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BERICHT/079: Eine neue Era - Tiefgang im Seichten ... (SB)


Eine neue Era
von Lisa Shari Böttcher

Uraufführung am 17.02.2017 im Hamburger Sprechwerk


Die Entscheidung, einen Großteil seines Lebens damit zu verbringen, sich mehr oder weniger treiben zu lassen, Alles und Nichts zu tun, fällt selten bewusst. Irgendwann entwickelt man Routinen und Abläufe die so gemütlich sind, dass man sich mit dem versteckten Stillstand abfindet. Dass man dabei gleichzeitig die größten Bemühungen anstellen muss, um niemals Verantwortung für etwas zu übernehmen, kann als Herausforderung sogar recht reizvoll sein. Dieses Lebensmuster kann ganz verschiedene Formen annehmen, von denen einige in unserer modernen Gesellschaft als mehr oder weniger erstrebenswert gelten. Einerseits könnte es der Akademiker und Karrieremensch sein, der während seiner gesamten wirtschaftlichen Halbwertszeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Wohnort wechselt, um sich ständig alle Optionen offen zu halten. Vielleicht ist es aber auch der wenig ambitionierte Mitvierziger, der seit über 20 Jahren seine Bestimmung in routinierten Partys mit anschließendem sonntäglichen Ausnüchtern sucht und am liebsten zwischen Bett und Jogginghose alterniert. Die Form, in der die Vermeidung von Verantwortung ausgelebt wird, ist grundverschieden, doch die Angst, sich für irgendetwas zu entscheiden und anschließend enttäuscht zu werden vereint beide Pole.


"Hilfe! Ich werde vom Schicksal verfolgt!"

Eine gelungene Interpretation dieser modernen Archetypen ist zur Zeit im Hamburger Sprechwerk zu sehen. Dort wird die Komödie "Eine neue Era" aufgeführt, in der die Autorin und Darstellerin Lisa Shari Böttcher unter der Regie von Ulrich Bähnk eine scharfsinnige Charakterstudie über den Konflikt zwischen vermeintlichem Schicksal und Selbstbestimmung präsentiert. Schauplatz der Inszenierung ist das Wohnzimmer einer Wohngemeinschaft (WG), in der drei junge Frauen zwar zusammen, doch auch vollkommen aneinander vorbei leben. Die WG ist für die Bewohnerinnen die räumliche Basis für eine ewige Übergangssituation, in der sich niemand mit der eigenen Einsamkeit konfrontieren muss, da oberflächlich betrachtet immer jemand da ist. Es möchte jedoch auch keine der drei Frauen auch nur die kleinste Verantwortung für die beiden anderen übernehmen. Im Kern können sich Aurora, Cosma und Era nicht einmal leiden und reagieren unmittelbar gereizt auf die Gedanken und Probleme der anderen. Die Wohngemeinschaft wird hier zu einem ambivalenten Lebensraum, in dem die Kommunikationsstrukturen der Charaktere lückenlos aneinander vorbeilaufen. Der Konsens der Verständigung beschränkt sich zumeist auf die Frage "Haben wir eigentlich noch Wein?".


Zwei Darstellerinnen am Wohnzimmertisch im Gespräch, ohne sich anzusehen - Foto: © 2017 by Tobias F. Habura

Foto: © 2017 by Tobias F. Habura


"In der Vergangenheit entstandene Wunden können nicht verstanden werden!"

