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KOMMENTAR/221: Januskopf Sportwirtschaft ... (SB)


Leichtathletik-WM 2019: Finanzdoping ist okay ... solange nicht Katar, sondern die europäischen Kernmärkte die Profiteure sind



Wenn es um die repressive Verfolgung von SportlerInnen unter Dopingverdacht geht, sind die Law-and-Order-Vertreter des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) niemals um Worte verlegen. Wo sich auch nur der Verdacht regt, Athleten könnten sich unerlaubter Mittel oder Methoden der Leistungssteigerung bedient oder sich dem allgegenwärtigen Kontroll- und Überwachungsregime entzogen haben, wird so lange der Moralknüppel geschwungen, bis schärfere Gesetze und Kontrollmaßnahmen zum vermeintlichen "Schutz der Integrität des Sports" - gemeint ist der kommerzielle Hochleistungssport - unter Dach und Fach sind. "Was wir unseren Athleten klar sagen, ist, daß wir für einen ethisch reinen Sport stehen, daß uns die Ethik des Sports wichtiger ist als Erfolge und daß wir jeden Verstoß im Ansatz permanent und gnadenlos verfolgen", so DLV-Präsident Dr. Clemens Prokop im vergangenen Jahr, nachdem eine anonyme Befragung unter deutschen Spitzensportlerinnen und -sportlern ergeben hatte, daß knapp sechs Prozent regelmäßig Dopingmittel einnehmen. [1]

Wenn es um einen "ethisch reinen Sport" geht, den zu postulieren bereits die Ausblendung der contrafaktischen Verhältnisse und Bedingungen im kommerziellen Hochleistungssport voraussetzt, kennt der Regensburger Amtsgerichtsdirektor keine Gnade. Geht es jedoch um legaldefinierte "Finanzspritzen" und millionenschweres "Wirtschaftsdoping" zur Herbeiführung von Wettbewerbsvorteilen, werden die gleichen Funktionäre auf einmal sehr wortkarg und schmallippig. Er sei "überrascht", daß sich Doha durchgesetzt habe, wird Clemens Prokop von der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zitiert, nachdem sich Katar die Austragung der Leichtathletik-Freiluft-WM 2019 unter den Nagel reißen und dabei die Mitbewerber Spanien und USA aus dem Feld schlagen konnte. [2]

Die Entscheidung fiel am 18. November bei einem Treffen des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF in Monaco durch die 27 Council-Mitglieder. Kurz vor der Wahl soll der IAAF-Präsident Lamine Diack zwei Briefe des Emirs von Katar aus dem Ärmel gezogen und das Versprechen an die Ratsmitglieder weitergegeben haben, bei günstigem Ausgang einen Sponsorvertrag im Wert von rund fünfzig Millionen Dollar mit dem Verband zu schließen sowie allen bedürftigen Nationalverbänden eine moderne Laufbahn zu spendieren, berichtete die FAZ unter der Überschrift: "Hauptsache, die Kasse klingelt!" [3] Andere Medien konkretisierten: "Die Katarer hatten auf den letzten Drücker auch ein attraktives sogenanntes "incentive" - einen nicht nur in der IAAF üblichen Extraanreiz - ausgelobt: Ein auf fünf Jahre angelegtes Sponsoringpaket mit einem Volumen von rund 30 Millionen US-Dollar sowie das Versprechen, Leichtathletik-Entwicklungsländern zehn Tartanbahnen zu stiften." [4]

Mit diesem Schachzug 15 Minuten vor der Wahl waren alle vorangegangenen Werbeshows mit einem Schlag vom Tisch gewischt. Das erlaubte "Finanzdoping" rechtfertigte Sebastian Coe, Chef des britischen Olympischen Komitees und heißgehandelter Nachfolger von IAAF-Präsident Diack, in einem FAZ-Interview mit den Worten: "Dies ist ein Wettbewerb. Keines dieser Gebote hat gegen Regeln verstoßen." Rhetorisch geschickt ergänzte Coe: "Nicht im entferntesten war Geld allein der ausschlaggebende Faktor." Die Investitionen Dohas wirkten sich auf viele Bereiche aus: "Leichtathletik für Kinder, auf unsere Fähigkeit, weltweit zu wachsen." [5]

