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TIERVERSUCH/485: Kongress zu Tierversuchsalternativen (tierrechte)


tierrechte Nr. 54, November 2010
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Kongress zu Tierversuchsalternativen

Von André Schmidt


Anfang September fand im österreichischen Linz der 16. Kongress zu Alternativen zu Tierexperimenten statt, der als eine der bedeutendsten Veranstaltungen zu dieser Thematik in Europa Teilnehmer aus 30 Nationen anzog. Der Bundesverband nutzte diese Gelegenheit unter anderem, um seine Internetplattform für tierversuchsfreie Forschung www.invitrojobs.com einem breiten Publikum vorzustellen.


Internationale Vertreter aus Industrie, Forschung und Tierschutzorganisationen berieten während dreier Tage gemeinsam über die Weiterentwicklung des Forschungszweigs "Alternativen zu Tierexperimenten". Insbesondere die Workshops zu den Internet-Suchmaschinen "Go3R" und "Goodcellculture" (*) waren sehr praxisorientiert. Trotz der Themenvielfalt zogen sich einige Aspekte wie ein roter Faden durch alle Teilbereiche der Forschung zu Tierversuchsalternativen, von denen hier einige herausgestellt werden.


Tierversuche sind nicht auf den Menschen übertragbar

Was für Tierschützer und Tierrechtler keine Offenbarung ist, kommt nun langsam in Wissenschaft und Industrie an. Nicht nur ethische Gründe sprechen gegen Tierversuche, sondern auch die Tatsache, dass sie hohe Kosten verursachen. So fallen laut Prof. Dr. Dr. Thomas Hartung vom Center for Alternatives to Animal Testing der Johns Hopkins Universität Baltimore jährlich etwa drei Milliarden Dollar weltweit für Toxizitätstests von Chemikalien und Medikamenten an. Nach Angaben der US-amerikanischen Food and Drug Administration versagen 92 Prozent der in umfangreichen präklinischen, überwiegend tierexperimentellen Tests geprüften Wirkstoffe anschließend in der klinischen Prüfung am Menschen und kommen somit nicht auf den Markt. Dies bedeutet jahrelanger Einsatz von Geld, Arbeitskraft, aber vor allem millionenfaches Tierleid für ein am Ende vernichtendes Resultat. Mit Testsystemen, die auf humanen Zellen und Geweben basieren, könnte man viele dieser Fehlschläge verhindern und effizienter wirtschaften.


Tierversuchsalternativen müssen besser werden

Die Entwicklung von Tierversuchsalternativen ist ein hochkomplexes Forschungsgebiet. Bereits seit Jahren ist klar, dass es nicht ausreicht, eine Substanz auf eine Zellkultur zu geben und sich das Ergebnis anzusehen. Sowohl die fehlende Dreidimensionalität sowie das nicht gegebene Wechselspiel verschiedener Zelltypen verzerren oft das Resultat. Anschauliches Beispiel ist die Untersuchung von Nanopartikeln, bei der nicht Stoffwechselprodukte im Vordergrund stehen, sondern der Transport innerhalb von Geweben, die aus verschiedenen Zelltypen bestehen. Solche Prozesse lassen sich mit einer einzigen Zelllinie nicht untersuchen. Folglich steht die Entwicklung künstlicher komplexer Gewebe ganz oben auf der Agenda der Wissenschaftler. Später sollen diese künstlichen Gewebe zusätzlich miteinander verbunden werden, um sich dem menschlichen Organismus weiter anzunähern.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass bei Tierversuchsalternativen häufig nicht-humane Zellen eingesetzt werden. Auf diesem Zellmaterial beruhende Alternativen weisen ebenfalls die bei Tierversuchen zu findenden Artunterschiede auf. Ein gutes Beispiel hierfür ist das als Antiepileptikum eingesetzte Valpromid. Beim Menschen können die Abbauprodukte der Leber in der Schwangerschaft zu Fehlbildungen des Fötus führen. Da in Leberzellen von Mäusen nur harmlose Stoffwechselprodukte entstehen, lässt sich der toxische Effekt dieses Medikaments hier aber nicht nachweisen.


Forschungsergebnisse müssen umgesetzt werden

In den letzten Jahren wurden erhebliche Geldbeträge in Forschungsprojekte investiert, auch um die Tierversuchszahlen im Rahmen des EU-Chemikalienprogramms REACH in Grenzen zu halten. Einige Projekte wurden sehr gelobt, wie z. B. "ReProTect" (**) aus dem 6. EU-Forschungsrahmenprogramm. Unsere Nachfragen vor Ort ergaben jedoch, dass sich die Ergebnisse von "ReProTect" auf die Tierversuchszahlen in nächster Zeit kaum auswirken werden, da praktisch verwertbare Ansätze fehlen. Es besteht also die Gefahr, dass die Ergebnisse nur von akademischem Wert sind und in Schubladen verschwinden, was nicht das Ziel der ursprünglichen Förderung gewesen sein kann.


Bundesverband fördert tierversuchsfreie Forschung

Zu den Teilnehmern gehörten auch zwei Vertreter unseres Bundesverbandes, die im Rahmen des Kongresses über Inhalte und Zielsetzung des Verbandsprojektes "InVitroJobs.com" informierten. Diese Internetplattform, die u.a. eine Jobbörse führt, hat der Bundesverband 2009 zur Vernetzung von Wissenschaftlern geschaffen. Darüber hinaus führten sie mit renommierten Wissenschaftlern Interviews, die in englischer Sprache auf "InVitroJobs.com" veröffentlicht sind, deutschsprachige Zusammenfassungen sind auf unserer Website "tierrechte.de" nachzulesen.

Der Bundesverband erachtet den Linzer Kongress als eine erfolgreiche Plattform, deren Bedeutung auch dadurch unterstrichen wird, dass Großunternehmen wie BASF und L'Oreal vertreten waren. Er kritisiert jedoch, dass weder offizielle Vertreter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) noch maßgebliche deutsche Politiker anwesend waren. Denn die Entwicklung tierversuchsfreier Ersatzverfahren ist nur durch ein Zusammenwirken Aller zu leisten: Wissenschaft, Industrie, Behörden und Politik.


Ausführliche Informationen zum Kongress sowie Original-Interviews in Englisch:
www.invitrojobs.com

Zusammenfassung der Interviews in Deutsch:
www.mag.tierrechte.de/66

(*) Go3R (www.go3r.org): Hier handelt es sich um eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Suchmaschine, die eine gezielte Suche nach Alternativen zu Tierexperimenten ermöglicht.

Goodcellculture (www.goodcellculture.com): Kulturmedien von Zellkulturen enthalten oft tierische Bestandteile wie fetales Kälberserum. Die Datenbank Goodcellculture stellt Informationen zu alternativen Medien zur Verfügung, die ohne diese Inhaltsstoffe auskommen.

(**) ReProTect (www.reprotect.eu): Hier handelt es sich um ein EU-Projekt des sechsten Forschungsrahmenprogramms, bei welchem 35 Partner aus Forschung, Industrie und Regierungsinstitutionen über einen Zeitraum von fünf Jahren an der Entwicklung von Alternativen zum Tierversuch im Bereich der Reproduktionstoxikologie arbeiten.


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Quelle:
tierrechte - Nr. 54/November 2010, S. 16-17
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2010