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KOMMENTAR/219: Wirtschaftsprodukt Spitzensport ... (SB)


Knallharte Wettbewerbs- und Standortpolitik: In der Spitzensportförderung soll unternehmerisch gearbeitet werden



Die gut dreistündige öffentliche Anhörung zum Thema "Neue Strukturen für die Spitzensportförderung" im Sportausschuß des Deutschen Bundestages [1] hatte etwas höchst Zombiehaftes. Ohne seine Schattenseiten und Abgründe beim Namen zu nennen, gaben sich die versammelten Politikerinnen und Politiker wie auch die geladenen Expertinnen und Experten redlich Mühe, dem umstrittenen Hochleistungssport in Deutschland wieder neue Lebensgeister einzuhauchen. Was dem Untoten fehlt, damit er wieder mehr Medaillenglanz ins fahle Gesicht bekommt? Natürlich mehr Steuergelder, wissenschaftliche Expertise und wettbewerblicher Unternehmergeist!

Der Mann, der das alles trefflich auf den Punkt brachte, heißt Dr. Christoph Niessen, seit 2008 Vorstandsvorsitzender des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen. Davor war er Geschäftsführer der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA), wo er sich u.a. für die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit von Spitzensportlern bei Dopingkontrollen eingesetzt hatte. Dem Sportwissenschaftler war sogar die tägliche Aufenthaltsmeldepflicht (Ein-Stunden-Regelung) für Topathleten noch zu wenig, schließlich könnten sie dann ja "in den anderen 23 Stunden des Tages friedlich vor sich hindopen". [2]

Wer einem Hochleistungssport unter Generalverdacht huldigt, dessen inhärente Steigerungs- und Rekordlogik wesentlich zur Dopingproblematik beiträgt, der stellt auch nicht das Wettrüsten im internationalen Sport in Frage, das immer mehr finanzielle Mittel sowie soziale und humane Ressourcen verschlingt. Im Gegenteil, der kann den Hals gar nicht voll genug kriegen, damit Deutschland im internationalen Medaillenspiegel nicht abgehängt wird. Das Tolle daran: Sowohl die olympische Höher-Schneller-Weiter-Industrie als auch die Mehr-Geld-in-die-Anti-Doping-Industrie profitieren davon!

Wer meint, daß sich nach dem Ende der politischen Ost-West-Konfrontation der sportliche Stellvertreterkrieg in Nichts aufgelöst hätte, der sah sich bei der öffentlichen Anhörung im Bundestagssportausschuß eines besseren belehrt. Anders als zu DDR-Zeiten wird heute nicht mehr ideologisch argumentiert, wenn zur Medaillenjagd gegen den Systemgegner geblasen wird, um die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Nein, in Zeiten globalisierten Wettbewerbs wird jeder zum Gegner, der in Konkurrenz zum eigenen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Industriestandort steht. Der medaillenproduzierende Spitzensport dient dazu, um Deutschlands "Wettbewerbsfähigkeit" zu demonstrieren, daraus machten die Sachverständigen gar keinen Hehl.

Niessens Bruder im Geiste war Prof. Joachim Mester. Der Vorstandschef des Deutschen Forschungszentrums für Leistungssport an der Sporthochschule Köln beklagte immense Medailleneinbußen bei Olympischen und Paralympischen Sommer- wie Winterspielen seit 1988 und urteilte: "Von einem 'Leistungssportstandort Deutschland' kann kaum mehr gesprochen werden." Seiner Meinung nach profitiere der "Leistungssportstandort Deutschland" nicht hinreichend vom "Industriestandort Deutschland", weil die Kontakte zu gering und nicht systematisiert seien. Er plädierte für Wettbewerb auf allen Ebenen, einschließlich eines "Wettbewerbsfonds" für alle Akteure, die Leistungssportbetreuung anbieten, sowie für einen "Bund-Länder Innovationsfonds: Menschliche Leistung und Sport".

