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KOMMENTAR/284: Sportidentität und Zwangsverschworenheit ... (SB)



Das neue Kaninchen, das der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, kurz vor den Sommerspielen in Tokio aus dem Hut zauberte, hatte dem Ringe-Imperium viele ironische bis spöttische Kommentare eingetragen. Nachdem das Olympische Motto "Citius, altius, fortius" (Schneller, höher, stärker) 127 Jahre lang ausreichte, um Generationen auf den leistungssportlichen und seit den 1990er Jahren auch kommerziellen Überbietungswettbewerb einzuschwören, wurde es nun um den Zusatz "communiter" (gemeinsam) erweitert. "Wir können nur schneller gehen, wir können nur höher zielen, wir können nur stärker werden, wenn wir zusammenstehen - in Solidarität" [1], so die Weisheit des FDP-Mannes, die man auch als Drohung verstehen kann: Wer den leistungssportlichen Steigerungsimperativ und das olympische Wachstumsmodell infrage stellt, wer nicht bedingungslos mitzieht und sich nicht vollständig "unserer Mission, die Welt durch den Sport zu verbessern" (Bach), unterwirft, stellt sich außerhalb der olympischen Gemeinschaft und hat jede Solidarität verwirkt.

Wie zum Beweis seiner Drohworte statuierte der Wirtschaftsanwalt kurz nach den Sommerspielen in Tokio ein Exempel, das allen IOC-Mitgliedern gilt, sollten sie es jemals wagen, aus der olympischen Schicksalsgemeinschaft auszuscheren - selbst wenn sie dafür allseits akzeptierte Gründe hätten. So wurde auf Beschluss der IOC-Exekutive das Olympische Komitee Nordkoreas bis Ende 2022 aus der olympischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Als einziges Land hatte die Demokratische Volksrepublik Korea die Stirn besessen, keine SportlerInnen zu den Sommerspielen in Tokio zu senden, womit sie gegen die Regel 27.3 der Olympischen Charta verstieß. Diese besagt, dass jedes Nationale Olympische Komitee (NOK) verpflichtet sei, an den Olympischen Spielen durch die Entsendung von Athleten teilzunehmen. Im Zuge der Suspendierung werde Nordkoreas NOK keine Unterstützung durch IOC-Programme mehr erhalten, heißt es weiter. Auch die aufgelaufene finanzielle Unterstützung des IOC, die dem NOK von Nordkorea zugewiesen werden sollte, aber aufgrund internationaler Sanktionen zurückgehalten wurde, sei nun endgültig verwirkt. Begründung: Das nordkoreanische NOK habe "nicht zum Erfolg der Olympischen Spiele Tokio 2020 beigetragen".

Um sich als gütiger Zuchtmeister darstellen zu können, der dem Paria die helfende Hand nicht gänzlich verweigert, ließ das IOC noch eine Hintertür offen: Sollten sich Athleten aus Nordkorea über das entsprechende Qualifikationsverfahren für die Winterspiele 2022 in Peking qualifizieren, werde das IOC-Exekutivkomitee zu gegebener Zeit eine "angemessene Entscheidung" für diese treffen. Bei den im Februar 2022 beginnenden Winterspielen besteht für nordkoreanische Athletinnen und Athleten also noch eine kleine Chance, unter neutraler Flagge starten zu dürfen.

Ende März dieses Jahres hatte Nordkorea als Grund für seinen Rückzieher den Wunsch angegeben, "unsere Athleten vor der weltweiten Gesundheitskrise zu schützen, die durch die bösartige Virusinfektion verursacht wird". Das war damals, als auch in vielen westlichen Nationen die Diskussion Fahrt aufgenommen hatte, ob das IOC wegen der COVID-19-Pandemie sowie steigender Inzidenzen und geringer Impfquoten in Japan die Spiele nicht absagen müsste, ein plausibler und durchaus nachvollziehbarer Grund. Von verschiedenster Seite war dem IOC sogar vorgeworfen worden, aus reiner Profitgier an den Spielen festzuhalten und damit das wirtschaftliche Wohl über die Gesundheit der TeilnehmerInnen zu stellen. Selbst bei Gastgeber Japan sollten zwischenzeitliche Umfragen in der Bevölkerung ergeben haben, dass eine Mehrheit die Austragung der Spiele ablehne. Die in Sachen Doppelstandards und Kalter-Krieg-Rhetorik bestens geübte Süddeutsche Zeitung hatte im April sogar noch Verständnis für den Schritt des Regimes um Machthaber Kim Jong-un geäußert: Man könne nicht einmal sagen, "dass es sich bei der Entscheidung um die Überreaktion eines durchgeknallten Autokraten handelt". Im Gegenteil. "Nordkorea bekämpft Infektionskrankheiten traditionell mit strengem Abstand zu jeder potenziellen Infektionsquelle. Das Gesundheitssystem dort ist zu schwach, um mit großen Krankheitsausbrüchen fertigzuwerden. Seit einem Jahr schottet sich das Regime deshalb konsequenter denn je ab. Es verzichtet sogar auf die Lebensmittellieferungen internationaler Hilfsorganisationen, damit niemand das Coronavirus einschleppt." [2]

