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TIERVERSUCH/390: Erster Lehrstuhl für Ersatzmethoden (tierrechte)


tierrechte 3.08 - Nr. 45, August 2008
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Tierversuche - Problem und Lösungsansatz
Erfolgreich: erster Lehrstuhl für Ersatzmethoden

Gespräch mit Prof. Dr. Marcel Leist
Die Fragen stellte Marion Selig


Der bundesweit erste Lehrstuhl für Ersatzmethoden zum Tierversuch ist 2006 an der Universität Konstanz eingerichtet worden. Zwei Stiftungen, die Schweizer Doerenkamp-Zbinden Stiftung für versuchstierfreie Forschung und die Thurgauische Stiftung für Wissenschaft und Forschung haben diesen wegweisenden Schritt möglich gemacht und finanzieren den Lehrstuhl für zehn Jahre. tierrechte sprach mit dem Inhaber des Lehrstuhls, dem Biologen und Zellkultur-Experten Prof. Dr. Marcel Leist.


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TIERRECHTE: Herr Prof. Leist, seit fast zwei Jahren haben Sie den bundesweit ersten Lehrstuhl für Ersatzmethoden zum Tierversuch an der Universität Konstanz inne. Was konnten Sie in dieser Zeit angehen und wie geht Ihre Arbeit voran?

MARCEL LEIST: Unsere Arbeit geht recht gut voran. Was den Laboraufbau betrifft, so haben wir jetzt alle modernen Techniken etabliert. Wir können z.B. Zellen und Viren genetisch modifizieren und haben auch die Erlaubnis, mit menschlichen Stammzellen zu arbeiten. Wir haben weiterhin erfolgreich das Ausbildungsprogramm zu Alternativmethoden inklusive eines sechswöchigen Praktikums in den Studienplan eingefügt. Wir halten Vorlesungen zu Alternativmethoden, die als Prüfungsfach Bestandteil der Biologie-Diplomprüfung sind. Erfreulicherweise haben wir fähige und sehr motivierte Studenten und Mitarbeiter rekrutieren können. Die Einbindung in die Unistruktur und in die Forschungsverbünde hier in Konstanz ist gut. Ein guter Kontakt besteht auch zu ECVAM, dem Europäischen Zentrum für die Validierung von Alternativen in Ispra in Norditalien, wohin wir jährlich Exkursionen veranstalten. Mehrfach wurde ich zu Vorträgen nach Brüssel oder auch von deutschen Behörden eingeladen und ich arbeite intensiv mit bei ALTEX, der wissenschaftlichen Fachzeitschrift für Alternativen zu Tierexperimenten. Auch die Organisation von internationalen Kongressen zum Thema Alternativen gehört zu unseren Aufgaben.

TIERRECHTE: Woran genau forschen Sie derzeit?

MARCEL LEIST: Unser Schwerpunkt sind die Alternativmethoden im Bereich der Neurodegeneration und Neurotoxikologie einschließlich Entwicklungsneurotoxikologie. Dabei geht es um degenerative Erkrankungen der Nervenzellen und auch des Gehirns. Spezieller Fokus ist die Erzeugung von Alternativmodellen auf der Basis menschlicher Nervenzellen, die z. B. aus Stammzellen erzeugt werden. Ein weiterer Forschungszweig sind In-vitro-Modelle zur Blut-Hirn-Schranke, also der natürlicherweise vorhandenen Barriere zwischen dem Blutgefäßsystem und dem Gehirn.

TIERRECHTE: Welche Tierversuche können mit diesen Verfahren ersetzt werden?

MARCEL LEIST: Damit können Tierversuche im Bereich der Forschung an Parkinson'scher und Alzheimer'scher Erkrankung ersetzt werden. Weiterhin können auch Tierexperimente in der Toxikologie ersetzt werden, also bei der Prüfung von Substanzen auf schädliche Wirkungen, die sie auf Nervenzellen oder auf die Fortpflanzung und auf die Entwicklung von Embryonen haben können. Sehr wichtig ist uns auch, dass wir menschliche Hirnzellen zur Verfügung stellen können und dadurch verhindern, dass in hohem Maß Tiere gezüchtet und getötet werden, um deren Hirnzellen zu verwenden.

TIERRECHTE: Mehrfach haben z. B. Politiker von einem notwendigen Paradigmenwechsel, also einem neuen wissenschaftlichen Denkmuster, in der wissenschaftlichen Forschung gesprochen. Erkennen Sie schon Anzeichen eines solchen Paradigmenwechsels - weg vom Tierversuch und hin zu einer Forschung ohne Tiere?

MARCEL LEIST: Wenig. Im Bereich der regulatorischen Toxikologie, also bei den schon erwähnten Giftigkeitsprüfungen, von Chemikalien, Pestiziden und Kosmetika sowie bei der Qualitätstestung von Medikamenten und Impfstoffen gibt es solche Tendenzen. Jedoch sehr wenig in der biologischen und pharmakologischen Grundlagenforschung an sich. Der Paradigmenwechsel findet also in den Bereichen statt, in denen sich Geld dadurch sparen lässt, dass Ersatzverfahren statt Tiere eingesetzt werden, und nicht in anderen Bereichen. Ausnahme sind Kosmetika, hier wirken sich der politische Druck und die EU-Gesetzgebung positiv aus. Es ist allerdings noch nicht gesichert, dass das in zwei Stufen vorgesehene Verkaufsverbot von an Tieren getesteten Kosmetikprodukten 2009 bzw. 2013 wirklich umgesetzt wird, da die behördliche Anerkennung tierversuchsfreier Testverfahren mitunter sehr lange dauert.

TIERRECHTE: Was kann ein Lehrstuhl für Alternativen zu Tierversuchen zu einem Paradigmenwechsel beitragen?

