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BERICHT/051: Tanzplattform Deutschland 2014 - Teure Scham auf billigem Grund (SB)


Vision radikal. Die Tanzplattform Deutschland 2014 auf Kampnagel



Gerade so laut, daß es nicht schmerzt, pulsiert der Bass-Sound langsam durch den Bühnenraum. Große rechteckige Pappstücke werden von den Händen der aufrecht stehenden Tänzer mit der Kante auf dem Boden gehalten, bis sie, durch minimale Fingerbewegungen losgelassen, nur dem eigenen Gewicht folgend nacheinander auf die Bühne sinken. Klangvibes und Pappschwerkraft, gehören sie zusammen? Nein. ... doch. Nach langer Sinnsuche und ergebnisloser Analyse von Bezügen nimmt mein Auge ein letztes Mal wahr, wie eine Pappe den Boden trifft, mein Körper hört ein Geräusch, obwohl es nicht da ist, mich streift ein Luftzug, der meine Haut nicht berührt. - Warum dieser Moment von nicht stattgefundener Gleichzeitigkeit so wirkmächtig ist? Ich kann es nur ahnen.[1]

Szenenfoto aus dem Stück 'Sider' der Forsythe Company. Die Tänzer bewegen sich mit sperrigen großen Pappstücken auf der Bühne - Foto: © 2014 by Dominik Mentzos

Esther Balfe, Dana Caspersen, Roberta Mosca und andere Tänzer der Forsythe Company in "Sider"
Foto: © 2014 by Dominik Mentzos

Die viertägige Fachmesse Tanzplattform Deutschland, die seit 1994 alle zwei Jahre in wechselnden tanzaffinen Städten der Republik stattfindet, hat auf Kampnagel vom 27. Februar bis zum 2. März 2014 ein Programm aufgefahren, das in tanzhistorischer Rekurrenz und darstellerischer Innovation wohl noch polarisierender hätte ausfallen können, wenn das Kriterium der "Tourfähigkeit" für die vierköpfige Fachjury, die die Produktionen aus ca. 200 Stücken der letzten zwei Jahre auswählte, nicht mitentscheidend gewesen wäre. Im Vordergrund habe ausdrücklich die Qualität der Stücke gestanden, versicherten die Journalistin Esther Boldt, die Intendatin des Tanzhauses NRW, Bettina Masuch, die Dramaturgin und Kuratorin Sophie Becker und Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard auf der Jurydebatte und reagierten damit auf den Einwurf einer Zuschauerin, daß einige der ausgewählten Stücke von schlechter Qualität und zu abgesichert seien, sich wohl aus Angst vor dem Risiko, zu tief zu fallen, gar nicht erst hoch hinaus wagten und in Sachen Radikalität zu wünschen übrig ließen; eine Kritik, die vereinzelt zutreffen mag. Daß jedoch vermeintliche Qualitätsseinbußen im zeitgenössischen Tanz auch einer dauerhaften finanziellen und existenziellen Notlage der beteiligten Tanzschaffenden geschuldet sind und die beängstigenden krisenhaften Wirtschaftsumbrüche auch in dieser Szene ihre Spuren hinterlassen, wie an nachdenklicheren, leiseren und vorsichtigeren Produktionen abzulesen sein könnte, sind weniger Zeichen der mangelnden kreativen Risikobereitschaft, als der entschlossenen Zähigkeit eines unter widrigsten Umständen weiterarbeitenden Künstlerprekariats.

Viele Menschen unterhalten sich im weitläufigen Foyer von Kampnagel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Spontane Fachgespräche im Foyer der Tanzplattform Deutschland 2014
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die absolut positive Bilanz, die Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard über die Besucherzahlen der diesjährigen Tanzplattform Deutschland zieht, zeigt, daß in der Tanzstadt Hamburg ein hochinteressiertes Publikum für die aktuellen Positionen dieser öffentlich kaum diskutierten künstlerischen Ausdrucksform vorhanden ist. Das akkreditierte internationale Fachpublikum belief sich auf 500 Tanzschaffende und die 7000 Plätze der 12 Produktionen des Festivals waren frühzeitig restlos ausverkauft, weil mit der Forsythe Company (Sider), Richard Siegal (Black Swan), Meg Stuart (Built to last) und Raimund Hoghe (Cantatas) international wirkende und fest im Sattel sitzende Kompanien und Choreographen zugegen waren. Aber auch die zehn "Pitchings", bei denen junge Choreographen ihre bewegungstechnischen Fragestellungen zu sozialen, philosophischen und politischen Auswüchsen unserer Gesellschaft an den Festivalvormittagen formlos vortragen konnten, waren relativ gut besucht. Besonders hier, im Sprechen der Choreographen über ihre Konzepte, zeigte sich, daß das Publikum im kunstbeleuchteten Labor des zeitgenössischen Tanzes, wenn überhaupt, nur ein kleiner Bestandteil der Ingredienzien ist, mit denen die forschenden Bewegungskünstler nichts weniger als das menschliche Dasein ergründen. Das kann schön sein, aufregend, berührend, über den Vorstellungsabend weit hinausgehend innere Türen öffnend, aber auch enervierend, irritierend und verwirrend. Wer hier mit einer Konsumhaltung antritt, mit einer Erwartung und in der Annahme, es gehe um die Unterhaltung der für die Veranstaltung zahlenden Gäste, wird es schwer haben und vielleicht, wie so mancher Besucher der radikalsten Produktionen der Tanzplattform 2014, den Saal verlassen.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters hält ihre Eröffnungsrede auf Kampnagel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) plädiert für "vernünftige Visionen"
Foto: © 2014 by Schattenblick

