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BERICHT/031: Hamburger Theaternacht 2011 - Mit dem Bus in eine andere Welt (SB)



Hamburger Theaternacht 2011 - Mit dem Bus in eine andere Welt

Der Utopia-Mobil-Bus des Jungen Schauspielhauses - Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Utopia Mobil Bus des Jungen Schauspielhauses
Foto: © 2011 by Schattenblick

Lau war sie, die Lange Theaternacht des 10.09.2011 in Hamburg, eine echte Sommernacht - endlich. Und Berührendes, ja Erhebendes, ließ sie ihre Besucher entdecken! Das wahrscheinlich engste Off-Theater Hamburgs, ein bunt bemalter Linienbus mit nur 25 Zuschauerplätzen, parkte gleich um die Ecke vom Schauspielhaus. Neben dem prachtvollen Jugendstilbau, der "den Musen ein Heim" sein soll, wie es an seiner Fassade steht, wirkte der Utopia Mobil Bus von außen beinahe unscheinbar und erwies sich doch, wenn man es geschafft hatte, einen der begehrten Plätze zu ergattern, als Herberge geballter Schauspielkunst. Aus dem Off der sozialschwachen, der wirtschaftlicher Armut oder unvorstellbar Schlimmerem entflohenen Ausländer in Deutschland bricht ohne Vorwarnung, aber mit vielen Entschuldigungen, der ghanaische Flüchtling Dede (Patrick Abozen) in die Welt der Passagiere des Utopia Mobils ein und entführt sie für 20 Minuten in sein Leben. Voller Sorge, doch ohne einen Schuldigen zu suchen, direkt, doch sich immer wieder zurücknehmend, schildert er sein Leben in Hamburg, nur unterbrochen von seiner eigenen durch den ganzen Bus polternden Angst vor der Polizei. Er erzählt von seinem Kindertraum "Deutschland", von einem für Dede am nicht zu ertragenden Dauerstatus "illegaler Mensch" längst geplatzten Traum - trotz gefundener Freunde, trotz Schulbesuch und selbstverständlichem nicht hungern müssen.

"...doch manchmal lauf ich in diesem riesigen Mediamarkt 'rum und denke 'kraaasss, ein Gerät kostet so viel wie das Haus, was meine Mama ihrer Familie in Ghana kaufen will!' Und für viele von uns ist Deutschland wie ein riesiges Einkaufscenter auf dem steht: 'Zutritt verboten.'" Das Utopia-Mobil-Ensemble feiert am 18. September 2011 mit seinem neuen Stück "Morgen Alaska" Premiere, einer vielversprechenden Arbeit von Michael Müller über die existenzielle Not zweier heranwachsender Jugendlicher.

Szenenfoto 'Morgen Alaska', Patrick Abozen, Karolina Fijas - Foto: © Sinje Hasheider

Szenenfoto "Morgen Alaska", Patrick Abozen, Karolina Fijas
Foto: © Sinje Hasheider

Wie erreicht man mit geringsten Mitteln, mit oft kleiner als kleinen Budgets aus der Eigenfinanzierung, die Menschen mit Theater? Die Darbietung des Utopia-Mobil-Ensembles zeigt es uns, denn wie so viele Off-Theater bespielende und erhaltende Ensembles leben seine Schauspieler ihren Traum, auch wenn "Das Junge Schauspielhaus" finanziell von seiner großen Mutter geschirmt wird, und wachsen in ihrer Arbeit über sich selbst hinaus. So überrascht es nicht, dass die herausragenden Darsteller des im Anschluss an die Theaternacht verliehenen Rolf-Mares-Preises 2011 von den kleinen Bühnen kommen.

