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TRANSPORT/103: Risikobewertung zum Tierschutz beim Transport (FR)


ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz 2/2009
Die Zeitschrift des Senats der Bundesforschungsanstalten

Risikobewertung zum Tierschutz beim Transport
EFSA-Projekt soll zu einem Leitfaden führen

Von Michael Marahrens, Nina Kleinschmidt und Anne Truar (Celle)


Die Rolle des Tierschutzes ändert sich in Europa vom Tierschutz im engeren Sinne (Schutz von Tieren gegen Missbrauch und Überforderung, "Animal Protection") zum Tierschutz als Fürsorge ("Animal Welfare"). Die Bestrebungen, europaweite Standards zu etablieren und das weitgehende Fehlen von wissensbasierten Parametern, mit denen das Wohlbefinden der Tiere erfasst und eingeordnet werden kann, ist der Hintergrund für ein europäisches Projekt zur Risikobewertung beim Tiertransport.


Für tierhaltende Landwirte ist die Fürsorge schon immer Teil des tradierten Umganges mit ihren Tieren gewesen, solange der Produktionserfolg nicht beeinträchtigt wurde - nun stellt jedoch die Gesellschaft wissensbasierte Anforderungen, die in Gesetzestexte einfließen. Die Europäische Union hat diese Entwicklung bereits 1999 im Vertrag von Amsterdam berücksichtigt, indem den Belangen der Tiere als fühlenden Wesen in jedem Rechtsetzungsverfahren Rechnung getragen werden soll. Im mittlerweile von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Vertrag von Lissabon wird diese Haltung bekräftigt. Dies führt zwangsläufig dazu, dass rechtliche Anforderungen des Tierschutzes zunehmend auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden. Zudem verlangt der Binnenmarkt eine weitgehende Harmonisierung der Tierschutzanforderungen für die Erzeugung von Lebensmitteln tierischen Ursprunges, damit eine Wettbewerbsverzerrung durch die Kosten unterschiedlicher Tierschutzstandards in den Mitgliedstaaten vermieden wird.

Gleichzeitig wird durch die EU im Aktionsplan von 2006 festgelegt, dass die "minimalen Standards" für Tierschutz angehoben und eine entsprechende politikorientierte Forschung unterstützt werden soll. Eine zentrale Rolle spielt hier die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die die EU-Kommission auf allen Feldern der Lebensmittelsicherheit berät und europäische Referenzbehörde für die Risikobewertung im Bereich Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Tiergesundheit und Tierschutz ist.


Standardisierte Risikobewertung fehlt

Eine spezifische und standardisierte Methode zur Risikobewertung im Bereich Tierschutz existiert bislang nicht. Die EFSA versucht deshalb, Richtlinien für die Risikobewertung im Bereich Tiergesundheit und Tierschutz aufzustellen. Dabei sollen alle potenziellen Gefährdungen (Risikofaktoren) für die Tiergesundheit oder das Wohlbefinden der Tiere identifiziert und hinsichtlich des Schweregrades und der Expositionswahrscheinlichkeit bewertet werden. Ein großes Problem stellt dabei die Heterogenität der jeweils betroffenen Tiergruppen dar, da die negativen Auswirkungen des einzelnen Risikofaktors je nach Alter, Geschlecht, Genetik, Haltungs- oder Produktionssystem, Produktionsintensität usw. sehr unterschiedlich ausfallen können.


Risikobewertung für den Tierschutz beim Transport von Tieren

Unter Koordination des Istituto Zooprofilattico Sperimentale dell'Abruzzo e del Molise "G. Caporale", Teramo, Italien, bewarben sich das Centre de Recerca en Sanitat Animal, Barcelona, Spanien, und das Institut für Tierschutz und Tierhaltung des Friedrich-Loeffler-Institutes (FLI) um das von der EFSA im August 2008 ausgeschriebene "Projekt zur Entwicklung eines Leitfadens für die Risikobewertung beim Tiertransport". Das Projekt startete im September 2008 und wird im November 2009 abgeschlossen.

Das Ziel der Risikobewertung ist, objektiv Gefährdungen für das Wohlergehen der Tiere während des Transportes qualitativ und quantitativ zu beurteilen. Mit den Ergebnissen dieser Beurteilung können bei einer entsprechenden Gewichtung der potenziell auftretenden Gefährdungen "Kontrollpunkte" abgeleitet werden. Die Schwierigkeit besteht darin, Standards von Wohlergehen und Wohlbefinden der Tiere objektiv zu beschreiben und festzulegen, denn klare Grenzwerte sind hier nur schwer zu bestimmen. Daher haben wir im aktuellen EFSA-Projekt die vorab im EU-Projekt Welfare Quality® entwickelten Kriterien für das Wohlergehen der Tiere zugrunde gelegt; sie stellen die Bezugsgröße für die beschriebenen Gefahren dar (Tab. 1).

