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KOMMENTAR/259: Integrierte Dauerschulung ... (SB)



Die Fitnessindustrie erreicht bei der konsumptiven Bewirtschaftung des Humankapitals neue Rekordhöhen. In Oberhausen will das Berliner Unternehmen McFit "das größte Gym der Welt" errichten. In drei ehemaligen Thyssen-Stahlindustriehallen, auf einer Fläche so groß wie sieben Fußballfelder, plant der McFit-Eigentümer und Ex-Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller jedes nur denkbare Fitness-Tool anzubieten. Der "The Mirai" getaufte Fitness-Tempel, der neben einem großen Einkaufszentrum mit besten Verkehrsanbindungen liegt, soll Ende 2019 eröffnen und wird auch von der lokalen Politik unterstützt. CDU-Oberbürgermeister Daniel Schranz sieht das "Leuchtturmprojekt" als Chance, Oberhausens Profil als Freizeit-Hauptstadt des Ruhrgebiets zu schärfen. Sollte das gigantische Freizeitcenter erfolgreich sein, will Selfmade-Millionär Rainer Schaller das Konzept auch in andere Ballungsräume der Welt übertragen, etwa nach China oder Los Angeles, wie das Handelsblatt berichtete. [1]

Um nicht nur die klassischen Besucherinnen und Besucher anzulocken, die sich einen Mitgliedsbeitrag leisten können, wartet der Fitness-Anbieter mit einem besonderen Angebot auf: Niemand soll eine Mitgliedsgebühr entrichten müssen. Um die Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe sowie die laufenden Betriebskosten mit Gewinn wieder hereinzuholen, will der Branchenprimus Flächen an Unternehmen für Sportprodukte verpachten, "als eine Art ständige Fitness-Messe", wie die Westdeutsche Allgemeine Zeitung schrieb. Weitere Gelder sollen "mit dem Verkauf von Fitness-Daten, mit Werbefilmen auf Mega-Bildschirmen - und der Betreuung durch persönliche Trainer" generiert werden. Zudem sollen die Räume für Tagungen der Fitness- und Gesundheitsbranche genutzt werden. [2]

Der Fitnessmarkt boomt in Deutschland, und die nicht von ungefähr "Discounter" genannten Billiganbieter betreiben einen harten Wettbewerb um die Gunst des zwischen Fun, Beauty, Lifestyle und Muskelmast schwankenden "Kunden". Ende vergangenen Jahres stieg die Zahl der Mitglieder in den deutschen Fitnessanlagen erstmals auf über zehn Millionen. Damit mobilisiert das Fitnesstraining mehr Mitglieder als der Fußball (6,97 Mio.), wie die Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement bekanntgab. Die Branche setzt jährlich gut fünf Milliarden Euro um, die Beschäftigtenzahl in den 8.684 Studios stieg auf 209.000. [3]

Längst haben sich die großen Fitnessketten vom reinen Bodybuilding mit den typischen Kraftmaschinenparks verabschiedet und ihre Spiegel- und Chrompaläste um alle möglichen Varianten an Fitness-, Wellness- und Eventangeboten erweitert. Der Trend geht von soften und harten (Tanz-)Workouts zu immer mehr Gruppen-Fitness. Als ob Public Viewing oder Love Parade auf dem Fitnessmarkt angekommen wären, sucht der auf Fettverbrennung, Körperstraffung und Selbstoptimierung konditionierte Mensch inzwischen auch bei Hantel-, Leuchtstab- oder Eigengewichtstraining den Gruppenkick. "The Mirai" könne eine ganzjährige Leistungsschau unserer Branche werden, läßt Geschäftsführer Ralph Scholz, bislang Chef der Kölner Fitnessfachmesse Fibo, keinen Zweifel daran, wie gut Industriemesse, Körperperformance und Eventsport zusammenpassen.

Die Eventgemeinschaft verspricht die Überwindung von Trennung und Distanz durch die Gleichzeitigkeit des Erlebens mit vielen anderen, meist unbekannten Menschen. Die "Gruppen-Gefühle" bleiben allerdings von flüchtigster Natur. Kaum sind die Events beendet, verbindet die TeilnehmerInnen kein gemeinschaftliches Interesse mehr, das über den Anlaß des von jedweder körperpolitischen Renitenz befreiten, mit treibenden Sounds und visuellen Flashs reich stimulierten Massen-Workouts hinausginge. In der warenförmigen Konsumwelt sind Selbst- und Fremdbestimmung ununterscheidbar geworden und zu einem kollektiven Appell verschmolzen, auf keinen Fall zu verpassen, was Messe und Markt an neuesten Bewegungsattraktionen zu bieten haben.