Die Hamburger Theaternacht war mit 17.500 Besuchern wohl die bestbesuchte aller Zeiten. Trotz des so geringen Preises von 14 Euro für die Eintrittskarte an der Abendkasse, die ihren Käufern nicht nur den freien Zugang zu über 300 Veranstaltungen der teilnehmenden Theater versprach, sondern auch freie Fahrten mit Bussen und Bahnen des HVV und der Alsterschiffe beinhaltete, erwies sie sich ab und an auch als das, als was sie eigentlich ins Leben gerufen wurde: eine riesige Promotionaktion, bei der die, die zuerst kommen, noch Plätze kriegen und allen anderen ein für die aktuellen Spielzeiten trotzdem Interesse schürendes Schnuppern in die Theaterfoyers bleibt. So verlockend das Angebot der diesjährigen Theaternacht auch war, standen ihre Besucher doch zu oft vor überfüllten Sälen und mussten meist etwas länger, als sie wollten, auf ihre Busse warten. Wer die Vorstellungen, die er besuchen wollte, anhand des übersichtlich gestalteten Programmhefts selbst zusammengestellt hatte, war nicht selten aufgeschmissen, da viele Veranstaltungen gleichzeitig begannen, was "Ausweichmanöver" auf andere Vorstellungen eher schwierig machte.

Auffällig war, dass die kleinen Theater, die ohnehin am Rande zu stehen scheinen, auch von den Theaternachtorganisatoren, die zum Beispiel die Möglichkeit gehabt hätten, neben den angebotenen und zeitlich kalkulierten Routen wie der "Einsteiger-Route" (Staatsoper, Thalia Theater, Schauspielhaus und Winterhuder Fährhaus), der "Route für Hamburg-Fans" (Ohnsorg Theater, Das Schiff, Imperial Theater, Hamburger Engelsaal und St. Pauli Theater) und der Route "Kids on Tour" auch eine Off-Theater-Route ins Programm zu nehmen, wenig in den Vordergrund gehoben wurden - und dies, obwohl Hamburgs Kultursenatorin Dr. Barbara Kisseler bei ihrer Eröffnungsansprache am Jungfernstieg ausdrücklich betonte, dass ihr insbesondere die ohne städtische und staatliche Unterstützung finanzierten Theater am Herzen liegen, besuchte sie doch selbst demonstrativ zu allererst das privat getragene Monsuntheater in der Friedensallee.

Kultursenatorin Dr. Barbara Kisseler auf der NDR-Bühne am Jungfernstieg - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kultursenatorin Dr. Barbara Kisseler auf der NDR-Bühne am Jungfernstieg
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die auf eigene Faust geplanten explorativen Bemühungen des zweiköpfigen Schattenblickteams wurden auf dem dunklen Weg zum "Sprechwerk", in dem das dokumentarische Theaterstück "...und der Name des Sterns heißt Tschernobyl" des "Dokumentartheaters Berlin" begleitet von einer Ausstellung zu sehen sein sollte, zunächst von einem Poeten des Alltags aus dem Ensemble "Die Azubis" abgefangen, der sein Trüppchen auf eine Wanderung durchs nächtliche Borgfelde führte. Er nahm uns mit in das "Herz von Hamburg", einem nach typischem Stockschimmel riechenden, doch angenehm kühlen Bunker, "...der Mittelpunkt Hamburgs, zumindest der geografische", verriet er uns durchs Megaphon, "das heißt, wir befinden uns hier gerade im Herzen von Hamburg, und in diesem Bunker sammeln sich alle Probleme, Wünsche, Sorgen und Konflikte, nicht nur der Borgfelder, sondern aller Hamburger Menschen, und da gucken wir doch einfach mal, was hier zu finden ist." So viel sei gesagt, auch wenn der knapp 25minütige Theaternachtausflug reichlich kurz war, um ihn vollends genießen zu können: Der Weg in den Mittelpunkt Hamburgs lohnte sich schon allein deshalb, weil es den Azubis in Zusammenarbeit mit dem Verein "unter-hamburg" immer gelingt, ihre Expeditionsteilnehmer mit geringsten Mitteln und ohne poststrukturalistisches Sinngesuche effektvoll und witzig der gewohnten Realität zu entrücken und sie dazu verführt, ihre alltäglichen Umgebungen mit völlig neuen Augen zu sehen.

Finsterer Treppenabstieg des Bunkers unter Hamburg in Borgfelde - Foto: © 2011 by Schattenblick

Unter Hamburg in Borgfelde
Foto: © 2011 by Schattenblick

Einen unfreiwillig direkten Bezug zu den aktuellen Geschehnissen in Fukushima hatte schließlich das auf autobiografischen Erzählungen von Tschernobyl-Opfern basierende und die Ukrainische Regierung anklagende Stück von Marina Schubert und dem Dokumentartheater Berlin im Sprechwerk, das Oliver Erhardt mit seinem Verein "Die Tour für das Leiden" nach Hamburg holte. Das erschreckende und große Anteile nüchterner Fakten zum Super-GAU enthaltende Stück erzählt die Geschichte einer schwangeren Frau, die den grausamen Tod ihres geliebten Mannes, der in Tschernobyl Aufräumarbeiten ausführte, begleitet.