Und trotzdem wurde dem minderbemittelten, durch zahlreiche Sanktionen niedergedrückten Land von westlichen "Experten" vorgehalten, Corona nur vorgeschoben zu haben. Als wahrscheinlicher für die Absage wurden "politische Gründe" kolportiert, etwa das "angespannte Verhältnis zu Japan" (FAZ, ohne zu erwähnen, dass Korea mehrere Jahrzehnte bis 1945 unter japanischer Kolonialherrschaft stand) oder "Angst vor Überläufern aus den eigenen Reihen" (taz). Außerdem könne sich das Staatsfernsehen des Landes keine teuren Olympia-Fernsehrechte leisten (SZ).

Natürlich stellen sowohl die Bewerbung als auch die Durchführung von ins Gigantische gewachsenen Olympischen und Paralympischen Spielen eine große Belastung für jeden Staatshaushalt dar - deshalb finden sie auch nur in reichen Industrieländern statt, die damit ihre nationale Stärke nach außen und den sozioökonomischen Durchgriff nach innen demonstrieren wollen. Obwohl bettelarm, tickt da Nordkorea, das bei den letzten Sommerspielen 2016 in Rio sieben Medaillen gewonnen hatte, keineswegs anders als etwa Russland, Brasilien, China, USA oder Frankreich - einige der letzten bzw. nächsten Gastgeber der Olympischen Spiele. Deshalb kam die Absage von Nordkorea für Tokio einigermaßen überraschend, denn nur knapp eine Woche zuvor hatte die südkoreanische Hauptstadt Seoul publik gemacht, dass sie eine gemeinsame Bewerbung mit dem Norden für die Spiele 2032 beim IOC eingereicht habe.

Seit dem Boykott der Olympischen Sommerspiele in Südkoreas Hauptstadt Seoul 1988 war Nordkorea bei sämtlichen sieben Sommerspielen vertreten und nur bei drei Winterspielen (Lillehammer 1994, Salt Lake City 2002 und Sotschi 2014) abwesend. Als Pyeongchang 2018 in Südkorea die Winterspiele ausrichtete, wurde der Norden mit offenen Armen empfangen. Um den Willen zu einer Annäherung beider Länder zu demonstrieren, nahm sogar ein vereintes Team am Eishockeyturnier der Frauen teil, zudem marschierten beide Nationen bei der Eröffnungs- und Schlussfeier unter einer gemeinsamen Flagge, was als Botschaft für den Frieden gefeiert wurde. Einen Friedensvertrag zwischen den verfeindeten Bruderstaaten gibt es indes bis heute nicht. Schätzungen zufolge starben im Koreakrieg (1950 bis 1953) rund viereinhalb Millionen Menschen, darunter über drei Millionen Zivilisten.

Dem Ringekonzern um Thomas Bach, der die olympische Symbolik von der Völkerverständigung durch Sport gut zu nutzen und in klingende Münze umzuwandeln weiß, waren emotionale Momente wie der Handyschnappschuss bei Olympia in Rio, als die südkoreanische Turnerin Lee Eun-ju einen Selfie gemeinsam mit der Nordkoreanerin Hong Un-jong schoss und das Foto wie eine Rakete durch die sozialen Medien ging, immer hochwillkommen. Der Sport könne Brücken bauen, rief der IOC-Präsident bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang den Gästen bei der Abschlussfeier zu, und das rote Cheerleader-Kommando aus dem Norden, das die fragile Brücke überquert hatte, um für Stimmung auf den Rängen und emotionale Bilder in den Medien zu sorgen, passte dem mit dem Friedensnobelpreis liebäugelnden IOC sicherlich auch ganz gut ins Konzept. Die Freude der Stakeholder dürfte allerdings noch größer gewesen sein, als Bach voraussagte, dass das IOC in der olympischen Periode 2017–2020 einen Reibach von sechs Milliarden Dollar aus Marketing und TV-Vermarktung machen würde.