Was das in einer von neoliberalen Prinzipien geprägten und der "Standortsicherung" verpflichteten Wettbewerbsgesellschaft bedeutet, läßt sich denken: Während im internationalen Vergleich die Konkurrenzfähigkeit des "Wirtschaftsstandortes" auf dem kapitalistischen Weltmarkt forciert wird, werden nach innen die Marktmechanismen der Leistungskonkurrenz und betriebswirtschaftlichen Effizienz auf die Strukturen des organisierten Sports übertragen. Ähnliche Wettbewerbsoffensiven sind bereits im Bildungsbereich durchgeführt worden, wo die organisatorische Transformation der Schulen, Hochschulen und Universitäten in Dienstleistungsbetriebe nach dem Muster von Kapitalgesellschaften schlimmste Folgen zeitigt. SchülerInnen, LehrerInnen und Bildungseinrichtungen sind seitdem einem permanenten Wettbewerb um "Wissensleistungen", sofern sie nur vergleichbar, meßbar, quantifizierbar und damit ökonomisch verwertbar sind, ausgesetzt - abzulesen am permanenten Wettrennen um gute Plazierungen in PISA- oder Hochschulrankings. Was sich nicht in Vergleichsindikatoren und Kennziffern ökonomischer Effizienz umsetzen läßt oder im Wettbewerb um "The Best Practice" keinen Erfolg verspricht, erleidet Geldmittel- und Reputationsverluste und hat praktisch sein Existenzrecht verwirkt.

Nach der wettbewerblichen Umwälzung der Schulen und Universitäten im Zuge des Bologna-Prozesses, den Prof. Mester im Bundestagssportausschuß übrigens ausdrücklich guthieß, soll nun auch das gesamte Fördersystem des deutschen Spitzensports, der ohnehin bereits von einem erbarmungslosen Sieg/Niederlagen-Code beherrscht wird, umgekrempelt werden. Mit den Worten Dr. Niessens: "Wir benötigen ein professionelles Spitzensportmanagement! Die Steuerung von Erfolg im Spitzensport ist im Wesentlichen keine sportpolitische Aufgabe, sondern eine Managementfunktion, in der unterschiedliche Produktionsfaktoren zu einem Spitzenprodukt im globalen Wettbewerb zusammenzufügen sind."

Die Argumentationskette von Niessen lautet wie folgt: "Wenn ich Erfolg im Spitzensport haben möchte, muß ich unternehmerisch arbeiten. Ich muß unternehmerisch arbeiten, weil es sich im Spitzensport im globalen Maßstab letztendlich um ein Produkt wie andere Hochtechnologieprodukte handelt." Dafür brauche er toptalentierte Athleten, die weltbesten Trainer, die weltbeste Trainingswissenschaft und anderes mehr. Außerdem plädiert Niessen für "klare Medaillenvorgaben": "Wenn ich unternehmerisch arbeiten will, denke ich wettbewerblich. Und wenn ich wettbewerblich denke, muß ich Ziele definieren." Detailliert müsse festgelegt sein, "welche Erfolge Deutschland zu welchem Zeitpunkt bei welchen Wettbewerben erzielen will, messbar in Form von Medaillen und Platzierungen und verbunden in einem Gesamtziel (z.B. Nationenwertung bei Olympischen Spielen)". Solche von Politik und Sport getragenen nationalen Ziele, die vertraglich festgelegt werden sollen, das machte Niessen auch klar, könne er im Moment nicht erkennen. "Ich kann weder den unbedingten Willen zum maximalen spitzensportlichen Erfolg in Form von möglichst vielen Medaillen erkennen noch als ein mögliches Ziel einen Konsens darüber, daß die Medaillen eben nicht das Wichtigste sind." Es fehle eine breit angelegte Diskussion darüber.

Fassen wir einmal zusammen: Um die wirtschafts- und standortpolitischen Ziele Deutschlands im globalen Wettbewerb zu erreichen, soll der Spitzensport - darüber sind sich zumindest die Fachleute weitgehend einig - vollständig unternehmerischen Gestaltungs-, Schöpfungs- und Zerstörungsprinzipien unterworfen werden. Gleichzeitig soll der in Verruf geratene, häufig kritisierte Medaillenspiegel wieder auf breiter gesellschaftlicher Ebene als nationale Zielmarke sowie Meßgröße für erfolgreiches Management ("Benchmarking") verankert werden.

Um politischen Handlungsdruck zu erzeugen, werden nach bekanntem Muster sportimmanente Zwangsläufigkeiten herausgestellt: Will Deutschland seinen "Erfolgsanspruch" hochhalten, müssen mehr Steuergelder in die Medaillenproduktion fließen. Bei unveränderten - sprich unzureichenden - Finanzmittelzuweisungen werden die vorhandenen Fördermittel nur noch auf die Sportarten oder -akteure konzentriert, die als sichere Medaillenbänke gelten. Der DOSB hat justement dem Deutschen Curling-Verband (DCV) die staatliche Förderung gestrichen, was den erwarteten Empörungschrei, hier werde eine Sportart "kaputt gemacht", auslöste. Damit werden über den Hebel des finanziellen Sachzwangs Verlustängste und Handlungsdirektiven generiert, die - wie letztlich vom DOSB beabsichtigt - jede echte Diskussion über den mannigfach instrumentalisierten Hochleistungssport in Deutschland verhindern.

