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BERICHT/021: Literaturwettbewerb beim Simple Life Festival 2010 (SB)


"Es sollte normal sein, verschieden zu sein"

Literatur vom Rand der Gesellschaft

Die Preisträger Manfred Nagel und Martin Rausch - © 2010 by Silke Goes

Die Preisträger Manfred Nagel und Martin Rausch
© 2010 by Silke Goes




nacht des Tages

bin fisch
am haken
stumm

rundum das meer
im blauen himmel

ein gott
der sich
herabbeugt -

Klaus Pörnbacher (1)


"Schreiben ist schrecklich!" Mit diesen Worten eröffnete Irene Stratenwerth am 16. November ihre Laudatio auf die Preisträger des diesjährigen Literaturwettbewerbs "Diese Tagträume tragen mich in die Nächte des Tages" im Rahmen des Simple Life Festivals auf Kampnagel. "Jeder, der es einmal versucht hat, weiß das. Man sitzt vor einem leeren Blatt oder vor einem leeren Monitor und - man quält sich. Kein Wort scheint wirklich zu passen für das, was man sagen will, und alle Sätze scheinen irgendwie schon mal benutzt, alle Geschichten erzählt."

Wie soll es da erst jenen gehen, die nie etwas mit Schreiben zu tun hatten, die keinen Zugang zu Bildung und Kultur hatten, die kein Abitur gemacht und kein Studium absolviert haben, die vielmehr in gesellschaftsferne Institutionen und Werkstätten verbracht wurden und denen man bis vor wenigen Jahren nicht zugetraut hat, daß sie überhaupt schreiben lernen.

Die Rede ist von Menschen mit einer sogenannten geistigen Beeinträchtigung.

Zum 3. Mal bereits fand der Wettbewerb, der 2005 von EUCREA, einem Netzwerk zur Förderung behinderter Künstler, ins Leben gerufen wurde, statt, eine wachsende Zahl von Autoren - diesmal 300 - schickten ihre Geschichten, Gedichte, Comics oder Songtexte - 49 davon wurden an diesem Abend ausgezeichnet und sind in einem Buch unter dem gleichnamigen Titel des Wettbewerbs veröffentlicht. - Aus dem an diesem Abend natürlich auch vorgelesen wurde: Die Schauspielerin Dagmar Dreke und Schauspieler und Jurymitglied Erik Schäffler demonstrierten auf eindrückliche Weise, daß die Protagonisten, "sehr wohl und sehr besonders kreativ schreiben können", so auch die Moderatorin des Abends, Angela Müller-Giannetti.

Erik Schäffler (lks.) und Dagmar Dreke - © 2010 by Silke Goes

Erik Schäffler und Dagmar Dreke
© 2010 by Silke Goes

"Meine Erkrankung fing damit an, dass mir die Sprache verloren ging. Ich hatte keine Worte, keine Gedanken mehr. Die Seele war verstummt. Das Schicksal jagte mich durch die Manie. Es war zwar Wahnsinn, doch ich fand Worte, mich auszudrücken. Ich fand Worte für die Wut und Worte für die Leidenschaft. So ist es nach Jahren des Wechsels zwischen Wahnsinn und Verstand so gekommen, dass sich die Sprache gehalten hat.
Ein großes Glück ist es, in Gedanken zu sein, wenn die Feder übers Papier huscht. Ein kleines Glück ist es, mit Anderen bei Kaffee und einer Zigarette zusammen zu sein." (aus: Marlene Gerhards, Von der Schwierigkeit der Wirklichkeit)

Thema des Wettbewerbs war in diesem Jahr der Alltag mit all seinen Schwierigkeiten, seinen gleichbleibenden Ritualen, aber auch mit seinen Träumen - und wer aufmerksam zuhörte, konnte feststellen, daß die Themen und Probleme, über die sich sogenannte Behinderte und Nichtbehinderte Gedanken machen, so unterschiedlich nicht sind: Liebe und Langeweile, Alter, Zeit und Sprache, das Leben in WGs, die Arbeit, Mut zum Leben, fliegende Wildgänse, den Wunsch, frei zu sein und die (politische) Forderung an die Gesellschaft, endlich respektiert zu werden, Sorge um die Zukunft der Menschheit, Einsamkeit und Angst.

Jan-Hendrik Paetz erzählt, wie er auf einem Ausflug von der Polizei festgenommen und mißhandelt wurde, weil er sich angeblich einem Mädchen genähert hatte, ein Fall, der auch in die Zeitung kam und sich am Ende aufklären ließ. Herr Paetz ist Autist. Katharina Henning beschreibt in ihrer Erzählung "Wenn Heiner Lauterbach das wüßte!" ihre Tagträume während eines monotonen Arbeitsalltags, der darin besteht, Schrauben, Muttern und andere Metallteile in Beutel zu zählen und Olaf Türck legt mit unterkühltem Wortwitz offen, daß nur der etwas gilt, der seine Zeit tätig verbringt: "Nichtstun ist also nicht genug, es reicht nicht aus - aber wofür sollte es reichen?"

Die Preisträger Stefan Mann, Herwig Hack und Nicki Kroiss - © 2010 by Silke Goes

Die Preisträger Stefan Mann, Herwig Hack und Nicki Kroiss
© 2010 by Silke Goes

Was die Texte so besonders macht ist die Offenheit, mit der die Themen artikuliert werden, ungewöhnlich, künstlerisch mutig und ambitioniert. Ihre Stärke ist ihr unverstellter, direkter Blick auf die Welt und die Fähigkeit, Dinge mit wenigen Worten auf den Punkt zu bringen.