Die finanziellen Gewinne sind dem IOC sicher, das friedenspolitische Investment jedoch, mit dem Nordkorea durchaus zum (monetären) Erfolg und Glanz der Winterspiele 2018 beigetragen hatte, sind dem IOC im Augenblick keinen Pfifferling mehr wert. Nun wird wieder hart abgerechnet. In einer Erklärung führt das IOC für seine Sanktionen gegen das Olympische Komitee der Demokratischen Volksrepublik Korea (NOK PRK) u.a. an, es habe "Zusicherungen für die Durchführung sicherer Spiele gegeben und bis zur letzten Minute konstruktive Vorschläge für eine angemessene und maßgeschneiderte Lösung unterbreitet (einschließlich der Bereitstellung von Impfstoffen), die vom NOK der PRK systematisch abgelehnt wurden". [3]

Unerwähnt blieb, dass für die Olympiastadt Tokio schon vor dem Turnier wegen steigender Infektionszahlen ein Notstand ausgerufen worden war. Der deutsche Pharmakologe Fritz Sörgel kritisierte gar: "Wer sagt, die Spiele seien sehr sicher und es könne nichts passieren, lügt die Menschen an." [4] Wie die Olympia-Organisatoren bekannt gaben, sollen bei Athleten, Offiziellen und Medienvertretern der Olympic Games 547 positive Fälle von COVID-19 aufgetreten sein, nachdem über 675.000 Tests durchgeführt worden waren. [5] Auch zwei deutsche TeilnehmerInnen waren davon betroffen. Am letzten Turniertag wurde bekannt, dass Susanne Wiedemann, die Sportdirektorin der deutschen Fünfkampf-Mannschaft, zunächst bei einem Antigen-Test und anschließend auch bei einem PCR-Test positiv getestet wurde. Der Radprofi Simon Geschke gehörte ebenfalls zu den Infizierten des deutschen Olympia-Teams. Bei den Paralympischen Spielen kamen noch einmal 316 positiv Getestete hinzu, so dass die Gesamtzahl auf 863 Personen stieg. 53 der Infizierten sollen sich im Athletendorf aufgehalten haben.

Für Nordkorea und andere bestand also durchaus ein Gesundheitsrisiko - trotz Olympia-Blase mit "Überwachungs-App", Impfungen, strengen Verhaltensregeln oder Versprechungen auf maßgeschneiderte Lösungen. Um sich vor Schadensersatzforderungen zu schützen, hatte das IOC außerdem von allen teilnehmenden Athletinnen und Athleten eine Unterschrift verlangt, wonach sie sich bereit erklären mussten, "auf eigenes Risiko und eigene Verantwortung" an Olympia teilzunehmen. Das schloss schwere körperliche Verletzungen oder Todesfälle mit ein, auch im Zusammenhang mit Corona sowie mit radioaktiven Strahlenschäden, die vor dem Hintergrund der schwelenden Reaktorkatastrophe in Fukushima auch nicht vollständig auszuschließen sind.

Da abzusehen ist, dass die Corona-Pandemie auch weiterhin zu Einschränkungen insbesondere bei Massenveranstaltungen führen wird, hat Thomas Bach mit seiner Entscheidung, Nordkorea von den Geldtöpfen abzuschneiden und eine Teilnahme an den Winterspielen in China zu verwehren, allen IOC-Mitgliedern gezeigt, was "communiter" wirklich bedeutet: Wer dem international gültigen Corona-Narrativ folgt und die validen Gesundheitsgefahren durch COVID-19 allzu ernst nimmt, wird aus der sportseligen Glaubensgemeinschaft der IOC-Kirche ausgeschlossen und muss bluten. Bachs heilige Mission, die Welt durch den Sport zu verbessern, kann weitergehen.



Fußnoten:

[1] https://olympics.com/ioc/olympic-motto

[2] https://www.sueddeutsche.de/sport/nordkorea-olympia-absage-1.5255881. 06.04.2021

[3] https://olympics.com/ioc/news/ioc-executive-board-suspends-noc-of-democratic-people-s-republic-of-korea. 08.09.2021.

[4] https://www.fr.de/sport/betrueger-wird-es-immer-geben-90874396.html. 22.07.2021.

[5] https://olympics.com/tokyo-2020/en/notices/covid-19-positive-case-list



27. September 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 168 vom 2. Oktober 2021


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