, der vergangenes Jahr einräumte, daß dem Weltverband seit 2005 acht vergleichbare Fälle untergekommen seien, viermal mit drastischen Konsequenzen. "Die betroffenen Aktiven wurden gebeten, ihre Karriere zu beenden", so Weiss ohne Angabe weiterer Details.

Beredte Einblicke, mit welchen Methoden sich einige Funktionäre das Dilemma der Geschlechterzuordnung am liebsten vom Hals schaffen würden, gewährte auch IAAF-Councilmitglied Helmut Digel. Dabei wäre jedoch hinzuzufügen, daß die Positionen des arrivierten Professors und Spitzenfunktionärs, der selbst eine zweifelhafte Rolle in diesem Business spielt, da er den kommerziellen Hochleistungssport seit etlichen Jahren mit sozialwissenschaftlichen Legitimationsfiguren, marktkonformen Fairneßfabeln und moralisierenden Stellungnahmen versorgt - kürzlich segnete er auch die neu eingeführten Olympischen Jugendspiele als "große Chance" ab -, äußerst umstritten sind. Gegenüber www.tagesspiegel.de (29.3.10) sagte er: "Es gibt Funktionäre, die glauben, dass sich das Problem der Intersexualität durch Operationen zugunsten des männlichen Geschlechts lösen lässt. Mir scheint dies eher unwahrscheinlich zu sein, zumal es von vielen Intersexuellen überhaupt nicht gewünscht wird. Ich vermute vielmehr, dass die meisten Sportverbände die Tragweite des Problems noch gar nicht richtig verstanden haben."

Nur allzuoft wurden "verdächtigen" Athletinnen zur Beseitigung des "Problems" genitale Zwangsoperationen, -kastrationen oder sonstige medizinisch nicht notwendige Behandlungen aufgenötigt - mitunter wurden die Eingriffe sogar mit "Vorsorge gegen Krebs" begründet, wie die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org auf ihrem Blog ausführlich berichtet [2]. Die IAAF soll englischsprachigen Pressemeldungen (www.telegraph.co.uk, 11.12.09) zufolge Semenya sogar angeboten haben, für eine Geschlechtsoperation zu bezahlen, falls sie definitiv beim Geschlechtstest durchfallen sollte.

Vom 15. bis 17. Januar 2010 veranstaltete das Internationale Olympische Komitee (IOC) im Rahmen eines Mediziner-Kongresses in Miami Beach ein Symposium, um die Richtlinien bezüglich des Umgangs mit mehrdeutigen Geschlechtsfällen im Gefolge der mutmaßlichen Intersexualität von Semenya neu zu überprüfen. Beteiligt waren auch Vertreter der IAAF sowie des Fußball-Weltverbandes FIFA. "Die Diskussion, zu der nur ein handverlesener Kreis von Medizinern, aber weder Sportler noch Vertreter von Organisationen Intersexueller oder Transsexueller geladen waren, verlief offenbar so kontrovers, dass konkrete Richtlinien, die bei den Winterspielen umgesetzt werden könnten, nicht verabschiedet wurden", schrieb Oliver Tolmein, Rechtsanwalt und Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg, in der FAZ [3].

Da es den sportmedizinalen und -juristischen Fachschaften gelungen ist, den Welt-Anti-Doping-Code trotz eklatantester Widersprüche und menschlicher Fragwürdigkeiten durchzudrücken, dürfte es den Systemhütern des organisierten Sports trotz unvermeidlicher Kontroversen letztlich auch nicht allzu schwer fallen, die Gender-Problematik in ihrem Sinne zu regulieren. Sollten die Berichte stimmen, daß sich Caster Semenya derzeit in einem Therapieprogramm zur Reduzierung ihrer männlichen Hormone befindet, dann liefert das bereits Fingerzeige, wie sich die Verantwortlichen der gerade im Leistungs- und Spitzensport überproportional häufigen Fälle von Intersexualität zu entledigen gedenken. Wer nicht ins hormonelle Raster der Zweigeschlechtlichkeit paßt, wird passend gemacht - entweder mit dem Messer der Chirurgie, den Therapeutika der Pharmazie oder der sozialen Ausgliederung.

Anmerkungen:

[1] KOMMENTAR/045: Caster Semenya - Produktivfaktor für westlichen Sport- und Kulturimperialismus?

[2] http://zwischengeschlecht.org

[3] www.faz.net. Geschlechtstests im Sport. Wer legt eigentlich fest, was als normal gilt? Von Oliver Tolmein. 15. Februar 2010.

31. Mai 2010