Nachdem der Deal in trockenen Tüchern war, fiel auch dem DLV-Ehrenpräsidenten Helmut Digel ein, daß man das Auswahlverfahren künftig vielleicht anders regeln sollte. Der emeritierte Soziologieprofessor, selbst langjähriges Mitglied des IAAF-Councils und spezialisiert auf Marketingthemen wie Sponsoring und Fernsehübertragungen, gehört zu den gewieftesten Schönrednern der kommerziellen Leichtathletik. "Diese Sponsoren-Offerte war clever, legitim, das ist im Weltsport üblich. Und es hatte eine enorme Wirkung, so kurz vor der Abstimmung", räumte Digel in einem SZ-Interview ein. [6] In einem solchen Spiel seien allerdings die Staaten privilegiert, die ihre Wirtschaft zentral steuerten. "Das hat zur Folge, dass immer weniger Städte aus westlichen Demokratien kandidieren, in denen Bewerbungen mit demokratischen Entscheidungen verknüpft sind." Und das ginge wieder zu Lasten der Bewerber aus den Leichtathletik-Kernmärkten in Mitteleuropa. Vor diesem Hintergrund, sagte Digel, halte er das Verfahren für falsch. Der Wirtschaftslobbyist, der sich offenbar nicht vorstellen kann, daß bei strengeren Verfahren dann eben auch die Bieterpolitik aller WM-Bewerber "erfinderischer" wird, bestätigte zudem, daß die Bedingungen für Gastarbeiter in Katar, das Klima, die Unterstützung der Muslimbruderschaft durch das Emirat und ähnliche Bedenken bei der Beratung im Council kaum eine Rolle gespielt hätten.

Nur zur Einordnung: Katars zwischenzeitlich erhebliche Unterstützung der Muslimsbruderschaft und ihr nahestehender Organisationen dürfte noch das kleinste Übel sein, mal abgesehen davon, daß die sunnitisch-islamistische Bewegung heute in Ägypten selbst Opfer einer blutigen Unterdrückungspolitik durch die dort herrschenden Militärs ist. Tatsächlich stehen Privatfinanziers aus Katar in Verdacht, Milizen des Islamischen Staates (IS, früher ISIS) zu unterstützen. Als Mitte September der Emir von Katar bei Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gast war, sagte er: "Katar finanziert und unterstützt keine Terrorgruppen in Syrien und Irak und hat dies auch nie getan." Kommentar der Bundeskanzlerin: "Ich habe keinen Grund, ihm nicht zu glauben." [7]

Warum sollte die Kanzlerin auch an den Worten zweifeln, immerhin gehört das Emirat mit Saudi-Arabien zu den größten Kunden deutscher Kriegswaffenhersteller. Zugleich ist das steinreiche Land einer der größten arabischen Investoren in Deutschland und hat sich bei Volkswagen, Hochtief, Siemens und der Deutschen Bank eingekauft. Im Gegenzug sind zahlreiche deutsche Unternehmen an baulichen und technologischen Großprojekten in Katar beteiligt - gewichtige Gründe für eine vertrauensvolle Partnerschaft!

Clemens Prokop indes, so vermeldete dpa, soll nach der Wahl skeptisch angemerkt haben, "dass wir mit Doha sowohl von den klimatischen Bedingungen als auch vom Zeitpunkt her vor großen Herausforderungen stehen".