Wer zuhört, fühlt sich berührt - und verstanden. Und es öffnet sich ein Blick hinter die Kulisse dessen, was uns in spastischer Bewegung oder im Rollstuhl fremd und befremdlich entgegenkommt.

Die Dichter und Autoren hatten Assistenten, die ihnen beim Aufschreiben behilflich waren, in Schreibwerkstätten oder in der Familie, in Wohngemeinschaften, mit menschlichen und technischen Hilfsmitteln. So kamen Behinderte und Nichtbehinderte miteinander ins Gespräch, fanden heraus, was sie unterscheidet und was sie verbindet.

"Schreiben und lesen ist eben Kommunikation, dazu gehören immer zwei Seiten, und nicht jeder versteht jeden, aber jeder, der dieses Buch in die Hand nimmt, wird etwas darin finden, was ihn ganz direkt anspricht", resümmierte die Laudatorin die Qual bei der Wahl der Preisträger. Die Autoren reportieren und reflektieren ihren Alltag in erfundenen oder selbst erlebten Geschichten, sehr unmittelbar und "ohne den inneren Zensor, den wir, die angeblich Nichtbehinderten, so unerbittlich trainiert haben." - Wunderbare kleine Nachdenkereien sind so entstanden. "Jeder Text ist ein eigenes Manifest."

"Sind Tage, da bin ich wie Drachen oder Tiger: beißen, treten und schreien. Aus meine Seele ist alles raus." (aus: Faustin Mateja, Alltag)

Man mag den Versuch, literarische Texte von Menschen mit sogenannten geistigen Beeinträchtigungen überhaupt zu klassifizieren und Prüfkriterien zu unterwerfen, die schon im normalen Literaturbetrieb höchst fragwürdig sind, um die Gewinner dann auf einer Bühne auszuzeichnen, vom Grundsatz her problematisch finden. Solche Kritik müßte sich aber eher an eine Gesellschaft richten, die Zugehörigkeit nach Qualitätsnormen bemißt. Über gesellschaftliche Anerkennung mag sich erheben, wer ihrer nicht bedarf.

Preisträger Arthur Leichner mit Jutta Schubert von EUCREA e.V. - © 2010 by Silke Goes

Preisträger Arthur Leichner mit Jutta Schubert von EUCREA e.V.
© 2010 by Silke Goes

"Ich träume davon, nicht mehr behindert zu sein. Weg von dem Behindertenimage. (...) Ich bin ein Singel - ich bin ein Träumer. Wenn ich verliebt bin, spiele ich gern Gitarre. (...) Mein größtes Problem ist mein Sozialverhalten.
Ich lebe ein Doppelleben; wenn ich bei meinen Brüdern bin, sind wir fünf Männer, Zuhause bin ich dann alleine und dann male ich schöne Frauen, reime Gedichte über Frauen.
Ich überlege mir, ob man stark sein soll oder schwach sein darf, warum mich keiner so nimmt, wie ich bin." (aus: Peter Pankow, Sammelklos im Herzen)

Die Auswahl der Jury erfolgte, so Laudatorin und Mitjurorin Irene Stratenwerth, denn auch nicht nach allgemeinen literarischen Kriterien, sondern nach dem, "was mich persönlich angesprochen, berührt, nachdenklich gemacht oder zum Lachen gebracht hat. Kleine literarische Schätze, nie gehörte oder gelesene Wortkombinationen, die alle Sprachregeln auf den Kopf stellen, Neuschöpfungen, die aber sofort und leicht verständlich sind, kamen zutage.

"Jule Du stinkst mich.
Ich bin kein Diebstall.
Das ist hinreizend.
Karsten Du hast uns aber ganz schön erschrockt.
Das klappte wundergut."
(aus: Arthur Leichner, Arthurs Wörterbuch)

Noch manche der außergewöhnlichen und ganz verschiedenartigen Texte hätte man Lust, an dieser Stelle anzuführen. Wer möchte, kann sie in dem Büchlein zum Wettbewerb selber nachlesen.

Musikerduo WeberWendt - © 2010 by Silke Goes

Musikerduo WeberWendt
© 2010 by Silke Goes

Nicht unerwähnt bleiben darf das Musikerduo WeberWendt, (Krischa Weber, Cello & Ulrich Kodjo Wendt, Diatonisches Akkordeon), das mit seinen lebensgewürzigen Einlagen keinen geringen Anteil an einem gelungenen Abend in festlichem Rahmen und so gelöster und freundlicher Stimmung hatte, wie man sie bei Literaturlesungen selten antrifft. Das ist aufgefallen.

Sicherlich ist die Begegnung mit Menschen mit sogenannter geistiger oder anderer Behinderung für uns 'Normalos' immer noch von Unkenntnis und Vorurteilen geprägt. Daß die so was schreiben können, schießt es einem während der Lesung bewundernd durch den Kopf, gleich gefolgt von der Frage, woher man sein mangelndes Zutrauen und seine Fehleinschätzung eigentlich hat?

"Es sollte", schreibt Carina Kühne in ihrem Beitrag über Wunschträume für den Alltag behinderter Menschen, "normal sein, verschieden zu sein."

Blick in die Halle auf Kampnagel vor der Preisverleihung - © 2010 by Schattenblick

Gelöste Stimmung vor der Preisverleihung
© 2010 by Schattenblick


(1) mit freundlicher Genehmigung des Autors
Gedicht und sämtliche literarische Zitate aus:
diese tagträume tragen mich in die nächte des tages
Books on Demand GmbH, Norderstedt 2010
ISBN 978-3-8391-9547-5


26. November 2010