Für Regisseurin Marina Schubert, die selbst die Zone besucht und mit vielen Zeitzeugen über das bis heute anhaltende Elend in Tschernobyl gesprochen hat, ist die klassische Form osteuropäischen Theaters, das Grauen dieser Erde mit den Mitteln der Schönheit widerzugeben, die einzige Möglichkeit, das Leid der Menschen, die verstrahlt wurden, für die Bühne zu bearbeiten. "Mir kann keiner erzählen, dass es nicht so ist, ich war dort. Ich würde nie Stücke machen, wenn ich nicht persönlich von etwas berührt bin, das ist mein Weg. Ich kann nur das erzählen, was ich aus engem Kontakt heraus weiß. Es muss mein Herz ergreifen, dann kann ich versuchen das weiterzugeben." Am 24. September hat das Dokumentartheater Berlin des Vereins "Berliner Unterwelten - Gesellschaft zur Erforschung und Dokumentation unterirdischer Bauten" Premiere mit dem Stück "VERA", das die Geschichte der deutsch-jüdischen Vera Friedländer beleuchtet, die als heute über 80jährige Zeitzeugin sogar mit auf der Bühne steht.

Schlußapplaus mit dem Dokumentartheater-Berlin-Ensemble vor der Bühne, im Gedenken an die Helden von Tschernobyl - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Gedenken an die Helden von Tschernobyl
Foto: © 2011 by Schattenblick

So zahlreich die Kabarett-Vorstellungen, Installations- und Interaktions-Theaterstücke der Hamburger Theaternacht waren, so vielfältig dürften die Stimmungen und Erlebnisse der Menschen gewesen sein, die sich laut Programmheft eigentlich in der "Verrückten Stunde" zwischen 0.00 und 1.00 Uhr, in der die Ensembles ihre Theater tauschen sollten, auf die Abschlussparty in den Fliegenden Bauten hätten einstimmen wollen. Leider wurden die ihre letzten Programmpunkte aufsuchenden Gäste aus nicht näher benannten Gründen teilweise schon vor zwölf in Richtung Festzelt geschickt, da die meisten Veranstaltungen der verrückten Stunde abgesagt wurden. Ob die Erschöpfung der Schauspieler, die Ungeduld der Theaterbesatzungen oder die berechtigte Angst vor leeren Fliegenden Bauten Schuld an dieser Programmänderung war, die nicht selten Unverständnis auslöste, ist nicht mehr festzustellen und auch die Suche nach der großen Abschlussparty war für viele Gäste nicht mehr zufriedenstellend.

Die Theaternacht bringt zweifelsohne viel Bewegung in die Hamburger Theaterlandschaft. Schon allein durch die Tatsache, dass alle Veranstaltungen der 40 teilnehmenden Bühnen in einem Programmheft zusammengefasst sind, birgt sie die Möglichkeit, sich vor Beginn der jährlichen Saison anregen zu lassen, auszuwählen und die kurz angespielten Stücke später mit eigenem Sitzplatz in voller Länge zu sehen - und sich auch abseits der ausgetretenen Pfade großer Theater und historischer Stücke einmal vorsichtig umzuschauen, was die unkonventionellsten Theaterschaffenden den neugierigsten Theatersuchenden zu sagen haben. Gerade wegen aller über den Haufen geworfenen Besuchspläne für den Abend kamen die Zuschauer untereinander oft ins Gespräch, die Theaterbegeisterten wurden zu Verbündeten und gaben allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Erlebnisse weiter, so dass sich das angenehme Gefühl ausbreitete, doch noch alles erfahren zu haben, was man wissen wollte.

Das Deutsche Schauspielhaus in der Hamburger Theaternacht 2011 - Foto: © 2011 by Schattenblick

Das Deutsche Schauspielhaus in der Hamburger Theaternacht 2011
Foto: © 2011 by Schattenblick

17. September 2011