Damit reiht sich der DLV-Präsident in die Phalanx der Sportfunktionäre ein, die mit Verweis auf die Hitze-Problematik in dem Wüstenstaat eine Ablenkungsdebatte inszenieren, die erkennbar dem Ziel dient, von den politisch, sozial, wirtschaftlich und menschenrechtlich brisanten Fragen im Zusammenhang mit Katar abzulenken. Bekanntlich steht die absolute Monarchie seit langem in der Kritik, bei den Vorbereitungen auf die Fußball-WM 2022 "Sklavenarbeit" auf den Baustellen des Landes zuzulassen. Seit dem WM-Zuschlag vor vier Jahren reißen Berichte über ausbeuterische Arbeitspraktiken, Mißhandlungen und Todesfälle auf den WM-Baustellen nicht ab. Die Megabaustellen betreffen allerdings nicht nur den Fußball, sondern alle Sportarten, die ihre Events in dem Scheichtum austragen. Um sich als weltweites Zentrum der Sportindustrie zu etablieren, werden am Golf ultramoderne Stadien und Trainingsanlagen, riesige Veranstaltungshallen, Luxushotels, Verkehrswege, Touristenattraktionen, Einkaufsmeilen und vieles mehr errichtet. Die Unterscheidung zwischen "böser FIFA-WM", die zudem von schweren Korruptionsvorwürfen belastet ist, und "guter Leichtathletik-WM", die nichts mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun hat, läßt sich nicht aufrechterhalten. Wenzel Michalski, Leiter des Deutschland-Büros von Human Rights Watch, bezeichnet die Arbeitsbedingungen in Katar als "im allgemeinen katastrophal". Zwar gibt es auch mustergültige Arbeitsplätze und Wohnbereiche für Tausende von Arbeitern zum Vorzeigen, doch auch der Menschenrechtler fragt, "was ist denn mit den anderen Millionen von Migrantenarbeitern, die dort sind und die misshandelt werden wie Tiere"? [8]

Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen werden nicht müde, das Kafala-System anzuprangern, das katarischen Arbeitgebern u.a. erlaubt, ihren in der Regel zu Hungerlöhnen schuftenden Arbeitsmigranten die Pässe abzunehmen und die Ausreise zu verweigern. Jeder Ausländer in Katar, egal ob Bauarbeiter, Profisportler oder Professor, benötigt einen Sponsor, der für ihn bürgt und dem er sich damit praktisch ausliefert. Auch soll es immer wieder zu Mißhandlungen und sexuellen Übergriffen einheimischer Arbeitgeber auf ihre ausländischen Haushaltsgehilfinnen kommen, gegen die sich die nahezu rechtlosen Opfer, welche sich in einer extremen Abhängigkeit befinden, kaum wehren können. Nach Angaben von Amnesty International riskieren Frauen, die sexuelle Übergriffe anzeigen, wegen "unerlaubter Beziehungen" (sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe) angeklagt zu werden, was mit einem Jahr Gefängnis plus Abschiebung bestraft werde. "Rund 70 Prozent der Frauen, die im März 2013 im Frauengefängnis von Doha sassen, waren Hausangestellte." [9]

In einer ähnlichen Zwangslage befinden sich auch die männlichen Fremdarbeiter: Wenn sie sich bei den katarischen Behörden über die ausbleibenden Löhne oder unhaltbaren Zustände beschweren, melden diese das an die Arbeitgeber weiter, worauf es dann zu Gehaltskürzungen kommt, wie gestrafte Bauarbeiter berichten. Zwar hat Katar bis Anfang 2015 Besserung gelobt, doch Kritiker befürchten lediglich kosmetische Veränderungen. Schlimmer noch: Unter den vermeintlich kritischen Augen der Öffentlichkeit werden die Ausbeutungsverhältnisse lediglich auf minimal verbessertem Niveau festgeschrieben. Das feiern dann womöglich noch Gewerkschaften und NGOs als Erfolg. Der UN-Generalsekretär für Sport, Willi Lemke, hat den Journalisten im vorhinein schon die entsprechende Wahrnehmungstextur in die Blöcke diktiert: "Wenn die Sportveranstaltungen und infolgedessen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit dazu führen, dass das Kafala-System sich so verändert, dass die vielen Hunderttausenden Gastarbeiter in Katar ein besseres Leben führen können und bessere Arbeitsbedingungen vorfinden, sehe ich das positiv." [4]

Im Stile des FIFA-Präsidenten Joseph Blatter, der nicht seinen Verband, sondern vornehmlich die europäischen Unternehmen für die Zustände auf den Baustellen in Katar in der Verantwortung sieht, bezeichnet auch Helmut Digel die Arbeitgeber als die "eigentlichen Ausbeuter". Das ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Doch auch die Verbände waschen ihre Hände nicht in Unschuld. Immerhin hebt der Freibrief die Sportverbände in die komfortable Position, millionenschwere Sponsorenpakete, sogenannte "Incentives" (Anreize), einzusacken, fürstliche Luxushotels zu beziehen, "ethisch reine" Sportfeste zu inszenieren und ansonsten auf Durchzug zu stellen.