Die Tiertransporte in Europa finden unter sehr unterschiedlichen organisatorischen, technischen und klimatischen Bedingungen statt. Da der enormen Vielfalt der europäischen Transportbedingungen in einem einzelnen Projekt nicht Rechnung getragen werden kann, hat die Arbeitsgruppe beispielhafte Szenarien für bestimmte Tierarten, verschiedene Transportarten (Straße/Luft/See), verschiedene Transportdauern (lang/kurz) und für verschiedene klimatische Bedingungen ausgewählt. Die Risikobewertung erfolgt schrittweise in vier Teilbereichen:

1. Gefahrenidentifikation
2. Gefahrencharakterisierung
3. Expositionsbeurteilung
4. Risikoabschätzung


1. Gefahrenidentifikation

In einer Risikobewertung sollen alle Faktoren objektiv beurteilt werden, die das Wohlergehen der Tiere während des Transportes beeinträchtigen können. Diese Faktoren werden als mögliche "Gefahr" (Hazard) beschrieben. Eine Gefahr ist jeder äußere Faktor, der das Wohlbefinden der Tiere beeinträchtigt. In einem ersten Schritt listete die Arbeitgruppe die möglichen Gefahren für das Wohlergehen der Tiere beim Transport auf.

Um eine Beurteilung der Gefahren vornehmen zu können, werden diese explizit in der Gefahrenidentifikation beschrieben. Ein Beispiel für die Identifikation und Beschreibung jeweils zweier Gefahren aus Technik und Management im Szenario "Langer Straßentransport (> 8 Stunden) tragender Zuchtfärsen unter Klimabedingungen oberhalb der thermoneutralen Zone der Tiere" ist in Tabelle 2 gegeben. Mögliche Gefahren entstehen sowohl durch die Ausstattung der Fahrzeuge als auch durch das Management bzw. durch den Umgang mit dem Tier. Der mögliche negative Effekt am Tier wird anhand der zwölf Welfare Quality®-Tierschutzkriterien (vgl. Tab. 1) kategorisiert. Dabei können einzelne Gefahren mehreren Tierschutzkriterien zugeordnet werden, z. B. die fehlende Tränke zum Kriterium "Abwesenheit andauernden Durstes" und zum Kriterium "Thermischer Komfort".


2. Gefahrencharakterisierung

Oftmals fehlen für eine Gefahrencharakterisierung die entsprechenden Schwellenwerte. Das heißt, es ist nicht klar, ab wann eine Gefährdung einen negativen Effekt auf das Wohlbefinden der Tiere ausübt. Da die Datenlage in wissenschaftlichen Publikationen häufig dürftig ist, wird für die Gefahrencharakterisierung auf ein Expertenkonsortium zurückgegriffen, das den Schweregrad und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines negativen Effektes beim Tier einschätzt (vgl. Tab. 3). Die Stärke bzw. das Ausmaß des negativen Effektes auf das Tier wird sowohl durch den Schweregrad (Skala 1=begrenzt bis 4=kritisch) als auch durch dessen Zeitdauer (Zeitkategorien 1 bis 5) ausgedrückt. Die Unsicherheiten bei der Einschätzung von Stärke und Wahrscheinlichkeit negativer Effekte sind zum Beispiel hoch, wenn nur wenige oder keine Angaben in wissenschaftlichen Publikationen vorliegen und die Autoren der Risikobewertung zu eigenen Einschätzungen kommen. Deshalb ist es in der Risikobewertung üblich, den Grad der Unsicherheit in die Kategorien "hoch", "mittel" oder "niedrig" einzuteilen, wobei im Tierschutz durch die geringe Anzahl belastbarer wissenschaftlicher Daten die Unsicherheit nahezu immer mit hoch beurteilt werden muss. In der Gefahrencharakterisierung erfolgt auch eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines negativen Effektes, wenn das Einzeltier dieser beschriebenen Gefahr, zum Beispiel eine zu schmale Rampe, ausgesetzt wird.


3. Expositionsbeurteilung

Mit der Expositionsbeurteilung wird eine quantitative Aussage getroffen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Gefahr bei Transporten der betreffenden Population im jeweiligen Szenario in Europa ist (Tab. 4). Diese Einschätzung wird in Form einer Verteilungsfunktion vorgenommen. Durch die mangelhafte Datenlage im Tierschutz wird die Expositionsbeurteilung von einer Expertengruppe vorgenommen und deshalb meist in Kategorie "hohe Unsicherheit" eingeordnet.


