Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → REPORT

BERICHT/039: Uraufführung von Kafkas 'Der Bau' im Hamburger Sprechwerk (SB)


Die Allgegenwart der Verunsicherung


Joachim Bliese - Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Joachim Bliese
Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Der 11. September und die Folgen

Anfang nächsten Monats jährt sich zum 11. Mal, was das Selbstverständnis unangreifbarer Überlegenheit Amerikas und in Folge der gesamten westlichen Welt erschütterte und unter dem Kürzel Nine-Eleven in die Geschichte einging. Den Angriffen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, denen mehr als 3.000 Menschen zum Opfer fielen und die nach wie vor ungeklärte Fragen nach den tatsächlichen Ereignissen und Drahtziehern aufwerfen, folgte eine Flut von Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen, die demokratische Prinzipien und bürgerliche Grundrechte, derer der Westen sich so rühmt, unter dem Verweis auf die "terroristische Bedrohung" außer Kraft setzten.

Bereits am 26. Oktober 2001 trat der USA Patriot Act in Kraft, der unter der Flagge des "war on terror" US-Bundesbehörden weitreichende Eingriffe in Bürgerrechte erlaubt: etwa das Überwachen verdächtigter Personen ohne richterliche Anordnung, das geheime Abhören von Telefonaten, Speichern von Verbindungsdaten und Ausspionieren von E-Mail-Kontakten, das Einholen von personengebundenen Informationen bei Versicherungen, Geldinstituten und Arbeitgebern, das Inhaftieren und Ausweisen terrorverdächtiger Ausländer ohne Angaben und richterliche Prüfung von Verdachtsmomenten und mit erschwerten Haftprüfungsrechten. Im März 2006 verlängerte der US-Kongress die meisten dieser Bestimmungen auf unbefristete Zeit. Insgesamt wurden in den USA neben dem zentralen Ministerium für Heimatsicherheit mit 170.000 Beschäftigten 263 Sicherheitsbehörden neu gegründet oder reorganisiert; 1200 staatliche Organisationen und 1931 private Firmen befassen sich seither mit der Gefahrenabwehr. [1]

Auch die Regierungen Europas verabschiedeten ihre "Heimatschutzgesetze", verschärften Einreisebedingungen und weiteten Personenüberwachungen aus. Die Bundesrepublik Deutschland führte die Rasterfahndung und Kronzeugenregelung aus der RAF-Bekämpfung der 1970er Jahre wieder ein und brachte Gesetzesentwürfe zur Einführung einer Präventionshaft (2004), zur Telekommunikationsüberwachung (2005), zur Erlaubnis von Abschüssen entführter Flugzeuge und zur präventiven Rasterfahndung (2006), zur geheimen Online-Durchsuchung privater Computer (2008) sowie zur Vorratsdatenspeicherung (2010) auf den Weg. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht diese Entwürfe jeweils für verfassungswidrig erklärte, zeigt allein ihre Existenz wie auch die jüngste Zustimmung desselben Gerichtes zur Möglichkeit eines Einsatzes der Bundeswehr im Innern mit militärischen Mitteln die wachsende Bereitschaft der Entscheidungsträger zu massiven Beschädigungen des Grundgesetzes.

Mehr Sicherheit für die Bevölkerung zeitigten solcherlei Maßnahmen nicht. Wohl aber wuchs die Verunsicherung, ob sie nicht ganz anderen Zwecken dienen, ob der 11. September ein zumindest geduldeter, wenn nicht gar inszenierter Anlaß gewesen sein könnte für Vorhaben, die längst in den Schubladen der Mächtigen lagen.

Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Zeitlose Thematik

Zu dieser Gefahr eines dramatischen Verlustes bürgerlicher Freiheiten durch verschärfte Kontrollen und Sicherungen, die vorgeben, eben jene bewahren zu wollen, hat der Schweizer Dramaturg, Journalist und Schriftsteller Jürg Amann, den Karl-Markus Gauss in der Süddeutschen einmal als "Meister des 'Unspektakulären'" bezeichnet hat, ein Stück gemacht. [2] Der Kafka-Kenner und -bewunderer, der bereits über "das Symbol Kafka" promoviert hat, dramatisierte dazu eine der letzten Erzählungen des Prager Schriftstellers. "Es gibt wohl in der Weltliteratur keinen vergleichbaren Text, der den Leser mit derartiger Raffinesse ins Innere eines paranoiden Geistes zieht: Unmerklich, beinahe spielerisch wird die Schwelle überschritten, hinter der die wohldurchdachten Maßnahmen das zu schützende Leben selbst beherrschen und ersticken." [3]

