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KOMMENTAR/248: Event der nationalen Töne ... (SB)


Offen für alles: Party-Patriotismus, Nationalismus, Krieg


Eine Gesellschaftskampagne, wie sie in Deutschland anläßlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 über die Bühne ging, als der "positive Patriotismus" salonfähig gemacht wurde, wäre nur halb so wirksam, wenn ihre Sachwalter und Profiteure nicht trotz aller Unkenrufe und Widerstände die volle Ernte einbringen könnten. Dazu gehört auch, daß KritikerInnen des Patriotismus respektive Nationalismus bei Fußballfesten wie der aktuellen Männer-Europameisterschaft in Frankreich zwar ihr Mütchen kühlen dürfen, aber doch bitte schön nicht ohne Verunglimpfungen, Haßtiraden oder Morddrohungen seitens erboßter Sportkonsumenten, Medienvertreter und Politiker, die sich ihren "Spaß" nicht verderben lassen wollen.

Kaum hatte die rheinland-pfälzische "Grüne Jugend" zum EM-Start die Aufforderung getwittert: "Patriotismus = Nationalismus. Fußballfans Fahnen runter!", weil nach Auffassung nicht nur dieses Jugendverbandes die Wirkung von Patriotismus immerzu Konsequenzen habe, was besonders dort deutlich werde, "wo er sich als aggressive Form darstellt und das Andere als Feind stigmatisiert" [1], hagelte es empörte Kommentare insbesondere aus dem politisch konservativen Lager, das sich seine Lufthoheit über den "positiven Patriotismus" nicht streitig machen lassen wollte. So erklärte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) via Twitter: "Grüne Jugend kapiert's nicht: Fahnen der Fans sind das Gegenteil der Fahnen von einst: Symbol für weltoffenes, sympathisches Deutschland!". Auch CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer polterte via "Bild am Sonntag": "Die Unterstützung unserer Jungs gehört zum Sommermärchen und ist gesunder Patriotismus." Sein Giftpfeil Richtung "Grüne Jugend": "Besser ein Patriot als ein Idiot!" Und der Hamburger SPD-Politiker Johannes Kahrs twitterte aufgebracht: "wie peinlich ist denn das. jetzt häng ich mir wieder ne deutschland flagge über den strandkorb. jawohl." [2]

Trotz dieser Breitseiten und zahlloser Haßkommentare vieler Fußballfans gegen die "Grüne Jugend" blieb der Jugendverband Rheinland-Pfalz standhaft bei seiner Haltung, während Katrin Göring-Eckardt von der grünen Altpartei ein Bild von sich postete, auf dem sie demonstrativ im Nationaltrikot posierte. Die Fraktionschefin war übrigens auch Feuer und Flamme für die umstrittene Olympia-Bewerbung Hamburgs, während sich der Grünen-Nachwuchs gegen das teure Megaevent der Eliten aus Politik und (Sport-)Wirtschaft positioniert hatte. Es scheint geradezu Gesetz zu sein: Je höher PolitikerInnen gleich welchen Parteibuchs die Karriereleiter steigen, desto weniger sind sie geneigt, öffentlich die Herrschaftsfunktionen von "Panem et circenses" zu hinterfragen, die sich ganz bestimmt nicht nur darin erschöpfen, daß den Menschen Arenen und Areale der Volksbelustigung zugestanden werden, auf denen sie sich, je nach Leidenschaft und Vorlieben, abreagieren können. Ob nun ein "guter" Patriot vor Nationalstolz platzt oder ein "böser" Nationalist, spielt nun wirklich keine Rolle. Hauptsache, sie laufen alle in die gleiche Richtung und singen die korrekte Strophe: "Einigkeit und Recht und Freiheit. Für das deutsche Vaterland!"

Zum wiederholten Male hat die "Grüne Jugend" vor einer Sportgroßveranstaltung den Finger in die Wunde nationalstolzer Befindlichkeiten gelegt, allerdings in einem doch eher moderaten und die Teilhaberschaft der eigenen Partei verschonenden Maße. Wie man bohrende Fragen und weitere Diskussionen über den Deutungs- und Erfahrungshorizont arrivierter Politik- und Sozialwissenschaften hinaus im Keim erstickt, dafür gab die ZDF-Talksendung "Peter Hahne" mit dem Titel "Wie viel Flaggen verträgt das Land? Ist Fußballfieber Nationalismus?" [3] beredten Anschauungsunterricht. Dort wurde der Bundessprecherin der "Grünen Jugend", Jamila Schäfer, der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Patzelt (CDU) gegenübergesetzt. Der "Experte für Nationalismus und Patriotismus", von Hahne überschwenglich als bekanntester deutscher Extremismusforscher vorgestellt, nahm dann auch jene verharmlosenden "Einordnungen" (ZDF-Text) vor, wie sie einem öffentlich-rechtlichen Sender gut zu Gesichte stehen, der wesentlich zur konformistischen Inszenierung des sogenannten Party-Patriotismus beiträgt.

