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TIERHALTUNG/559: Das Auricher Modell der Hennenhaltung (PROVIEH)


PROVIEH Ausgabe 01/2012
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Märchenhafter Aufstieg - Das Auricher Modell der Hennenhaltung

von Stefan Johnigk



"Es war einmal ..." So fangen viele Märchen an. Mit diesen Eingangsworten stellt sich die ostfriesische Erzeugergemeinschaft AURICHER EIER im Internet vor und ist sichtlich stolz auf das bisher Erreichte. Am Anfang der märchenhaften Erfolgsgeschichte stand nicht etwa ein Bauer, sondern ein Bäckermeister - Ubbo Lorenz aus Victorbur (Kreis Aurich), Herr über mehrere Filialen in der Region. Vor zwanzig Jahren wollte er Schluss machen mit der Verwendung von Eiern aus qualvoller Batteriehaltung von Legehennen. Seit er diese Haltungsform kennengelernt hatte, waren ihm die daraus stammenden Eier ethisch nicht mehr zumutbar. Er wollte nur noch mit Eiern aus vorbildlicher Freilandhaltung arbeiten. Er suchte Bauern seiner Region auf, erläuterte ihnen seinen Plan, nannte die Zahl der Eier, die er wöchentlich braucht, und forderte sie auf, den Preisunterschied der gewünschten gegenüber den konventionell erzeugten Eiern durchzukalkulieren. Mit dem errechneten Ergebnis waren die befragten Bauern und Bäckermeister Lorenz zufrieden.

Den Reden folgten Taten. Im Mai 1994 begannen die ersten vier Bauern, Legehennen nach der gemeinsamen Vereinbarung für ein artgemäßes "Arbeitsleben" einzustallen.1996 nahmen schon acht Bauern am Projekt teil. Sie gründeten die "Erzeugergemeinschaft Auricher Eier", der heute zwanzig Betriebe angehören und die Mitglied im Verein für kontrollierte alternative Tierhaltungsformen e.V. (KAT) ist. Die Eier der glücklichen Legehennen werden schon längst von vielen Kunden gekauft, nicht nur von den vierzig Filialen der Wikinger-Bäckerei, deren Chef heute Martin Lorenz heißt. Er ist der Sohn des 2002 verstorbenen Bäckermeisters Ubbo Lorenz und führt aus Überzeugung fort, was sein Vater begonnen hatte.


Das Auricher Modell

Die selbst auferlegten Richtlinien der Auricher Erzeugergemeinschaft sind sehr streng. Zu ihnen gehören: höchstens 1.000 Hennen pro Stalleinheit, höchstens sechs Hennen pro Quadratmeter im Stall, Einfall von Tageslicht durchs Fenster, mindestens zehn Quadratmeter Fläche pro Henne draußen im Auslauf, Futter vorwiegend aus heimischem Getreide ohne Zusatz von Antibiotika, Leistungsförderern oder synthetischen Farbstoffen für das Eidotter, vierteljährliche Prüfung auf eventuelle Salmonellen, regelmäßige Prüfungen auf eventuelle Parasiten und - ganz wichtig - Freilandhaltung der Hennen schon in deren Aufzuchtphase. Der letztgenannte Gesichtspunkt ist wichtig, weil anders gehaltene Junghennen für die Freilandhaltung wegen der Umstellungsprobleme schlecht geeignet sind.

Zum Konzept gehört von Anfang an auch, dass zu jeder Hennenherde Hähne kommen. Zu den Vorteilen gehört: Bevor sich eine Damenschar ins Freie traut, läuft erst ihr Hahn vor, sichert die Lage und ruft dann seine Damen zu sich. So wird die Freilauffläche bis in den letzten Winkel genutzt, und die Herde verteilt sich so gut, dass kaum Stress und Streit aufkommen. Davon konnte sich PROVIEH durch eigene Beobachtung überzeugen. Zu bedenken ist lediglich, dass einer Hennenherde nicht zu wenige Hähne beigegeben werden, denn andernfalls können die Hennen zickig werden und schnell auf ihren überforderten Anführern herumhacken. Darüber waren sich Tierschützer und Bauern einig.