Die Parabel ist der als "stream of consciousness" gestaltete Monolog eines nicht näher bezeichneten Tieres, verschiedentlich wird in Rezeptionen ein Maulwurf spekuliert, ein Dachs oder ein Fuchs. Für Amann ist es "ganz ohne Zweifel" die Metapher für einen Menschen, dessen ganzes Planen und Tun sich in Erwartung äußerer oder innerer, vorgestellter oder tatsächlicher Feinde um die Konstruktion und die Absicherung eines unterirdischen Labyrinthes dreht, dessen Gedanken sich in nicht enden wollender Ausweglosigkeit qualifizieren und der am Ende nicht nur erkennen muß, daß sein Plan nicht gelingen kann, sondern auch, daß er vielleicht selbst als Eindringling in einem fremden Bau lebt.

Wie viele andere Werke Kafkas ist "Der Bau", geschrieben im Winter 1923, also kurz vor seinem Tod im folgenden Jahr, unvollendet. Das Auseinanderbrechen der Welt, sagt Kafka-Experte Amann dazu, hat auch in der Literatur dazu geführt, daß man einen Anfang, aber keinen Schluß mehr schreiben konnte. Ins Bild gebracht: Kafka habe, wie viele Schriftsteller seiner Zeit, den Radius einer Geschichte entwerfen können, nicht aber mehr den ganzen Kreis zeichnen. Die Arbeit Amanns an der Erzählung bestand daher darin, den original belassenen Text so umzustellen und zu kürzen, daß er bühnenfähig wurde.

Die Uraufführung fand im Beisein des Schriftstellers, der dazu eigens aus der Schweiz angereist war, am 17. August im Hamburger Sprechwerk statt.


"Ich kann nur mir selbst vertrauen und dem Bau."

Am Anfang herrscht Dunkelheit auf der großen Bühne - dann leise Geräusche, ein Wispern, Pfeifen oder Zischen wie von Ratten. Die auf das Wesentliche konzentrierte Inszenierung unter der Regie von Konstanze Ullmer vermochte von Anbeginn die Zuschauer in aufmerksame Spannung zu versetzen. Fast eineinhalb Stunden lang agiert ein Mann in einer sparsamen Kulisse, die den Protagonisten als akribischen wie scheiternden Planer seiner Sicherheit ausweist, 6 Bürolampen, darunter verteilt ein veralteter Computer, Papierrollen, Ablagekörbe oder zerknüllte Entwürfe, machen die verschiedenen Lokalitäten innerhalb des Labyrinthes kenntlich. Geschickt gesetzte Lichteffekte unterstreichen das Wechselspiel innerhalb und außerhalb des Baus.

Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Nachdem der Akteur sein Werk eingangs als gelungen bezeichnet und sich seiner geschickten Einfälle rühmt, erweist sich, was den oder die Feinde ablenken oder in die Irre führen sollte, als nicht haltbar, nicht sicher, und immer wieder generiert der Zweifel andere mögliche Gefahrenszenarien. Vorausberechnungen werden verworfen, neue Pläne gemacht, Vorräte umgeschichtet - alles mit der Mühe der Vergeblichkeit. Der Mensch kommt nicht ans Ende und nicht zur Ruhe, er denkt und plant im Kreise, quält sich mit nicht enden wollenden Argumenten und deren Widerlegung. Der Wunsch nach einem Vertrauten, mit dem man sich beraten und besprechen könnte, scheitert - denn auch er könnte eine Gefahr darstellen, "Ich kann nur mir selbst vertrauen und dem Bau." Aber auch das nicht, denn Fehler haben sich eingeschlichen bei der Konstruktion, auch solche, die nicht mehr revidierbar sind, im Bau ist es so gefährlich wie außerhalb.

