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TIERVERSUCH/629: Fortschritte und Versäumnisse des neuen Tierversuchsrechts (tierrechte)


tierrechte 4.14 - Nr. 69, Dezember 2014
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Fortschritte und Versäumnisse des neuen Tierversuchsrechts

Von Christiane Baumgartl-Simons


Am 30. September 2014 fand im Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin das dritte Symposium zu Tierversuchen und tierversuchsfreien Verfahren statt. Der Fokus lag auf der Umsetzung des neuen Tierversuchsrechts, das seit August 2013 in Deutschland anzuwenden ist. Es zeigte sich, dass Berlin bemüht ist, seine Koalitionsversprechen einzulösen. Doch die Versäumnisse der ehemaligen Bundesregierung sind unübersehbar. Lesen Sie hierzu unseren kritischen Bericht.

Berlins Tierversuchszahlen sind von 2012 auf 2013 um knapp 14.000 Tiere auf gut 422.000 Tiere gesunken. Das macht Hoffnung, dennoch bleibt Berlin eine Tierversuchshochburg. Dieser Status wird durch den 24 Millionen teuren Neubau des "In-Vivo-Pathophysiologie-Labors", das im Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin (MDC) bis 2016 mit öffentlichen Geldern errichtet wird, zusätzlich gestärkt. In diesem Spannungsfeld verdient das vom Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin (LAGeSo) organisierte Symposium besondere Beachtung. Auch dann, wenn es auf dieser Fortbildung nicht ausschließlich um tierversuchsfreie Verfahren (Replace) ging, sondern gleichermaßen um Tierversuche, die mit weniger Tieren (Reduce) und geringeren Belastungen der Tiere (Refine) auskommen, also den klassischen drei Rs, die in wissenschaftlichen Kreisen als sogenannte Alternativen bezeichnet werden.


Schritte in die richtige Richtung

Der rot-schwarze Berliner Senat scheint Kurs auf seine Koalitionsvereinbarung zur Einschränkung der Tierversuche und verstärkten Förderung tierversuchsfreier Forschungsmethoden zu nehmen. Das jedenfalls können wir den Mitteilungen der Berliner Staatssekretärin für Justiz, Sabine Toepfer-Kataw, entnehmen. Zwar lässt das aufgenommene Tempo sehr zu wünschen übrig, aber es sind dennoch Fortschritte erkennbar. Ab 2015 wird sich Berlin an der Finanzierung des mit 15.000 Euro dotierten Tierschutzforschungspreises Berlin-Brandenburg beteiligen, in welcher Höhe blieb offen. Bislang wird das Preisgeld vom Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) finanziert. Das Bündnis Tierschutzpolitik Berlin, ein Zusammenschluss ortsansässiger Tierschutzorganisationen, versucht, die Weichenstellung zur Preisvergabe zu korrigieren. Es behält sich vor, den Preis um 5000 Euro aufzustocken, sofern ein tierversuchsfreies Verfahren ausgezeichnet wird.

Berlin will außerdem seine Hochschulen dazu verpflichten, bereits vorhandene tierversuchsfreie Methoden auch tatsächlich anzuwenden. Das ist zwar bereits seit Jahrzehnten eine rechtliche Verpflichtung. Deren Einhaltung ist jedoch nur schwer bis gar nicht kontrollierbar. Fakt ist, dass viele Hochschulen die jüngsten Entwicklungen bei den tierversuchsfreien Verfahren gar nicht kennen oder vorsätzlich auf altbekannte Methoden mit Tiereinsatz zurückgreifen. Soweit also liegen Anspruch und Wirklichkeit noch immer auseinander! Diese Feststellung unterstreicht erneut, wie richtig und aktuell die Forderung unseres Bundesverbandes nach vollumfänglichen und vor allem praxistauglichen Datenbanken ist.