Die hier genannten Funktionäre Clemens Prokop, Helmut Digel, Sebastian Coe, Lamine Diack oder Joseph Blatter sind übrigens allesamt Befürworter einer drakonischen Anti-Doping-Politik, weil sie den universellen Anspruch vom sauberen, fairen und gerechten Sportwettbewerb auf bequeme Weise in den Limbus eines sich niemals einlösenden Versprechens entsorgt, während im Diesseits die Waffen der Repression geschärft werden. Da trifft es sich gut, daß Katar nicht nur zahlreiche ehemalige Polizisten, Geheimdienstler und Kriminalwissenschaftler im Rahmen des in Doha ansässigen International Centre for Sport Security (ICSS) auf der Lohnliste hat, sondern seit wenigen Wochen auch die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) finanziert. Neben Ländern wie Neuseeland, Südkorea, der Türkei, China, Rußland, Saudi-Arabien und den USA zahlt Katar eine Million Dollar (806.000 Euro) in einen Forschungsfonds der WADA ein. [10]

Wer immer wieder in den alten Reflex zurückfällt und fragt, ob autoritäre oder despotische Regime wie China, Türkei, Saudi-Arabien, Katar oder Rußland (siehe auch den aktuellen ARD-Skandal über das russische Dopingsystem) den Antidopingkampf ernsthaft betreiben oder ihn nur dazu nutzen, um sich ein "sauberes Image" zuzulegen, der hat überhaupt noch nicht verstanden, daß die Anti-Doping-Industrie Fleisch vom Fleische der Sportindustrie ist und sich beide Wirtschaftsbereiche wunderbar ergänzen. Das internationale Wettrüsten im modernen Spitzensport, der krampfhaft an Sportidealen aus dem 19. Jahrhundert festhält, ist dem globalen Anti-Doping-Krieg äquivalent. Wer das nicht begreift, versteht auch nicht, daß der demokratisch legitimierte Antidopingkampf den in der Konsequenz bedrohlicheren Maskentanz aufführt, weil er die Profitinteressen der Sportverbände noch effektiver kaschiert. Das schließt nicht aus, daß autoritäre Regime die Vorreiter im Antidopingkampf werden, weil sie, getrieben von hiesigen Skandalmedien und Heuchelfunktionären, die härtere Gangart im Kampf um die Fleischtöpfe des globalisierten Sports einlegen.

Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandradiokultur.de/dlv-praesident-befuerchtet-doping-problem-in-deutschland.1008.de.html?dram:article_id=238422. 23.02.2013.

[2] http://www.sueddeutsche.de/sport/entscheidung-des-weltverbandes-leichtathletik-wm-in-doha-1.2226707. 18.11.2014.

[3] http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/leichtathletik-wm-in-der-wueste-hauptsache-die-kasse-klingelt-13275196.html. 20.11.2014.

[4] http://www.welt.de/sport/article134525816/So-konsequent-kauft-sich-Katar-den-Weltsport.html. 20.11.2014.

[5] http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/coe-findet-sport-engagement-qatars-begruessenswert-13288379.html. 26.11.2014.

[6] http://www.handelsblatt.com/leichtathletik-wm-nach-votum-fuer-katar-digel-regt-neue-vergaberegeln-fuer-weltmeisterschaften-an/11067570. html. 03.12.2014.

[7] http://www.spiegel.de/politik/ausland/katar-emir-bestreitet-bei-merkel-unterstuetzung-fuer-islamischen-staat-a-992153.html. 17.09.2014.

[8] http://www.deutschlandfunk.de/wm-2022-auf-dem-ruecken-der-gastarbeiter.1346.de.html?dram:article_id=303380. 16.11.2014.

[9] http://www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/katar/dok/2014/ausbeutung-hausangestellte. 23.04.2014.

[10] http://www.handelsblatt.com/allgemein-doping-katar-zahlt-in-wada-stiftung-ein/11031518.html. 25.11.2014.

8. Dezember 2014