Eine bessere Besetzung für die Rolle des vom Verfolgungswahn getriebenen Geistes als Joachim Bliese hätten sich die Macher nicht wünschen können. Bliese, der sich in den letzten Jahren einen Namen als Charakterdarsteller alternder, kranker und zutiefst einsamer Bühnenfiguren gemacht hat, trug das Stück, weiß Regisseurin Konstanze Ullmer dem Schattenblick zu berichten, seit Jahren mit sich herum auf der Suche nach einem passenden Theater für diesen Stoff. Ob er flüstert, als stünde der Feind unmittelbar nebenan, oder schreit, weil alles Planen und Überlegen sich als ungenügend erweist, sich über die Listigkeit eines neuerlichen Einfalls freut oder an seinem Scheitern verzweifelt - all das bringt der 76jährige mit größtem körperlichem Einsatz und ungeheurer Sprechvielfalt auf die Bühne. Was als nicht enden wollende Reflexion über die Sicherung des Baus beginnt, steigert sich zur realen Angst vor mehreren oder einem unsichtbaren gleichwohl hörbaren Feind, dem sich zu ergeben schließlich die einzige Ratio zu sein scheint.

Am Ende wurde eine außergewöhnliche Leistung mit nicht enden wollendem Applaus belohnt - und das Sprechwerk hat sich erfüllt, wofür es mit seinem Namen steht: Sprechtheater auf höchstem Niveau zu bieten.

Verdienter Applaus - von links: Marcel Weinand (Bühnenbild), Schauspieler Joachim Bliese, der Autor Jürg Amann, Konstanze Ullmer (Regie) - Foto: © 2012 by Schattenblick

Verdienter Applaus
von links: Marcel Weinand (Bühnenbild), Schauspieler Joachim Bliese, der Autor Jürg Amann, Konstanze Ullmer (Regie)
Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine großartige Leistung

Direkt im Anschluß an die Premiere hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Autor.

Schattenblick (SB): Die Frage erübrigt sich fast, ob Sie zufrieden sind?

Jürg Amann (JA): Ich bin einfach begeistert und dankbar, richtig vom Herzen dankbar. Daß jemand so eine schwierige Sache überhaupt angeht und dann so differenziert auf die Bühne bringt, das ist unglaublich. Ich kenne Joachim Bliese schon einige Zeit, aber das haut mich um. Ich habe nur die Textkomposition zu verantworten aber, obwohl es für die Bühne gedacht war, wüßte ich nie, wie man das wirklich umsetzen kann. Von der Erzählung hab ich's natürlich bewußt in eine dramatische Fassung verdichtet, präzisiert und auf die Schlußpointe hingearbeitet, aber ich konnte mir nie wirklich vorstellen, wie man das dann realisiert. Gerade diese Doppeldeutigkeit, einerseits wirklich persönlicher, existenzieller Angst, Krise, Paranoia, und andererseits, gleichzeitig mittransportiert, die Metapher des paranoiden Weltzustandes, in dem wir uns seit 9/11 befinden, wo wir eigentlich nur noch damit beschäftigt sind, mehr Sicherheit zu schaffen, aber dadurch immer unsicherer werden. Daß er das beides in dieser Personifizierung schafft, die persönliche Paranoia und die Weltparanoia als Metapher auf die Bühne zu bringen, ganz beiläufig eigentlich, ohne mit irgendwelchen Mätzchen auf das Politische hinzuweisen, das ist einfach großartig.

SB: Braucht das Stück den aktuellen Bezugspunkt des 9/11 überhaupt?

JA: Bräuchte es natürlich nicht, aber das war ursprünglich der Auslöser. Die neue Weltlage hat mich darauf gebracht, diesen Text von Kafka, den ich schon lange kenne und der mir immer als einer der stärksten und konsequentesten erschienen ist, nochmal daraufhin zu überprüfen, ob man ihn nicht benützen kann, um den Weltzustand auf eine sehr differenzierte Weise ins Bewußtsein zu rufen.

Der Autor und Partnerin im Gespräch mit dem Schattenblick - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Autor und Partnerin im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie haben sich, wie ich weiß, sehr viel und sehr intensiv mit Kafka beschäftigt. Weiß die nachfolgende Generation eigentlich noch, wer Kafka ist?

