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KOMMENTAR/234: Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl ... (SB)


Bundesjugendspiele: Brutal im sportlich fairen Sinne


Der Sport war immer schon umstritten. Seine bis heute ungebrochene Instrumentalisierungsgeschichte für politische, ökonomische, militärische und kulturelle Zwecke weist so viele Ausprägungen, Wandlungen und Camouflagen auf, daß schon der Blick auf seinen historischen Werdeprozeß Skepsis hervorrufen könnte, ob wir es tatsächlich, wie seine Apologeten und Verkäufer mit jeweils zeitakzentuierten Rechtfertigungsmustern behaupten, mit einer überwiegend positiven Sozialtechnologie zu tun haben und nicht etwa mit einem hochflexiblen Amalgam, das die Brüche bei der Zurichtung und Verwertung leistungsgesellschaftlich vereinnahmter Leiblichkeit nur unzureichend zu überdecken vermag.

Den Schönwetterreden zum Trotz, daß der moderne Leistungs- und Wettkampfsport soviel Gutes in der Gesellschaft bewirke, hat es jüngst eine Mutter von drei Kindern gewagt, eine altehrwürdige Institution wie die Bundesjugendspiele in Frage zu stellen. Dr. Christine Finke, eine Journalistin und Stadträtin aus Konstanz, die unter der Überschrift "Mama arbeitet. alleinerziehend & berufstätig" einen Blog unterhält, entfachte mit ihrer Twittermeldung "Heulender Sohn kommt mit `Teilnehmerurkunde` von den Bundesjugendspielen heim. Erwäge Petition zur Abschaffung selbiger. Ernsthaft." ein so großes Echo in den sozialen Medien und darüber hinaus, daß inzwischen tatsächlich auf www.change.org eine Petition zur Abschaffung der Bundesjugendspiele an deutschen Schulen gestartet wurde, die bislang rund 20.000 UnterstützerInnen zählt. "Die Bundesjugendspiele sind nicht mehr zeitgemäß: Der Zwang zur Teilnahme und der starke Wettkampfcharakter sorgen bei vielen Schülern für das Gefühl, vor der Peergroup gedemütigt zu werden. Daran hat auch die Einführung der `Teilnahmeurkunde` für diejenigen, die am schlechtesten abschneiden, nichts geändert", begründet Christine Finke ihre Initiative. [1]

Ohne Zweifel hat "Mama arbeitet" damit in ein Wespennest nationalkonservativer Befindlichkeiten gestochen, wie es in einer neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft zu erwarten steht, in der sich der Sport als Produkt und Katalysator ökonomisierter sozialer Verhältnisse immer deutlicher gegen den Menschen kehrt. Und damit sind nicht nur kommerzielle Megaevents wie Olympische Spiele gemeint, die wie riesige UFOs über dem Planeten schweben und dort, wo sie zwischenlanden, die Städte und Regionen regelrecht ausplündern. Ebensowenig ist die durchkapitalisierte Gesundheitsindustrie gemeint, die Spaß, Fitneß und Sport als Lockmittel einsetzt, um dem nach körperlicher Optimierung strebenden Individuum mit Hilfe von Big-Data-Apps und Bewegungstrackern bis in kleinste physiologische Einheiten hinein seine mangelhafte Krankheitsprävention vorhalten zu können. Es geht auch nicht um gequälte, verletzte, depressive, verheizte oder wie potentielle Kriminelle behandelte HochleistungssportlerInnen, die in ihrem repressiv verfaßten Chancenungleichheitssystem leider das Pech hatten, daß ihnen nicht das Glück der Tüchtigen zuteil wurde. Es geht vielmehr um die Sporterziehung im kleinen, dort, wo die Kinder je nach Leistung oder Versagen in die Töpfchen mit Ehrenurkunde (signiert vom Bundespräsidenten), Siegerurkunde (ca. 50 % der TeilnehmerInnen) und Teilnehmerurkunde (Trostpflaster für die Mindersportlichen, ca. 30 %) sortiert werden und wo die Punktzahlschwachen früh zu lernen haben, daß sie nur die Fußmatte zum Siegertreppchen der Starken und Erfolgreichen sind, wenn sie nicht anfangen, selbst nach unten zu treten - im sportlichen wie im lebensertüchtigenden Sinne.

"Sport sollte Spaß machen und ein positives Körpergefühl vermitteln", schreibt Christine Finke. "Aber die Bundesjugendspiele leben von Wertung: Aufwertung und Abwertung einzelner auf Kosten anderer. Oft ist das Lehrpersonal auch noch so unsensibel, die Unterschiede zwischen den Kindern besonders herauszustellen bei der anschließenden Vergabe der Urkunden in der Klasse. Bei einem Wettkampf gehöre es dazu, heißt es dann." [1]

Die Bundesjugendspiele gehen auf den Sportfunktionär und -wissenschaftler Carl Diem (gest. 1962) zurück, der aufgrund seiner militaristischen Grundorientierung und Nähe zum Nationalsozialismus noch heute die Fachwelt spaltet. Vorläufer waren die 1920 erstmals durchgeführten Reichsjugendwettkämpfe. Seit 1951/52 gibt es die Bundesjugendspiele an Schulen in Deutschland, ausgeschrieben werden sie vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit für Schüler zwischen 8 und 19 Jahren. 2001 wurden die "neuen" Bundesjugendspiele eingeführt, die als Individualwettbewerb in den drei Grundsportarten Leichtathletik, Schwimmen und Geräteturnen ausgeschrieben werden. Die Durchführung ist dreigeteilt, SchülerInnen können zwischen einem "Wettkampf", einem "Wettbewerb" und einem "Mehrkampf" wählen, die Teilnahme ist verpflichtend.