Das Verhältnis einer bestimmten Summe Geldes zu einer bestimmten Arbeit oder Dienstleistung schmiegt sich, so es überhaupt hinterfragt wird, in nur vermeintlich logische Zusammenhänge, die zeitgenössischen Künstlern einen finanziellen Rechtfertigungszwang aufoktroyieren, der die Auseinandersetzung mit dem unleidlichen, ja geradezu langweiligen Thema der Finanzierung künstlerischer Arbeit durch Fördermittel, sei es aus der Perspektive der Kunstschaffenden oder der der Produktionshäuser, nach wie vor unumgänglich macht. Wenn Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrer Eröffnungsrede Friedrich Dürrenmatt mit den Worten "Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre" zitiert, für "vernünftige Visionen" plädiert und mit deutlichem Bezug auf die finanzielle Unterstützung aus dem Kulturfonds die Tanzplattform auf Kampnagel als "ein großartiges Laboratorium" für "Visionen" bezeichnet, "die sich auch umsetzen lassen", zeigt sich das zweifelhafte Geschick einer Politikerin, die im Kern widersprüchlichen Komponenten "Vision" und "Vernunft" zur wohlwollenden Metapher für kulturpolitische Fortschrittlichkeit zu verbrämen. Ob die zur Schau getragene Parteinahme für den zeitgenössischen Tanz, dessen Förderung 2014 zum ersten Mal in der Geschichte in den Koalitionsvertrag einer Bundesregierung aufgenommen wurde, als "visionäres" Zugeständnis der Kulturpolitik an eine künstlerische Subkultur zu verstehen ist, oder eher eine integrative Forderung an die Tanzschaffenden beinhaltet, in anstehenden Verhandlungen über Fördermittel zu ihrer finanziellen Absicherung doch "vernünftig" zu sein, bleibt fraglich.

Daß die damit einhergehende Politik aus künstlerischer Perspektive durchaus auch als negative Reglementierung empfunden wird, zeigt das Beispiel des Choreographen Xavier Le Roy:

Anstatt das beantragte und genehmigte Fördergeld für ein nächstes geplantes Projekt auszugeben, wie es die kommunalen Förderrichtlinien vorschreiben, finanzierte Le Roy das anvisierte Projekt selber und gab das genehmigte Geld, auch um dem ästhetisch längst gebildeten Erwartungsschema an seine Kunst zu entgehen, für ein weiteres - nicht genehmigtes - Projekt aus.[2]
Ein Mensch in weißer Fellkluft schält sich zwischen anderen Zuhörern sitzend einen Apfel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zum Panel "Dance of the Future" kam ein Fellwesen und schälte sich in aller Ruhe einen Apfel
Foto: © 2014 by Schattenblick

Bei der "Jurydebatte" im Rahmen der Tanzplattform, die keine Debatte im klassischen Sinne einer Für-und-wider-Argumentation war, sondern eher einer erläuternden Darstellung der Auswahlkriterien glich, die der Entscheidungsfindung der Jury zugrunde lagen, machte Amelie Deuflhard ihre Zukunftsvision deutlich. So habe die Jury der Tanzplattform nicht nur junge und aktuelle Positionen eingeladen, die neue Trends präsentierten und mit Spannung die Arbeit von Künstlern beobachtet, die in die bildende Kunst abwanderten und mit innovativen medialen und interdisziplinären Ansätzen in den zeitgenössischen Tanz zurückkehrten, sondern auch Choreographen in das Programm geholt, die seit über 30 Jahren Stücke produzieren und mittlerweile unter besseren und stabileren finanziellen Bedingungen arbeiten, auch wenn ihre Arbeitsstrukturen, wie im Falle der Forsythe Companie oder VA Wölfl, immer wieder überdacht würden. Daß die Kompanien diese Chance auch nutzen, würde in der hohen Qualität ihrer Produktionen deutlich, denn sie könnten endlich in einem langsameren Tempo, aber dafür präziser, der eigenen Entwicklung und Stringenz folgen. Diese die Künstler wirklich unterstützenden mehrjährigen Förderprogramme gelte es zukünftig auszubauen.

Vernunft ist des zeitgenössischen Tanzes Sache nie gewesen, Visionen formen sich nicht nach Rahmenbedingungen, sondern umgekehrt. Wie der moderne Tanz den "Paradigmenwechsel", den Monika Grütters in dem von der neuen Koalition geplanten "zeitgemäß, nachhaltig wirkenden Förderprogramm" für freie Theaterleute verortet, künstlerisch kommentieren wird, wie sich die Szene zu sich verändernden politischen Sachzwängen positioniert und ob die wirtschaftliche Einflussnahme an der künstlerischen Radikalität scheitern wird - oder diese an ihr - wird sich zeigen.

Fabrikhalle von Kampnagel mit Plakat der Tanzplattform 2014 - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Anmerkungen:

[1] Impressionen aus dem Stück "Sider" (Uraufführung 2011) der Forsythe Company am 27. Februar 2014 im Rahmen der Eröffnung der Tanzplattform Deutschland 2014

[2] Sabine Huschka: Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien. Hamburg 2002.


Ein ausführliches Interview mit der Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard finden Sie in der Tagesausgabe des Schattenblick vom 19. März 2014 unter:
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www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0015.html


17. März 2014