Datenbank zu Tierversuchen geht online

Erinnern Sie sich noch? Eine wesentliche Errungenschaft der EU-Tierversuchsgegner beim harten Novellierungskampf der EU-Tierversuchsrichtlinie war, Tierversuche öffentlich einsehbar zu machen. Dieses Vorhaben ist in einem ersten wesentlichen Schritt gelungen. Die neue EU-Tierversuchsrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Informationen zu genehmigten Tierversuchen jedem Bürger zur Verfügung zu stellen. Deutschland stellt ab diesem Monat, also ab November 2014, die sogenannten nicht-technischen Projektzusammenfassungen (NTP) der genehmigten Tierversuche in einer Datenbank, die das Bundesinstitut für Risikobewertung entwickelt hat, online. Die NTP ist Bestandteil jedes Tierversuchsantrags. Sie wird vom Antragsteller verfasst, von der Genehmigungsbehörde innerhalb von drei Monaten an das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) übermittelt und von dieser spätestens 12 Monate danach in die neue öffentliche Datenbank eingestellt. Die Datenbank startet mit Tierversuchen, die im August 2013 genehmigt wurden. Die NTP enthält Informationen zum Ziel des Versuchs (Forschungszweck), zur Art und Zahl der Tiere, zu den Belastungen und Schäden, die den Tieren zugefügt werden und zu der sogenannten Unerlässlichkeit (Nutzen) aus Sicht des Antragstellers.

Prof. Dr. Gilbert Schönfelder, Leiter der Zentralstelle zur Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET) am BfR, stellte die Datenbank vor. Er unterstrich, dass die Informationen in der Datenbank leicht verständlich sein sollen. Über Schlagworte könnten zudem einzelne Tierversuche aus den gesuchten Datensätzen herausgefiltert werden.


Ergebnisse der Tierversuche bleiben im Dunkeln

Hier muss ein schweres Versäumnis in Erinnerung gerufen werden: Die NTP-Einstellungen werden nicht korrigiert, sofern nach Versuchsende festgestellt wird, dass die Angaben zum beantragten Tierexperiment nicht erfüllt wurden. Wurde das Versuchsziel erreicht? Welchen tatsächlichen Belastungen wurden die Tiere ausgesetzt? Das sind elementare und legitime Fragen einer Gesellschaft, die den Tierschutz zum Staatsziel erhoben hat. Auch aus wissenschaftlicher Sicht bleibt es unverzeihlich, dass diese Angaben im Verborgenen gebunkert und der Öffentlichkeit verschwiegen werden. An dieser Stelle fällt das Stichwort "retrospektive Bewertung", ebenfalls ein Verhandlungserfolg der Tierversuchsgegner bei der Novellierung der EU-Tierversuchsrichtlinie. Zwar ist es uns nicht gelungen, diese rückblickende Analyse für alle Tierversuche durchzusetzen, aber immerhin für Experimente, die an Affen durchgeführt werden oder mit schweren Leiden einhergehen. Außerdem ist die Genehmigungsbehörde in Einzelfällen berechtigt, eine retrospektive Bewertung anzuordnen. Die aufschlussreichen Erkenntnisse dieser retrospektiven Bewertungen verrotten nun in Abgeschlossenheit, weil sich die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung weigerte, die nicht-technische Projektzusammenfassung um die Ergebnisse der rückblickenden Bewertung zu ergänzen.


Fazit: Der Hauptfokus muss auf den tierversuchsfreien Verfahren liegen

Alles in allem veranschaulicht das Symposium des LaGeSo, dass das Ziel der EU-Tierversuchsrichtlinie zur Beendigung der Tierversuche zwar in die richtige Richtung, jedoch nur im Schneckentempo vorangeht. Aber wer von uns hat ernsthaft erwartet, dass es einer Landesbehörde gestattet wird, sich als Prozessbeschleuniger für den Ausstieg aus dem Tierversuch zu präsentieren? Doch wohl niemand. Das ist Aufgabe anderer gesellschaftlicher Gruppen, nämlich von uns Tierversuchsgegnern. So gilt es jetzt, das Gros der "Stakeholder" von den gemütlichen Sitzkissen "Refine" und "Reduce" zu vertreiben und zur Arbeit an den tierversuchsfreien Verfahren anzuhalten.

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Quelle:
tierrechte 4.14 - Nr. 69/Dezember 2014, S. 16-17
Infodienst der Menschen für tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2015

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