Das Spektrum abfälliger Stimmen, die der vermeintlich leistungsfeindlichen "Rabenmutter" aus Konstanz die Meinung geigten, reichte quer durch alle politischen Lager. Wo sich die rechtsgeneigten Sportskanonen über Warmduscherei und fehlende Sieg-Niederlagen-Härte in der Lebensvorschule Sport ereiferten, geiferte so mancher sich vermutlich libertär einordnende Kommentator über Mütter, die ihre "heulenden Prinzen" pamperten, über Helikoptereltern, Bewegungslegastheniker, Heulsusen, Sensibelchen und Verweichlichung - ohne sich natürlich mit "Nazi-Sprech" gemein machen zu wollen [2]. Die dem Scheine nach harmloseste Variante des Vorwurfs lief darauf hinaus, bei der Mutter "ein grundsätzlicheres Problem" in der Kindeserziehung zu mutmaßen. "Man müsse das Kind zu Hause stärken, so dass es damit umgehen könne, vielleicht mal nicht der oder die Beste gewesen zu sein", zitiert die SZ [3] beispielhaft die Meinung einiger Realschullehrerinnen, die die Bundesjugendspiele ungeachtet zahlloser Berichte von sportgeschädigten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen für einen gewinnbringenden Segen für alle halten.

Der neoliberalen Ideologie von der Eigenverantwortung entsprechend sind am Ende also doch die Eltern daran schuld, daß sie ihre Kinder nicht von den Wonnen überzeugen konnten, die ein "gemeinschaftliches Erlebnis unter Wettbewerbsbedingungen", so eine der beliebten Standardfloskeln von Sportfunktionären, bei vielen auszulösen vermag. Daß die mehr oder weniger spaßvoll erlebte Körperertüchtigung im Normalbetrieb des Sports auch mit einer pädagogisch wertvollen Zweckrationalisierung einhergeht, die von den Leiden am Leistungs- und Konkurrenzprinzip gebrechender Menschen nicht mehr wissen will, als es das berühmte "da muß man durch" oder "mitmachen ist alles" besagt, sollte nicht verwundern. Die öffentliche Erniedrigung, die viele mindersportliche oder -bewegungsbegabte Kinder, die zum Zwangswettkampf verdonnert wurden, erleben, erscheint vielen ehrgeizigen SportlehrerInnen offenbar wie eine Falte im Sonntagshemd, die übergebügelt gehört.

Tatsächlich ist es gar nicht das Anliegen der Petentin, Kindern den Sport zu vergällen, sondern vielmehr die Vergällungen durch Bundesjugendspiele anzuprangern, die trotz zeitgemäßer Modifikationen bei vielen unangenehme Erfahrungen und weitreichende Spuren hinterlassen. Durch die alljährlich wiederkehrende öffentliche Demütigung glaubten viele bis ins Erwachsenenalter, schreibt Christine Finke, "sie seien unsportlich, was fatal ist, denn eine positive Einstellung zum Sport und zum eigenen Körper dient nicht nur dem psychischen Wohlbefinden, sondern beugt auch langfristig Bewegungsarmut und körperlichen Erkrankungen vor".

Die Medizin ist allerdings noch bitterer. So stellt die Demütigung ein sicherlich schmerzliches, aber durchaus beabsichtigtes Moment der Leistungskonkurrenz dar, die an den Rand gedrängten Versager wieder in die Ordnung des Vergleichs zu integrieren, indem sie danach streben sollen, ihr Gesicht wiederzuerlangen, auf welchem Gebiet und zu wessen Lasten auch immer. Bescheiden bleibt ebenso der Trost der Bloßgestellten, daß die Arithmetik des Vergleichs keine zwei Sieger duldet und selbst die Stärksten und Besten irgendwann vom Sockel geholt werden. Der gegenseitige Verdrängungswettbewerb wird dadurch nicht in Frage gestellt.

Dabei ließe sich durchaus studieren, wo im kleinen wie im großen Sport seine Widersprüche und Grenzen liegen - nicht um sie zu bestätigen und in sozialen Wertungen und Rangordnungen zu konservieren, sondern um sie zu überwinden. So könnte eine Stärke entstehen, die sich nicht in die vorherrschenden Verhältnisse zurückkoppelt. Nicht auszuschließen, daß dadurch vielleicht sogar der Traum so manchen Sportidealisten nach körperlicher Befreiung und sozialer Emanzipation wieder in greifbare Nähe rückt.

Es griffe sicherlich zu kurz, nur dem kapitalistischen System vorzuhalten, den Sport mittels individueller Konkurrenz und warenförmigen Leistungswettbewerbs zu nutzen, um eine Klassengesellschaft zu reproduzieren. Auch in staatssozialistischen Gesellschaften wurde die "religio athletae" als Mobilisierungsmittel eingesetzt, um die Massen für die Arbeitsgesellschaft zu stählen und in die gewünschte Richtung zu lenken. Ob nun als "Diplomat im Trainingsanzug" oder als "Neckermann macht's möglich" - die körperlichen Kollateralschäden, die insbesondere der bis heute als vorbildlich und nachahmenswert verklärte Hochleistungssport beiderseits des eisernen Vorhangs hervorgebracht hat, sind ebensowenig akzeptabel wie die Demütigungen von Kindern, die nach alter Väter Sitte zur Teilnahme an den Bundesjugendspielen gezwungen werden.

Fußnoten:

[1] http://mama-arbeitet.de/standpunkt/bundesjugendspiele-abschaffen-petition-gestartet. 21.06.2015.

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/45/45309/2.html. 30.06.2015.

[3] http://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/fuerstenfeldbruck-die-last-mit-der-leistung-1.2555519. 07.07.2015.

21. Juli 2015


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