"Ach, dumme Menschen gibt es immer, und auch Gutes kann man immer mißbrauchen", so die Allerweltsformel von Patzelt. Vielleicht um nicht mit den vielen Jugendlichen und Erwachsenen, die im aufblühenden Patriotismus, dem politischen Rechtsruck der Gesellschaft und den brennenden Asylantenheimen in Deutschland einen Zusammenhang sehen, in die "radikale Ecke" gestellt zu werden, distanzierte sich die Bundessprecherin Jamila Schäfer vom Aufruf der Rheinland-PfälzerInnen, indem sie erklärte: "Ich teile übrigens auch diese Gleichsetzung von Patriotismus und Nationalismus nicht."

Damit entging sie der Mühe, die es zweifellos kostet, eingefleischten Fußballpatrioten wie Moderator Peter Hahne auseinanderzusetzen, warum die starken Gefühle der Fans zu ihrem Sport, zu ihrer Peergroup oder just zu sich selbst von der Politik instrumentalisiert werden, eine Verbindung zwischen dem Fußball-Happening und dem ganzen Land herzustellen. Wie unschwer zu erkennen, wird der Sportpatriotismus genutzt, ein nationales Wir-Gefühl zu erzeugen, das sich nahtlos mit den politischen Sonntagsreden verbindet, mit denen über die Widersprüche und Abgründe deutscher Hegemonialpolitik hinweggetäuscht wird.

Daß es gute Gründe gab, warum noch in den 80er und 90er Jahren Patriotismus und Vaterlandsliebe in Deutschland verpönt waren, gerät desto mehr in Vergessenheit, je offensiver sich die Berliner Republik anschickt, "Führungsverantwortung" im globalen Geschehen zu übernehmen und die "Enttabuisierung des Militärischen" (Fußball-Kanzler Gerhard Schröder) voranzutreiben. Um "nationale Sicherheit" oder "nationale Interessen" geltend zu machen, bedarf es der Restaurierung des "positiven" oder "gesunden" Patriotismus, am besten so, daß Otto-Normal-Fan denkt, die antipatriotischen "Idioten" oder "Spaßbremsen" wollen ihm den schönen Fußball kaputtmachen. Das läßt den Fußballanhänger, der doch eigentlich nur ein paar unterhaltsame und spannende Spiele sehen will, um so entschlossener die Fahnen gegen ideologische Übergriffe "linker Spinner" verteidigen (siehe entsprechende Kommentare bei Online-Zeitungen und Sozialen Medien). Konservative bis rechtsgerichtete PolitikerInnen klopfen sich indessen auf die Schultern: Sowohl der stimmungsvolle Sportpatriotismus als auch der Antipatriotismus sind Wasser auf ihre Mühlen. Und das nicht erst seit heute. Was Wunder, daß sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB), größter nationaler Sportfachverband der Welt, fest in CDU-Hand befindet ...

Auch der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) und spätere Bundespräsident Horst Köhler (CDU) wußte nur zu gut, warum er während der Fußball-WM 2006 Loblieder auf den "positiven Patriotismus" sang: "Die Menschen erleben Deutschland als fröhliches, zuversichtliches Land. Sie fühlen sich wohl in dieser Gemeinschaft. Die Deutschen identifizieren sich mit ihrem Land und seinen Nationalfarben. Das finde ich großartig. Und ich find gut, daß ich nicht mehr der einzige bin mit einer Flagge am Auto." Im selben Interview mit der BILD-Zeitung ließ Köhler durchblicken, wir müßten mit unserem neuen Selbstvertrauen begreifen, "daß Deutschland als bedeutende Mittelmacht eine wichtige Rolle in der internationalen Politik hat und sich nicht aus der Verantwortung stehlen darf. Als exportabhängiges Land sind wir darauf angewiesen, daß die Welt insgesamt zu Frieden und zu einer Ordnung findet, in der Handel und Wandel sowie globaler Umweltschutz möglich sind". [4]

Vier Jahre später, kurz nach einem Besuch bei den Einsatztruppen der Bundeswehr in Afghanistan, ließ der damalige Bundespräsident in einem Interview alle Partymasken fallen und stellte Militäreinsätze in einen direkten Zusammenhang mit der Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen, Arbeitsplätze und Einkommen. Was Köhler 2010 noch sein Amt kostete, wurde anschließend immer stubenreiner. Nur ein Jahr später konnte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) noch zackigere Sätze formulieren, ohne daß es ihm zum Schaden gereichte: "Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, unserer geografischen Lage, den internationalen Verflechtungen unseres Landes und unserer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland und rohstoffarme Exportnation. (...) Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften." [5]