Tatsächlich wird an keiner Stelle ernsthaft die Forderung erhoben, sich vom staatlich geförderten Hochleistungssport zu verabschieden oder sich zumindest um Suffizienzmodelle zugunsten des Breiten- und Alternativsports zu kümmern. Denn natürlich ist der vielfach kritisierte "Gigantismus" der olympischen Unterhaltungsindustrie nicht vom wachsenden Ressourcenbedarf und -verbrauch in der Spitzensportförderung zu trennen. Selbst die Linkspartei steht hinter der Elitenförderung, wie die mahnenden Worte des Sportpolitikers André Hahn eingangs der öffentlichen Anhörung belegen: "Ich hoffe, daß dennoch Einigkeit darüber besteht, daß Spitzensport auch weiterhin gefördert werden soll, gefördert werden muß durch den Bund. Das ist eine zentrale Aussage, die mir auch wichtig ist, daß sie von dieser Anhörung ausgehen sollte." Der Spitzensportlobbyismus der Linken läßt keine Peinlichkeit aus. Die SPD-nahen Bundespolitiker liefern dem durchkapitalisierten Wettbewerbssystem mit althergebrachten Werte-Klischees auch noch die Feigenblätter wachsweicher Kritik. So erklärte Hahn: "Der Gewinn von Medaillen kann nicht das einzige Kriterium sein. Es geht auch um die völkerverbindende Rolle des Sports."

Daß hinter dem medaillenfixierten Spitzensport auch Körper und Seelen von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen stecken, die in einem unerbittlichen Leistungsregime mit ihrer Gesundheit und Lebenssubstanz dafür bürgen sollen, daß der "Leistungssportstandort" Deutschland wieder zu Glanz kommt, wurde nur randläufig oder indirekt deutlich. Man konnte es aber aus den abgebrühten Stellungnahmen der Fachleute herauslesen. So verwies Dr. Niessen darauf, daß die Zahl der wettbewerbsfähigen Nationen (also mit international siegfähigen Spitzensportler/innen) steige - was nichts anderes bedeutet, als daß die Topathleten härter denn je trainieren müssen, um in die internationalen Medaillenränge zu kommen. Daß noch Reserven aus dem Sportler- bzw. Spielermaterial herauszuquetschen sind, bezeugte Prof. Arndt Pfützner, Direktor des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT): "Wir haben festgestellt, daß in einer ganzen Reihe von Sportarten bis zu 30 Prozent weniger trainiert wird als die Weltspitze momentan trainiert. Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn diese Leistungsziele nicht erreicht werden."

Selbstverständlich verbreitet auch Pfützner die alte Mär der Sportwissenschaft, daß man mit entsprechender Betreuung gesundheitliche Risiken eines leistungssportlichen Trainings und Wettkampfes minimieren, gleichzeitig durch diese wissenschaftliche Unterstützung aber auch die Möglichkeiten gezielt vergrößern könne, "erkannte Leistungsreserven zu erschließen und im Wettkampf erfolgreich zu nutzen".

Wenn diese Aussage stimmen würde und nicht nur bezogen auf bestimmte Phasen oder Fristen der Wettkampftauglichkeit, in denen der Athlet optimal betreut Höchstleistungen erbringen kann - also gesund erscheint -, wie ist dann der riesige (sport-)medizinische Apparat zu erklären, der mit der orthopädisch-traumatologischen Behandlung der vielfältigen Schäden und Langzeitfolgen der Leistungsmaximierung befaßt ist? Etwa damit, daß es "Leistungsüberziehungen" oder "übersteigerte Konkurrenz" bei den Athleten gab? Ist das "Über" nicht programmatischer Bestandteil des Überbietungswettbewerbs im Hochleistungssport, der nun vollständig dem unternehmerischen Wettbewerb geöffnet werden soll, damit Deutschland in eine marktbeherrschende Stellung bei der Nutzung des "Phänomens" menschliche Leistung als "ein gesellschaftlich äußerst werthaltiges Potenzial" (Mester) kommt?