Das neue Sportgerät, das neue Fitnessprogramm, die neue Gesundheits-App - für den pflichtbewußten Freizeitsportler ist die Sorge um sein tägliches Bewegungsquantum so selbstverständlich geworden wie das Geldverdienen oder Einkaufengehen. Es geht nicht mehr um das Müssen, denn das würde noch eine kritische Auseinandersetzung mit den Arbeits- und Leistungszwängen unterstellen, denen der Mensch durch sich verändernde Produktionsweisen und verschärfte Effizienzanforderungen unterworfen ist. Es geht vielmehr um die vollständige Integration jedweder ungenutzten oder inaktiven Zeit in den Arbeits- und Produktionsprozeß, ohne daß dabei die gesellschaftlichen Marktbedingungen und Herrschaftsverhältnisse in Frage gestellt werden. Die moderne Grenzziehung zwischen Arbeitszeit und freier Zeit - selbst bereits ein Produkt industriell vereinnahmter Lebenswelten - wird obsolet.

"Die Grenzen zwischen Sport und Business, Gesundheit und Leistung, Geist und Körper verschwinden zunehmend. Sport wird zur Arbeit in doppeltem Sinne - praktiziert aus neuem Pflichtbewusstsein: Er dient nicht nur dem Körper, sondern auch dem Kopf", prognostiziert das "Zukunftsinstitut" in Kelkheim, das den ausdifferenzierten, keineswegs mehr nur auf Wettkampf und Rekordleistungen abzielenden Sport als "Haupttreiber der Menschen" untersucht hat. Das Unternehmen, das sich selbst als einen der einflußreichsten Think-Tanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung bezeichnet, sagt große Umwälzungen voraus: "Die Ära der Casual-Sportler beginnt. Ad-hoc und spontan muss Bewegung überall möglich sein. Vor allem den öffentlichen Raum stellt das Sportbedürfnis vor neue Herausforderungen." Sport werde zur Arbeit der Zukunft: "Fitness wird wichtiger als Karriere und/oder in diese fest integriert. Damit kann die große Bewegungslücke zwischen Jugend und Rente geschlossen werden." [4]

Die räumliche wie zeitliche Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen, die den Unternehmen neue Rationalisierungs- und Ausbeutungsspielräume eröffnen und letztlich zu einer Ausweitung peripherer, informeller und prekärer Arbeitsverhältnisse führen wird, soll sich als positives Lebensgefühl auch in der Sportkultur niederschlagen, etwa in Form jederzeit und allerorten zu erbringender Fitnessarbeit. Natürlich "casual", was man mit "zwanglos", "informell" oder "beiläufig" übersetzen könnte. Die Schlußfolgerung der "Sportifity"-Forscher lautet: "Künftig brauchen wir ein Recht auf Bewegung." Törichter noch: Die Arbeitnehmer würden ihr "Grundrecht auf Sport" geltend machen und die Arbeitgeber unter Druck setzen, ihnen "neue Möglichkeiten für Bewegung im Rahmen der Arbeit zu schaffen".

Das postulierte "Recht auf Bewegung" setzt wie ein "Recht auf Luft" den Entzug respektive die Inbesitznahme nämlicher, dadurch erst zum Wert transformierten Ressource voraus. Das Individuum bekommt dann "Bewegung" im Sinne vorherrschender ökonomischer und politischer Interessen als Rechtsanspruch zugeteilt - im Interesse der Allgemeinheit. Schon jetzt richten sich in versporteten Gesellschaften die moralischen und medizinalen Schuldzuweisungen immer unverblümter gegen den pflichtsäumigen Bürger: Wer sich zu wenig bewegt, der schadet seiner körperlichen und geistigen Gesundheit, schöpft sein volles Leistungs- und Lernvermögen nicht aus und trägt überdies auch nicht zur Kostendämpfung im Gesundheitssystem bei. Ein "Recht auf Bewegung" könnte von Unternehmen auch genutzt werden, mit legalistischen Mitteln gegen MitarbeiterInnen vorzugehen, die sich fahrlässig, vorsätzlich oder gar "sozialwidrig" nicht um ihre Gesundheit gekümmert haben.