Dabei sind Egozentrik und ein selbstgerechtes Weltbild zentrale Werkzeuge für die Alltagsbewältigung der drei Frauen. Insbesondere die von Isabelle Prchlik verkörperte Aurora verbringt den Großteil ihrer Freizeit damit zu leiden. Dieses unendliche Leiden, dessen Ursprung zu erklären sich nicht lohnt, da es ohnehin niemand verstehen könnte, wird bei jeder Gelegenheit zum exklusiven Gesprächsthema erhoben. Es steht jedoch außerhalb jeden Zweifels, dass weder ihre Mitbewohnerinnen noch das Universum selbst jemals das Ausmaß des Elends begreifen könnten, das Aurora ertragen muss. Das Zerfließen im eigenen Elend und das Zelebrieren von Selbstmitleid stellt sich für die drei Frauen als risikoarme Strategie dar, um jede Konfrontation mit dem Leben zu vermeiden. Das Stück kreist um die zentrale Frage, warum man überhaupt etwas anfangen sollte, wenn am Ende sowieso immer alles schlimm wird. Warum sollte man nicht lieber Alles vermeiden, statt das Risiko einzugehen, enttäuscht zu werden? Von sich selbst, von Anderen, vom Leben oder vom Schicksal?


"Wenn da wirklich Einer ist, der über alles rüber guckt, warum verrechnet sich das Schicksal dann bei jeder Kuchenverteilung?!"

In dieser Inszenierung gelingt es, eine schwerwiegende Frage erstaunlich leichtgängig und kurzweilig zu verhandeln: Schicksal, Tod und freier Wille sind in metaphysischen Firmen organisiert, komplett mit Bereichsleitern, Verwaltungen und Callcentern. Doch die Zeiten für das Schicksal sind schlecht, die Zahlen stimmen nicht, denn niemand glaubt mehr an das Schicksal. Es muss Personal gekürzt werden. Um einer Versetzung in den Mailing-Room der Firma zu entgehen, beschließt das angestellte Unter-Schicksal "Müller", sich Hilfe zu suchen und die eigene Bilanz zu verbessern. Er meint, sich erinnern zu können, dass Cosma einer der letzten Menschen ist, die noch an das Schicksal glauben und so stürzt er eines Tages in das Wohnzimmer der WG und versucht, seine Situation zu erklären. Die schockierten Frauen fragen sich: Gibt es überhaupt das Schicksal? Und falls ja - steht es gerade wirklich in meinem Wohnzimmer? Nachdem es zunächst so scheint, als ob das Schicksal in der WG ebenso festsitzt, wie die drei Mitbewohnerinnen, entwickeln sie zusammen einen erstaunlich patenten Plan, um das Unter-Schicksal zurück in seine Firma zu befördern: Eine große Schleuder muss gebaut werden, mit der Müller vom Balkon zurück in seine Dimension geschossen wird. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Schicksal und den eigenen Verhaltensmustern schaffen es die Charaktere schließlich, sich auch aus ihrem eigenen Stillstand zu befreien und den Mut zu fassen, ein neues Kapitel im eigenen Leben aufzuschlagen.

Man mag befürchten, dass diese absurde Handlung zu einer albernen Inszenierung führen muss. Die Autorin schafft jedoch die Gratwanderung, heiteren Klamauk mit gut beobachteter Gesellschaftskritik zu vereinen, ohne dabei ins Lächerliche abzurutschen. Lisa Shari Böttcher hat in "Eine neue Era" eine treffende Beobachtung von Verhaltens- und Vermeidungsmustern umgesetzt, in der man viele Elemente des eigenen Umfeldes wiederfinden kann, ohne sich dabei vor den Kopf gestoßen zu fühlen. Dass der eingesetzte Slapstick punktuell ein wenig platt ist, sei angesichts der hervorragend geschriebenen Dialoge und der sehr guten Umsetzung durch die Schauspielerinnen und Schauspieler verziehen. Das Stück versucht an keiner Stelle, einen Lacher zu erzwingen und hält sich mit plakativen Pointen elegant zurück. Selbst der unausweichliche Treppenwitz, dass das Schicksal am Ende sein eigenes Schicksal in die Hand nimmt, wurde im letzten Akt überraschend kreativ umgesetzt. "Eine neue Era" ist das, was man sich von einer Komödie erhofft: leichtgängige Unterhaltung mit einem pointierten Denkanstoß.

Weitere Aufführungen gibt es am 17.03. und 18.03.2017 jeweils um 20:00 Uhr.

21. Februar 2017


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