MARCEL LEIST: Wir können dazu beitragen, ein Bewusstsein bei breiteren Kreisen dafür zu schaffen, dass Alternativen möglich sind und dass sich die Forschung daran lohnt. Es ist wichtig, die richtigen Leute zusammenzubringen und die Aktivitäten zu vernetzen. Die Einbindung in die akademische Lehre an der Universität bietet außerdem die Gelegenheit und große Chance, die Studenten früh mit den Konzepten zur Forschung an Alternativen vertraut zu machen. Und Studenten, die ein Thema verstehen und sich dafür begeistern, sind der beste Multiplikator und werden die Zukunft mitgestalten.

TIERRECHTE: Was ist weiterhin notwendig, um die Entwicklung und Anwendung von Tierversuchsersatzverfahren voranzubringen, auch in der Grundlagenforschung?

MARCEL LEIST: In der Grundlagenforschung finden leider die meisten Tierversuche statt, hier werden um ein Vielfaches mehr Experimente gemacht als bei toxikologischen Tests. Dieser Bereich ist sehr schwer direkt anzugehen. Eine Strategie, die ich bevorzugt verfolgen würde, wäre mehr Transparenz herzustellen, also offenzulegen, wofür die Tiere verwendet werden, was bei den Experimenten rauskommt, kurzfristig und längerfristig, und wie die Belastung aussieht, also in welchem Maß die Tiere leiden. Was kurzfristig Vorteile brächte und Leiden bei den Tieren verhindern könnte, wäre eine bessere Ausbildung in Labortierkunde, bessere Kenntnis über Narkosen, Schmerzausschaltung etc. bei Veterinärmedizinern und allen, die an Tierversuchen beteiligt sind. Das Ausbildungsniveau und die experimentelle Qualität sind vor allem an Universitäten oft viel zu niedrig. Das steigert den Tierverbrauch und führt zu vermeidbaren Leiden und Schmerzen.

TIERRECHTE: In welchem Ausmaß findet das Gebiet Ersatzmethoden zum Tierversuch auch in der Lehre statt?

MARCEL LEIST: Wir haben ein intensives Programm bis hin zum Diplomprüfungsniveau. Darin sind die eingangs erwähnten Vorlesungen und das Praktikum enthalten. Die Studenten müssen u.a. auch selbst Präsentationen halten und Arbeitsprotokolle abliefern.

TIERRECHTE: Wie kommt dieser Bereich bei den Studierenden an?

MARCEL LEIST: Die Studierenden haben großes Interesse. Aus Kapazitätsgründen müssen wir etliche Bewerber um die Kurse leider immer wieder abweisen.

TIERRECHTE: Der Lehrstuhl wurde durch zwei Stiftungen ermöglicht und wird von ihnen für zehn Jahre finanziert. Wie geht es danach weiter?

MARCEL LEIST: Das Land Baden-Württemberg und die Uni Konstanz werden danach die Professur fortführen, wenn es eine positive Zwischenbewertung gibt.

TIERRECHTE: Teilen Sie unsere Auffassung, dass eigentlich Bund und Länder in der Verpflichtung stehen, solche Lehrstühle dauerhaft zu etablieren und finanzieren? MARCEL LEIST: Jein. Die Frage der Lehrstuhldefinitionen obliegt den Universitäten. Die Unabhängigkeit der Universitäten in Forschungsfragen ist eine wichtige und positive Sache. Auch Fachhochschulen kämen hier für Professuren in Frage. Wünschenswert ist natürlich, dass mehr Universitäten solche Lehrstühle ausschreiben. Der Bund und die Länder könnten aber und sollten auch - wie das auch in anderen Bereichen üblich ist - dafür einen finanziellen Anreiz schaffen. Dies muss jedoch natürlich wachsen und Qualität muss immer ohne Kompromisse angestrebt werden.

TIERRECHTE: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

MARCEL LEIST: Ein weiteres Wachstum dieses Forschungsbereiches, qualitativ und quantitativ, so dass es in Zukunft einige ganze Institute mit vielen Gruppen gibt, die sich ganz den Alternativmethoden widmen - Universitätsinstitute für Toxikologie und Pharmakologie und auch Einrichtungen wie die Fraunhofer-Institute, die im Auftrag z. B. der Industrie forschen, oder wie die Leibniz-Institute, die über Bundes- und Landesmittel finanziert werden.


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Zweiter Lehrstuhl für tierversuchsfreie Forschung und Lehre

Vor Kurzem ist an der Universität Utrecht, Niederlande, der europaweit zweite Lehrstuhl ausschließlich für Alternativmethoden gegründet worden. Auch hier handelt es sich - wie in Konstanz - um eine Stiftungsprofessur, die durch die Schweizer Doerenkamp-Zbinden Stiftung für versuchstierfreie Forschung ermöglicht wird. Forschungsschwerpunkt werden In-vitro-Modelle in der Toxikologie sein - also Zell- und Gewebekulturverfahren zur Untersuchung von Substanzen auf ihre potenzielle Schädlichkeit. Eine enge Zusammenarbeit beider Stiftungslehrstühle ist durch wissenschaftliche Beiräte gewährleistet.

Der Bundesverband verfolgt aktiv die Einrichtung weiterer Lehrstühle in Deutschland. Zum einen wird dadurch die Forschung zu Ersatzverfahren zum Tierversuch wesentlich verstärkt, zum anderen werden bereits Studierende und Nachwuchswissenschaftler an dieses Gebiet herangeführt und können auch später während ihrer Laufbahn dazu beitragen, dass tierversuchsfreie Verfahren immer mehr Anwendung finden.


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Quelle:
tierrechte - Nr. 45/August 2008, S. 6-7
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de

"tierrechte" erscheint viermal jährlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2008