JA: Die Menschen, die zur Uni gehen, ja, auch auf dem Gymnasium. Da ist er immer noch eine feste Größe, eine Instanz, an der man nicht vorbeikommt. Kafka ist ein zeitloser Autor und "Der Bau" ein zeitloser Text, obwohl er nicht sehr bekannt ist. Die meisten kennen "Die Verwandlung" und "Das Urteil" und dann die großen Romane. Von den allerletzten Texten ist "Der Hungerkünstler" vielleicht noch eher geläufig, aber gerade "Der Bau" ist nicht sehr bekannt, das ist mir immer wieder aufgefallen.

SB: Wie viele andere ist auch dieser Text Kafkas unvollendet geblieben. Könnte man sagen, daß diese Erzählung gerade in ihrer Unvollendetheit vollendet ist?

JA: Ja, absolut. Kafka ist ein Autor an der Schwelle zur Moderne, wo das Fragmentarische geradezu zur Methode geworden ist. Weil die Welt nicht mehr als Ganzes zu fassen ist, ist sie im Roman nicht mehr zu vollenden. Alle seine drei Romane sind ja unvollendet geblieben und eben auch dieser Text. Und trotzdem halte ich ihn für vollendet, weil jeder Satz vollendet ist. Es gibt einfach kein Komma, das da falsch steht...

SB: ... und auch kein Ende, das fehlen würde?

JA: Überhaupt nicht, wobei ich schon sagen muß, daß Episches und Dramatisches sich unterscheiden. Das Dramatische verlangt meiner Meinung eine Zuspitzung auf das Ende hin, das Epische kann in sich kreisen und das Ende offen bleiben. Und deswegen habe ich zum Schluß der Erzählung eine Umstellung vorgenommen, die sehr wichtig ist. Die "Pointe" - es ist ja eine sehr feine Pointe -, daß der, der sich immer bedroht fühlt von denen, die sein Haus offenbar angreifen wollen, plötzlich doch noch auf den Gedanken kommt, daß er vielleicht selber in einem fremden Bau sein Wesen treibt, und so für andere eine Bedrohung sein könnte, diese Umkehr steht bei Kafka zwar drin, aber nicht am Ende. Solche dramaturgischen Eingriffe hab ich mir schon erlaubt.

SB: Was würden Sie sagen, wenn Sie den Inhalt des Stückes auf einen Satz bringen müßten?

JA: Ich würde es vielleicht so zusammenfassen, daß der menschliche Wunsch nach absoluter Sicherheit zu immer größerer Unsicherheit im privaten wie auch im weltpolitischen Zusammenhang führt. Das ist für mich die Quintessenz des Textes.

Foto: © malzkornfoto/Hamburg

Foto: © malzkornfoto/Hamburg

"Die Vorsicht verlangt, wie leider so oft, das Risiko des Lebens", heißt es im Stück. Während der Protagonist bei Kafka sich zunehmend in Wahnvorstellungen verliert, erscheinen die vorgestellten Bedrohungen nach 9/11 durchaus im Kalkül. Die Angst ist nicht die eigene, krankhaft generierte, sondern eine fremdnützig geschürte. Die Bedrohung geht nicht von Feinden, sondern von den Sicherern aus, ihr Ziel ist nicht Verteidigung, sondern Angriff. Worum es dabei geht, auch dafür gibt es bei Kafka eine Metapher: "Dort schlafe ich den süßen Schlaf des Friedens, des beruhigten Verlangens, des erreichten Zieles des Hausbesitzes."

Gespielt wird noch am 22.08., 23.08., 11.09., 12.09. und am 13.09.2012, jeweils um 20:00 Uhr.


Anmerkungen

[1] Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. München 2011
[2] Süddeutsche Zeitung vom 13.11.2006
[3] http://www.franzkafka.de/franzkafka/das_werk/spaete_erzaehlungen/457395


siehe auch:

INTERVIEW/011: Konstanze Ullmer zur Uraufführung von Kafkas "Der Bau" am 17.08.12 im Hamburger Sprechwerk (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0011.html

INTERVIEW/012: Joachim Bliese zu Jürg Amanns Bühnenfassung von Kafkas "Der Bau" (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0012.html

Freies Theater Sprechwerk Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Freies Theater Sprechwerk Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick


21. August 2011