Der gleiche CDU-Minister, inzwischen im Innen- und Sportressort tätig, kurbelt den internationalen Sportkrieg um mehr Medaillen an, sorgt für die Kriminalisierung von Sportregelbrüchen, möchte kriegsversehrte, aber noch leistungssporttaugliche Soldaten in einer Sportförderkompanie antreten lassen und will seine Sportsoldaten erklärtermaßen dafür einsetzen, das Image der Bundeswehr, ein Patriotismusgefühl sowie einen unverkrampften Leistungsbegriff zu fördern. [6]

Inzwischen ist der über Sportevents eingeführte "Patriotismus" als positiv konnotiertes Gefühl oder emotional besetzte Begrifflichkeit in der Gesellschaft gut etabliert. Erst kürzlich wiederholte Thomas de Maizière in einem Interview, daß er sich auf tolle KO-Spiele bei der Fußball-EM in Frankreich und über die Begeisterung in Deutschland freue: "Es ist immer eine besondere Stimmung und ich finde es gut, dass wir spätestens seit der WM 2006 auch wieder ein unverkrampfteres Verhältnis zu Symbolen wie unserer Nationalflagge haben." [7]

Dieses vermeintlich unverkrampfte Verhältnis zur Fahne und Nation ist wichtig, damit niemand auf die Idee kommt, Deutschland könnte unter dem schwarz-rot-goldenen Deckmäntelchen auch gänzlich schmutzige Ziele verfolgen. Während sich Europa im Fußball-Taumel befindet, Nationalhymnen mit heißer Inbrunst geschmettert werden und PolitikerInnen das Lied der Völkerverständigung durch Sport posaunen, machen sich Berlin und Paris bereit, gemeinsam die Militarisierung der Flüchtlingsabwehr voranzutreiben, weitreichende Polizei- und Geheimdienstkooperationen festzuklopfen und bei der Errichtung einer "europäischen Sicherheitsagenda" ihren Führungsanspruch zu unterstreichen. Gerade erst haben der französische Außenministers Jean-Marc Ayrault und sein deutscher Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Denkschrift veröffentlicht, in der sie anregen, daß beide Länder "gemeinsam dafür eintreten, die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur zu entwickeln. Das Ziel ist, unsere Erkenntnisse und unsere Instrumente im zivilen und militärischen Bereich noch wirksamer in reale Politik umzusetzen". [8] 

Kurz vorher hatte Steinmeier in der US-Zeitschrift "Foreign Affairs" [9], eines der einflußreichsten außenpolitischen Fachmagazine der Welt, beschrieben, wie es der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren gelungen sei, ein "zentraler Spieler" der Weltpolitik zu werden und in der internationalen Politik eine "globale Rolle" einzunehmen. Unterdessen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Wirtschaftstag der CDU verlangt, daß mehr Steuergelder für die Kriegsführung bereitgestellt werden müßten. Laut Merkel sollte Deutschland nicht wie aktuell 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf das Militärische verwenden, sondern nach und nach 3,4 Prozent wie die USA.

Das wird die Rüstungsindustrie freuen. Schon heute ist Deutschland drittgrößter Waffenexporteur der Welt. Warum also nicht auch darauf stolz sein - jetzt, wo im "weltoffenen, fröhlichen Deutschland" wieder ganz entspannt Großmachtsansprüche formuliert werden können? Nicht nur zwischen Patriotismus und Nationalismus steht ein Gleichheitszeichen, sondern auch zwischen Waffen "Made in Germany" und der Tötung von Menschen. In beiden Fällen versucht die Regierungskoalition, das Gleichheitszeichen wegzuleugnen oder sozialverträglich umzuinterpretieren.

Fußnoten:

[1] https://de-de.facebook.com/gjrlp/. 10.06.2016.

[2] http://www.op-online.de/sport/fussball-em-ere25906/gruene-jugend-fordert-fahnenverzicht-shitstorm-zr-6481496.html. 12.06.2016.

[3] http://www.zdf.de/peter-hahne/wie-viel-flaggen-vertraegt-das-land-ist-fussballfieber-nationalismus-peter-hahne-diskutiert-mit-prof.-dr.-werner-j.-patzelt-und-jamila-schaefer-43970704.html. 20.06.2016.

[4] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/07/20060705_Rede.html. 05.07.2006.

[5] http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NYqxDsIwDAX_yE5goLBRKqGuLCVsaRtFlhqnMm5Z-HiSgXfSLffwhQX2O0WvlNkv-EQ30WX8wJj2CImY3hqEtoRD_c4BpsxBqzWwUnEUr1lgzaJLLZtIKUAzOmO71ljzn_02d3c7nQ9H2_XtA9eUrj9WXyPm/. 18.05.2011.

[6] Siehe auch Schattenblick-Kommentar:
http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek198.html

[7] http://www.sueddeutsche.de/news/sport/fussball-de-maizire-glaubt-an-die-deutsche-mannschaft-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160619-99-372043. 20.06.2016.

[8] http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2016/160624-BM-AM-FRA.html. 24.06.2016.

[9] https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/2016-06-13/germany-s-new-global-role. 13.06.2016.

3. Juli 2016


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