4. Risikoabschätzung

Das Ziel der Risikobewertung ist eine "objektive Rangfolge" der identifizierten Gefahren, so dass mögliche Kontrollpunkte für eine Überwachung der Tiertransporte abgeleitet werden können. Dafür werden die erhobenen Werte der Gefahrenbeschreibung und der Expositionsbeurteilung in Beziehung gesetzt.

Der zentrale Wert der Risikobewertung ist das "geschätzte Risiko" ("Risiko" in Tabelle 5), das sowohl die Stärke bzw. das Ausmaß des einzelnen negativen Effekts (als Funktion von Schweregrad und Zeitdauer) als auch die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens beschreibt. Letztere wiederum ergibt sich aus der Einschätzung, mit welcher Wahrscheinlichkeit der negative Effekt beim Einzeltier eintritt (Gefahrencharakterisierung) und wie hoch die Wahrscheinlichkeit der Exposition der Population im jeweiligen Szenario ist.

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Der Schweregrad des Risikos ("Stärke" in Tabelle 5) stellt den zweiten wichtigen Wert der Risikoabschätzung dar, da auch eine Gefahr mit einem schwerwiegenden Effekt trotz einer geringen Auftretenswahrscheinlichkeit eine große Bedeutung für das einzelne Tier hat. Mit Hilfe des geschätzten Risikos kann somit eine Rangfolge der identifizierten Gefahren erstellt werden, so dass die Gefahren mit dem höchsten Risiko besonders berücksichtigt werden können. Gleichzeitig können die Gefahren aber auch nach dem Schweregrad der negativen Effekte (Verletzungen oder schwerwiegende Störungen der Thermoregulation) sortiert werden, so dass im Einzelfall spezielle Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergriffen werden können.


Grenzen der Risikobewertung beim Tiertransport

Durch die Entwicklung eines Konzeptes der Risikobewertung im Tiertransport wird es möglich, potenzielle Gefahren für das Wohlbefinden von Tieren anhand tierbasierter Indikatoren abschätzen und gewichten zu können. Ein Problem bleibt jedoch die geringe Dichte wissenschaftlicher Untersuchungen im Bereich des Tierschutzes beim Transport. Die Objektivität dieses Bewertungssystems ist damit eingeschränkt, so dass sich der Anwendungsbereich hauptsächlich auf dezentrale Bereiche beziehen dürfte, zum Beispiel in der (eigenbetrieblichen) Qualitätskontrolle.

Aus Sicht des Tierschutzes ist jedoch ein anderes Problem weitaus gravierender. Das vorgestellte Konzept der Risikobewertung weist eine große Linearität der Gefahren und der möglichen Auswirkungen auf das Tierbefinden auf. Wechselwirkungen, wie sie gerade im Tiertransport auftreten, können mit dieser Methode nicht erfasst und bewertet werden. Der Wasserbedarf des Tieres zum Beispiel steigt mit den Temperaturen, aber auch mit der physischen Belastung durch die Bewegungen des Fahrzeugs. Eine hohe Ladedichte erschwert die Thermoregulation, aber auch die Erreichbarkeit der Tränken. Zudem steigt mit der Ladedichte die Wärmeproduktion im Fahrzeug. Dieses Beispiel der kumulativen Wechselwirkungen zeigt die Grenzen der hier vorgestellten Risikobewertung beim Tiertransport deutlich auf.


FLI
Dr. Michael Marahrens, Nina Kleinschmidt und Anne Truar
Friedrich-Loeffler-Institut,
Institut für Tierschutz und Tierhaltung,
Dörnbergstr. 25/27, 29223 Celle.
E-mail: michael.marahrens@fli.bund.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 27:
Bei Transporten über längere Distanzen (hier: Rindertransport in der Ukraine) unterliegen die Tiere häufig einem Klimawechsel.

Abb. S. 28:
Ausstattung eines Versuchsfahrzeuges für den langen Transport von Rindern mit Messsensoren. (Abbildung aus dem Verbundprojekt FLI/TiHo-Hannover zum Mikroklima beim Tiertransport)


Diesen Artikel inclusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.forschungsreport.de


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Quelle:
ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz
2/2009, Seite 26 - 29
Herausgeber:
Senat der Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Redaktion: Dr. Michael Welling
Geschäftsstelle des Senats der Bundesforschungsinstitute
c/o Johann Heinrich von Thünen-Institut
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig
Tel.: 0531/596-1016, Fax: 0531/596-1099
E-Mail: michael.welling@vti.bund.de
Internet: www.forschungsreport.de, www.bmelv-forschung.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2010