Doch einen dunklen Fleck gab es im Auricher Modell noch bis 2011, als PROVIEH seine Kampagne zur Beendigung des Schnabelkürzens startete (siehe Heft 2 und 3/2011). Bauer Georg Posselt, der Leiter der Erzeugergemeinschaft, gehörte zu den ersten, die sich auf unsere Herausforderung meldeten. Trotz der sonst so vorbildlichen Hennenhaltung hatten die Betriebe der Erzeugergemeinschaft von der Aufzuchtstation wie selbstverständlich Junghennen bezogen, denen als Küken der sensible Schnabel verstümmelt worden war. Das ist so üblich in der Branche, denn eine Ausnahme im Tierschutzgesetz ist klammheimlich zur Regel gemacht geworden. Die schmerzhafte Amputation der Schnabelspitze hat Folgen für das ganze Leben: Die Hennen haben Schwierigkeiten beim Aufpicken von Nahrung und können ihr Gefieder nicht mehr ordentlich pflegen. Bei den Hennen des Auricher Modells haben sich Federpicken und Kannibalismus sowieso nicht als Problem erwiesen, so dass die Amputation völlig überflüssig ist.

Die aufrechten Bauern der Erzeugergemeinschaft sannen auf Abhilfe, wandten sich an ihren Junghennen-Aufzüchter und trugen ihm ihr Anliegen vor. Der Aufzüchter erklärte, die Mehrzahl seiner Kunden wünsche Junghennen mit kupiertem Schnabel, aber auf die Wünsche der Erzeugergemeinschaft wolle er sich gerne einlassen, auch wenn er deren Junghennen von Anfang an so halten müsse, wie sie später in den Ställen der Erzeugergemeinschaft leben sollen. Denn allen Beteiligten war klar, dass schon in der Aufzuchtstation der Grundstock gelegt wird, ob Hennen einer Herde friedlich bleiben oder Verhaltensstörungen entwickeln.

Das Konzept ging auf. Schon im Herbst 2011 konnte PROVIEH bei einem Besuch erleben, wie die Hennen mit ihrem unversehrten Schnabel lustvoll im Stroh nach Körnern suchten. Auf sechs Betrieben wurden die Herden unterschiedlichen Alters begutachtet - die Hennen hatten ein tadelloses Federkleid und wiesen keine Anzeichen eines gestörten Verhaltens auf.

Die märchenhafte Erfolgsgeschichte der Auricher Erzeugergemeinschaft könnte an dieser Stelle beendet werden, gäbe es nicht noch ein bemerkenswertes weiteres Ereignis.


Der Bauer, der Brand und die Bürger

Eines Nachts brach auf dem Betrieb von Bauer Albert Gronewold, auch Mitglied der Erzeugergemeinschaft, Feuer aus und bedrohte Mensch und Vieh. Doch mit vereinten Kräften gelang der Bauernfamilie und ihren Freunden ein kleines Wunder: Das Feuer vernichtete wohl die Ställe, aber die Tiere konnten bis auf ganz wenige unglückliche Hennen aus dem Inferno gerettet werden. Das wäre in einer Agrarfabrik nicht möglich gewesen.

Als die Bauernfamilie noch vor den rauchenden Trümmern ihres Hofs stand, beschloss sie unbeirrt: Ein neuer Stall muss her, und der sollte schöner und größer werden als der alte. Doch was würden die Nachbarn dazu sagen? Immerhin formierten sich überall in Deutschland die Bürgerinitiativen, die gegen den Bau neuer Tierställe kämpfen. Auch in der Nachbarschaft begehrten Menschen gegen den Bau eines Hähnchenstalls auf, in dem ein Landwirt als Lohnunternehmer für einen Hühnerbaron 40.000 Turbobroiler pro Durchgang mästen wollte. Und was geschah? Der Bau der Hähnchenfabrik wurde abgelehnt, doch der Wiederaufbau des bäuerlichen Betriebs mit seiner artgemäßen Tierhaltung fand uneingeschränkte Zustimmung. Schon wenige Monate nach dem vernichtenden Feuer konnten die ersten 1.000 Legehennen mit ihren Hähnen in ihren topmodernen Freilandstall einziehen, alle mit unversehrten Schnäbeln, wie es sich alle Hühner wünschen. Auch für PROVIEH ist es wie im Märchen ...

Und als die Bürgerinitiative Norden, die sich gegen den Neubau industrieller Hühnermastanlagen wehrt, gemeinsam mit der Regionalgruppe PROVIEH und der AOK zu einem vegetarischen Kochkurs einluden (siehe Bericht in diesem Heft), kam Bauer Gronewold als Referent hinzu. Einen "Veggie-Day" pro Woche empfinde er nicht als Angriff auf seine Berufsehre, sondern er würdige es, wenn Menschen aus Respekt für die Nutztiere einen Wochentag lang auf rein pflanzliche Kost umstellen. Denn wenn wir weniger tierische Produkte konsumierten und wenn uns bessere Tierhaltung einen fairen Preis wert sei, dann nutze das doch uns allen.

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Quelle:
PROVIEH Ausgabe 01/2012, Seite 6-9
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2012