Es spricht Bände, daß die Spitzensportlobbyisten im Sportausschuß mit Liz Nicholl von UK Sports eine Vertreterin geladen hatten, die das Modell der erfolgsabhängigen Spitzensportförderung rigoros vertritt. So würde das Geld in Großbritannien nur für Sportarten ausgegeben, die auch "medaillienträchtig" seien, erklärte sie. Athleten oder Sportarten, die durchs Rost fallen, haben dann eben Pech gehabt, müßte man hinzufügen. Ohnehin können die Geförderten dankbar sein, daß ihnen der Staat eine Gunst gewährt. "Der Leitsatz von UK Sport ist, dass Investitionen in Athleten und deren persönliche Betreuer ein Privileg sind und keinen Rechtsanspruch darstellen", so Nicholl. Die streng auf Medaillenertrag ausgerichtete Talenteförderung und -selektion wird von Nicholl u.a. dadurch gerechtfertigt, daß ohne Medaillen oder die Möglichkeit, Medaillen zu erringen, sich die sportinteressierte Öffentlichkeit nicht für die betreffende Sportart begeistern oder sich diese Sportart überhaupt nicht ansehen würde.

Natürlich gäbe es Veränderungen in der Sportlandschaft, wenn die staatliche Spitzensport- und Medaillenförderung sowie die dahinterstehenden Menschenbilder einer grundlegenden Revision unterzogen würden. Tatsächlich haben sich abseits des olympischen Quälsports längst alternative Bewegungs- und Körperkulturen gebildet, die das traditionelle Wettbewerbs- und Konkurrenzprimat zumindest in Ansätzen in Frage stellen. Dies wird von den arrivierten Medaillenzählern bereits als Bedrohung aufgefaßt. Worüber Liz Nicholl von UK Sports nicht sprach: Kaum waren die für den Gastgeber in puncto Edelmetallausbeute sehr erfolgreichen Olympischen Spiele in London beendet, da rief die konservative britische Zeitung "The Telegraph" eine Kampagne mit dem Titel "Keep The Flame Alive" ins Leben, um Kinder und Jugendliche, die vom rechten Weg unbedingten Siegeswillens abgekommen waren, wieder für den Leistungs- und Wettkampfsport zu begeistern. Wie britische Medien inzwischen melden, hat eine Studie in UK ergeben, daß Kinder heranwachsen würden, für die ein Sieg und damit der Kampf gegen die Konkurrenten zwar noch wichtig seien, aber daß sie auch darauf verzichten könnten. "84 Prozent von den tausend befragten Schulkindern zwischen 8 und 16 Jahren finden es folglich wichtig, die Erfahrung des Gewinnens und Verlierens zu machen, aber 64 Prozent sagen, sie würden erleichtert, glücklicher, jedenfalls nicht beunruhigt sein, wenn der Wettbewerb keine Rolle mehr im Spiel haben würde." [3]

Was für ein Rückschlag für die neoliberale Wettbewerbsgesellschaft in Großbritannien nach all den Medailleninvestitionen! Das Land laufe Gefahr, "seinen Wettbewerbsvorteil zu verlieren, weil eine Generation von Kindern nicht mehr interessiert ist, auf dem Sportplatz zu gewinnen", zeterte The Telegraph, als stünde der Weltuntergang bevor. [4] Wer der öffentlichen Anhörung im Sportausschuß des Deutschen Bundestages genau zugehört hat, der hat zwischen den Zeilen ähnliche Befürchtungen vernommen. Damit niemand auf falsche Gedanken kommt, wurde in Berlin kräftiger denn je die Werbetrommel für eine knallharte Unternehmens- und Standortpolitik im Spitzensport gerührt.

Fußnoten:

[1] http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/a05/anhoerungen/neues-dokument/334984.
Zitate sind der öffentliche Anhörung zum Thema "Neue Strukturen für die Spitzensportförderung" am 13. Oktober 2014 im Sportausschuß sowie den Stellungnahmen der Sachverständigen entnommen.

[2] http://ml.spiegel.de/article.do?id=514561. 31.10.2007.

[3] http://www.chancetoshine.org/news/it-s-only-a-game-competition-in-school-sport-under-threat. 22.04.2014.

[4] http://www.telegraph.co.uk/education/educationnews/10777936/Children-no-longer-care-about-winning-or-losing-in-sport.html. 22.04.2014.

31. Oktober 2014