Aber auch wenn einige Großunternehmen Arbeit und Sport in ihren Betriebsräumen verdichtet haben, um die Beschäftigten zu weniger Krankheitsausfällen und mehr Leistung zu bewegen, zu größerer Verbundenheit und Dankbarkeit gegenüber dem Unternehmen, haben die Arbeitgeber aus Renditegründen kein sonderliches Interesse daran, die Reproduktionskosten für arbeitsförderliche Gesundheit selbst zu übernehmen. Wozu gibt es denn traditionell die Sportvereine oder, noch zeitgemäßer, die Fitnessbetriebe, deren Mitgliederzahl sich in Deutschland seit 2006 verdoppelt hat? Der altbackene Werk- oder Betriebssport kann in großräumigen, mit kommunikativen Sportgeräten, virtuellen oder persönlichen Trainern und Erlebnis-Gimmicks vollgestopften Mega-Gyms auf viel umfänglichere Weise geleistet werden. Ein von Produktwerbung umgarnter "Kunde", der sich an den Eisen, bei "Breakletics" oder an den Kletterwänden ausgepowert hat, wird sicherlich auch nicht darauf verzichten wollen, das eine oder andere Nahrungssupplement zu kaufen, angefangen von Energiedrinks und Eiweißpulvern bis hin zu veganen Bioprodukten und nachhaltigen Powerriegeln aus Insektenproteinen. Auch darüber wird sich das kostenlose Fitness-Angebot in Oberhausen finanzieren.

In den Thyssen-Industriehallen kommt somit zusammen, was schon von alters her zusammen gehört. Als sich im Ruhrgebiet große deutsche Industrieunternehmen ansiedelten, diente sportliche Betätigung vorrangig dem Betriebsfrieden, wie der Bochumer Sporthistoriker Prof. Andreas Luh erläuterte: "Die Betriebe, die damals entstanden, und die großen deutschen Konzerne, wie Siemens, Krupp und auch große deutsche Banken, standen ja in einer Klassenkampfsituation einer sich organisierenden Arbeiterbewegung. Die hatten ein Bedürfnis, ein System betrieblicher Sozialpolitik aufzubauen, was auch eine gewisse Legitimations- und Abwehrfunktion hatte gegenüber den Interessen einer organisierten linksorientierten Arbeiterbewegung." [5]

Wer heute bei "Zumba", "Piloxing" oder "CrossFit" literweise Schweiß vergießt oder sich an den schwerer und monotoner Fabrikarbeit nicht unähnlichen Kraftmaschinen abrackert, um seinen Körper in Form und Takt zu halten, hat in der Regel keinen historischen Bezug mehr zu den Anfängen von Sport- und Freizeitbeschäftigungen. Diese wurden von Unternehmen nicht nur eingesetzt, um den in Berg-, Stahl- oder Chemiewerken schwer arbeitenden Menschen ein wenig Ausgleich bei Sport und Spiel zu ermöglichen, sondern auch davon abzuhalten, sich generell gegen krankmachende Arbeit und ausbeuterische Bedingungen aufzulehnen. An Industriestandorten, so ist historisch belegt, die Sportstätten errichteten, wurde auch weniger gestreikt. An der grundlegenden Herrschaftsfunktion von Sport hat sich seitdem nichts geändert, wie "sporty", "stylish" oder "casual" heutige Fitnessangebote auch immer erscheinen mögen. Gewandelt hat sich allenfalls die zu einem eigenständigen Industriezweig gewordene Zurichtung des Menschen für die Erfordernisse postmoderner Leistungsgesellschaften.

Fußnoten:

[1] http://www.handelsblatt.com/unternehmen/dienstleister/projekt-in-oberhausen-mcfit-plant-groesstes-fitnessstudio-der-welt-ohne-beitraege/20259274.html. 30.08.2017.

[2] http://www.presseportal.de/pm/55903/3722466. 30.08.2017.

[3] https://www.dssv.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=4078&token=cc63788be8b4e7958866da3f6f20d94a56d91563. 20.03.2017.

[4] https://www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Leseproben/SPORT_Leseprobe.pdf

[5] http://www.deutschlandfunkkultur.de/betriebssport-bewegte-kollegen.966.de.html?dram:article_id=351821. 29.05.2016.

12. September 2017


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