Projeto Brasil - Tropicalypse Now!
Michelle Moura: FOLE
am 09.06.2016 auf Kampnagel in Hamburg
FOLE - eine Kernfrage.
Etwas stur mutet sie an, unverständlich, kalt und fremd. Die Forschung
ist nicht da zum Wohlfühlen, auch nicht zum Kuscheln oder gar zum
Vergessen. Mit selbstverständlichem Gleichmut begibt sich Michelle
Moura in die sofort schwierige Lage, genau die ihre mit einem Publikum
zu kommunizieren.
Die Bühne ist ein weißes Quadrat, das Licht sehr hell im ganzen Raum.
Dort beginnt ihr Prozess, ganz von vorne, gleich wie in jedem anderen
Labor. FOLE: wörtlich übersetzt bedeutet es in etwa Blasebalg. Und so
arbeitet die brasilianische Choreografin in ihrem Solo in dem Bogen
zwischen An- und Entspannung, aufbäumen und Zusammenfall. Dies ist
erst einmal auch eine Praxis, auf welche sich im Tanz ganze Techniken
begründen. Doch dann kommt die Frage, der sie folgt: Was bewegt den
Körper? An diesem Punkt wird die Forschung zum Drang und straft jede
Behauptung Lügen, sie sei kalt, trocken oder gar ermüdend.
Foto: © 2016 by Cristiano Prim
Im Raum baut Moura eine Präsenz der Kontinuität auf. Nie im Stillstand
bewegen sich ihr Körper, ihre Stimme und ihr ganzes Sein fortwährend
voran, immer zwischen beiden Enden eines Blasebalgs. Mit langen,
schwarzen Streifen bemalt ist ihr Körper. Das unterstreicht nur den
Eindruck, den man bekommt, während sie sich beinahe in Ekstase zu
tanzen scheint, daß ihre Fragen sich nicht rein aus der Bewegung
speisen. Sie erforscht alte brasilianische Rituale und Zeremonien,
spirituelle Weltansichten und Therapien. Nur leicht und an einigen
Stellen wird ihr Tanz und die Intention von Licht und Tönen
unterstützt, die nicht aus Moura selbst entspringen. Es entsteht so
ein vierzig minütiges Solo, das den Zuschauer mitnimmt auf eine Reise
der Kontinuität, der Ekstasen und Zusammenbrüche und während dem sich
in mir die Frage entspann, ob es genau das Moment ist, aus dem wir
gerade kommen, welches unseren Körper im nächsten Schritt
bewegt.
Das Publikum indes hat gekämpft. Während zu meiner rechten nicht
selten der Blick auf die Uhr fiel, wurde zu meiner linken getuschelt
und gekichert. Eine Gruppe verließ den Raum.
Forschung - oft lächerlich anmutend, pedantisch, etwas verschroben und
bestimmt nicht bekömmlich zu verdauen - hat sich doch auch nie, auch
wenn öffentlich präsentiert, zur Volksunterhaltung gemeldet. Was sie
tut, und das hat sie mit Moura gemein, ist, den Antworten weitere
Fragen zu liefern und sich so auf den Weg zu begeben, der fern ist von
seichter Unterhaltung und zugänglichem Spaß, dem zu begegnen, was
wirklich neu ist und brennt.
12. Juni 2016
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang